Die Wahrnehmung des Fremden


Hausarbeit, 2005

35 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Konstruktivismus
2. 1 Wahrnehmung als Konstruktionsprozess im Gehirn
2. 2 Die Theorie autopoietischer Systeme von Maturana und Varela

3. Fremdheit
3. 1 Fremdheit als Konstruktion
3. 2 Das Bild des Fremden
3. 3 Ein literarisches Beispiel von Bild des Fremden

4. Muster der Deutung des Fremden
4. 1 Fremdheit als Resonazboden (oder Voraussetzung) des Eigenen
4. 2 Fremdheit als Gegenbild des Eigenen
4. 3 Fremdes als Ergänzung
4. 4 Fremdes als Komplementarität

5. Die Wahrnehmung des Anderen als pädagogische Herausforderung für das interkulturelle Lernen

6. Schlusswort

7. Literatur

1. Einleitung

Die Beschäftigung mit der Fremdheit oder mit dem Fremderleben ist kein einzelnes Phänomen der heutigen multikulturellen Globalisierungsgesellschaft. In der Geschichte der Menschheit und im Besonderen der abendländischen Kultur sehen wir, dass seitdem „das Andere“, der so genannte Fremde, existiert, „das Eigene“ mit „dem Fremden“ verglichen und beurteilt wird. Dadurch werden Konstrukte vom Fremden und Eigenen gebildet. Diese Bilder werden auf die Gesellschaft übertragen und wirken auf das Verhalten des einzelnen Subjekts einer Gesellschaft. Politische, ethnische und kulturelle Konflikte oder selbst Dialog und deren Mangel kommen durch diese erste Wahrnehmung „des Eigenen“ und „des Fremden“ zu Stand.

In der aktuellen Realität ist „das Fremde“ zu einer Modeerscheinung geworden. Inzwischen beschäftigt sich fast jede Wissenschaft mit der Erforschung des Fremden. Man fragt sich, nach dem warum ein solches Interesse für das Andersartige. Im Prinzip haftet „dem Fremden“ eine Ambivalenz an: einerseits ist es bedrohlich, da es in das Eigene eindringt und andererseits fasziniert es auch dadurch, da er etwas über uns selbst aussagt. Durch diese Begegnung mit dem Fremden erfährt die eigene Ordnung, eine Horizonterweiterung und die Möglichkeiten sich zu Verändern tut auf.

In der vorliegenden Hausarbeit soll versucht werden, dieses Phänomen der Wahrnehmung des Fremden, an dem Beispiel des Konstruktivismus herauszuarbeiten. Als Ausgangspunkt dieser Diskussion wird die konstruktivistische Wahrnehmungssicht betrachtet, als eine allgemeine Theorie des menschlichen Wahrnehmens und Lernens angesehen werden kann. Der Mensch schafft sich selbst und immer mehr neue Bilder von seiner Welt, was auch für das konstruktivistische Verständnis vom Wahrnehmen, eine wichtige Rolle spielt, hier wird die autopoietischer Systemtheorie von Humberto R. Maturana und Francisco Varela möglichst komprimiert vorgestellt. Danach versuche ich einen großen Bogen zu zeigen, wie das, was wir als „fremd" wahrnehmen, sich als kulturelle Konstruktion erweist, die nicht nur etwas über den Anderen, sondern auch über uns selbst was aussagt. Abschließend möchte ich die Betrachtung des Fremden, als auch das interkulturelle Lernen als eine pädagogische Herausforderung verstanden wissen.

2. Konstruktivismus

2. 1 Wahrnehmung als Konstruktionsprozess im Gehirn

Üblicherweise geht man davon aus, dass die Weltwahrnehmung in unserem Gehirn wie ein Fotoapparat funktioniert und dass die Bilder in dieser Form abgespeichert werden, unser alltägliches Bewusstsein wird von einem naiven Realismus beherrscht. Eigentlich werden Dinge, Personen oder Situationen wahrgenommen und gleichzeitig bewertet, indem sie nach bestimmtem Standarts klassifiziert werden. Die traditionelle Aufgabe der Sinnesorgane, die in der Abbildung der Realität besteht, wird durch die Hypothesen des Konstruktivismus, dass Wissen und Erkennen kognitive Konstrukte seien, in Frage gestellt.

,,Die alltägliche sinnliche Erfahrung erweckt in uns den Eindruck, dass unser Wahrnehmungssystem in direktem Kontakt mit der Welt steht: die visuelle Welt ist uns im wahrsten Sinne des Wortes unmittelbar augenscheinlich gegeben, die Laute dringen unvermittelt an unser Ohr, und wir betasten und begreifen die Gegenstände in unserer Reichweite unmittelbar als Gegenstände".[1]

Eine ganz andere Perspektive wird eröffnet, als die, dass die menschlichen Sinnesorgane die Welt so gut wie möglich abbilden, wenn man bei der Betrachtung der menschlichen Wahrnehmung nicht vom Standpunkt der Sinnesorgane, sondern vom Standpunkt des Gehirns ausgeht.

Zwar werden die Sinnesorgane und ihre Komponenten spezifisch von Umweltreizen aktiviert, da sie die Tore des Gehirns zur Welt sind, die neuronale Erregung jedoch, die aufgrund der sensorischen Reizung in den Sinnesorganen entsteht und dann zum Gehirn weitergeleitet wird, ist als solche unspezifisch. Das bedeutet, dass man Nervenimpulse nicht spezifisch einer visuellen, akustischen, geruchlichen oder taktilen Erregungsursache einordnen kann, da sie in einer ,,neuronalen Einheitssprache" zum Gehirn weitergeleitet werden.[2]

Die Sinnesorgane haben die Aufgabe, die ungeheure Vielfalt der Welt in die Einheitssprache zu übersetzen, denn nur diese Sprache wird von dem Gehirn verstanden. Diese ,,neuronale Einheitssprache" stellt die Grundlage der Integrationsleistung von Nervensystem und Gehirn dar. Sie ermöglicht, dass die sensorischen Verhaltenssteuerung Auge und Muskeln, aber auch Auge und Ohr, Gedächtnis und Geruch miteinander kommunizieren, also Instanzen, die unterschiedliche Strukturen und Funktionen besitzen, können miteinander kommunizieren . Das heißt, die neuronale Einhaltsprache „ist die Grundlage der Integrationsleitung von Nervensystem und Gehirn“.[3] Eine neuronale Erregung trifft an einem Ort im Gehirn ein, so wird sie dort weiterverarbeitet, indem die Modalität der Sinnesempfindung (Sehen, Hören, etc.) und deren Qualität (spezifische Farbe, spezifischer Klang und Geschmack) bestimmt werden. Die Frequenz der Nervenimpulse bestimmt meist nur die Intensität der Empfindung.[4]

Die Funktion der Sinnesorgane besteht also darin, dass sie das Gehirn, das selbst nur die Sprache der Nervenimpulse versteht, für die unterschiedlichsten Umweltereignisse, ihre Modalitäten, Qualitäten und Intensitäten empfänglich zu machen.[5]

Durch die Konstruktion der Sinnesorgane und ihre Leistungen wird festgelegt, wie die Umweltereignisse überhaupt auf das Gehirn wirken können. Genauso wenig wie für den Betrachter eines Fernsehbildes die Aufnahmekamera existiert, existieren für das Gehirn die Sinnesorgane, sondern nur die neuronalen Botschaften, die von den Sinnesorganen kommen.[6]

Das Gehirn bewertet die Signale und sucht nach dem Verarbeitungsort, jeder visueller Eindruck wird in bestimmten Regionen des Hinterhautptcortex verarbeitet. Das menschliche Gehirn arbeitet also nach dem topologischen Prinzip, das teils angeboren und teils ontogenetisch erworben wird, und ist ,, [...] ein kognitiv in sich geschlossenes System, das nach eigen entwickelten Kriterien neuronale Signale deutet und bewertet, von deren wahrer Herkunft und Bedeutung es nichts absolut verlässliches weiß".[7] Also das ist schon eine eigenartige Feststellung, anstatt ein offenes System zu sein, ist unser Gehirn ein in sich geschlossenes System. Demnach ist die von uns erlebte sinnliche Welt nur ein Konstrukt des Gehirns, jedoch keineswegs ein willkürliches Konstrukt.[8] Man kann das ,,[...] Gehirn [...] als ein funktionales und semantisch selbstreferentielles oder selbst-explikatives System auffassen".[9]

Unser Gehirn ist ein funktional selbstreferentielles System, das rekursiv oder zirkulär mit den eigenen Zuständen interagiert, so dass jeder Zustand aus der Interaktion früherer Zustände resultiert. Das heißt, das Gehirn, als selbstreferentielles System selbstbestimmt und autonom, kann über die Sinnesorgane von Erlebnissen aus der Umwelt beeinflusst werden, aber durch seine funktionale Organisation wird die Form der Beeinflussung von ihm selbst hergestellt. Das Gehirn ist gleichzeitig „ein semantisch selbstrefentielles oder selbstexplikatives System: es weist seinen eigenen Zuständen Bedeutung zu, die nur aus ihm selbst genommen sind.“[10]

Die außerordentlich gesteigerte Selbstreferentialität des menschlichen Gehirns ermöglicht es dem Menschen erst komplexe Situationen zu bewältigen, in dem externe Komplexität durch intern generierte Komplexität reduziert wird.[11] Die Menschheit hat beispielsweise zum Überleben immer die Fähigkeit ihrer Überlegenheit benötigt, in komplexen, und gerade in sozial komplexen Situationen rasch handeln zu können. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Aussage des Konstruktivismus, die Wirklichkeit sei nur ein Konstrukt des Gehirns, durch die neueren Erkenntnisse der Neurophysiologie noch weiter untermauert werden.

Maturana und Varela beschreiben unser Verhalten als eine äußere Sicht des Tanzes der internen Relationen des Organismus.[12] Die ganzen Aktivitäten des Gehirns werden als eines neuronal vernetzten, hochkomplexen und vor allem eines geschlossenen Systems angesehen. Die Verbindung zwischen Gehirn und Außenwelt stellen die Sinne dar, mit denen die Objektwelt wahrgenommen wird. Unser Denken ist die Handhabung der Konstrukte unseres Gehirns, die durch die Verwendung des Systems sprachlicher Zeichen gesteigert wird.

Aus den Erkenntnissen des Konstruktivismus und Neurophysiologie kann der Akt des Wahrnehmens so verstan­den werden, dass dabei Ganzheiten oder (Sinn­)Muster, hergestellt werden, indem Objekte, Ereignisse, Beziehungen, Ei­genschaften oder Prozesse als Bestandteile der Realität unterschieden und in subjektiv spezifischer Weise als Wirklichkeit konstruiert werden. Unsere gelernte Verhaltens-, Denk- und Sprachmuster sind dann "im Nervensystem verkör­perte relationale Gebilde, die über die Zeit relativ stabil gehalten bzw. als In­varianten 'errechnet' werden".[13]

2. 2 Die Theorie autopoietischer Systeme von Maturana und Varela

Nach Maturana und Varela charakterisieren sich Lebewesen dadurch, dass sie sich andauernd selbst erzeugen, d.h. sie betrachten Lebewesen psychisch als "autopoietische" System (griech. autos = selbst; poiein = machen)[14], die sich ständig selbst neu erschaffen. Der Autopoiesis-Begriff ist ein allgemeines Organisationsprinzip des Lebendigen, welches für alle Lebewesen Gültigkeit besitzt. ,, Autopoietische Systeme sind lebende Gebilde, die sich selbst herstellen und erhalten".[15]

Sie definieren das autopoietische System als eine Einheit, die zwischen seinen Bestandteilen, bestehende Relationen aufrecht erhält, die das System als Ganzes verwirklichen, und seine Ei­genschaften als Einheit werden läst, durch die Art determiniert, in der diese Einheit de­finiert wird.[16] Die Relationen, die in dem System entstehen, definieren das komplexe System als eine Einheit und konstituieren seine Or­ganisation. Also sie produzieren die Komponenten und Bestandteile, aus denen selbst bestehen sie, oder anders gesagt, durch ihr operieren neu erzeugen sie fortlaufend ihre eigene Organisation. Das heißt die Komponenten interagieren in einem zirkulären Prozess miteinander, wobei ständig die Komponenten neu erzeugt werden, die zur Erhaltung des Systems notwendig sind.[17]

Autopoietische Systeme sind dadurch gekennzeichnet, dass sie, aufgrund ihrer organisationellen Geschlossenheit, autonom gegenüber ihrer Umwelt sind. Sie sind zwar von äußeren Einflüssen modellierbar, aber nicht steuerbar. Sie sind selbstreferentiell, d.h. sie beziehen sich im Prozess der Aufrechterhaltung ihrer Organisation ausschließlich auf sich selbst, und haben keinen informationellen Input oder Output. Das bedeutet das System erzeugt selbst die Informationen, die es verarbeitet, im eigenen Kognitionsprozess. Es ist jedoch durch strukturelle Kopplung mit seinem Medium, sowie mit interagierenden lebenden Systemen verbunden.[18]

Der Mensch ist ein strukturdeterminiertes, autopoetisches Wesen, der autonom und rekursiv organisiert ist, aber auf Perturbationen der Umwelt mit der Konstruktion idiosynkratischer Konzepte antworten. Er konstruiert sein Wissen, es ist ihm nicht fertig gegeben, sondern er muss informationell geschlossene Systeme selbst aufbauen, d.h. er nimmt Informationen nicht wie objektive Gegebenheiten, sondern nur nach eigenen Regeln durch Interpretation auf.[19]

[...]


[1] Roth 1992a, S.229

[2] vgl. ebd., S.232

[3] vgl. ebd., S. 233

[4] vgl. ebd., S. 233

[5] vgl. ebd., S. 233

[6] vgl. ebd., S. 234

[7] ebd., S. 235

[8] vgl. ebd., S. 235

[9] vgl. ebd., S. 240

[10] vgl. ebd., S. 241

[11] vgl. ebd., S. 247

[12] Maturana/Valera 1990, S.180

[13] Köck 1991, S. 174

[14] Maturana/Varela 1987, S.50

[15] Kneer/Nassehi 1997, S.48

[16] vgl. Maturana/Varela 1987, S.50

[17] vgl. Kneer/Nassehi 1997, S.48

[18] vgl. Schmidt 1992, S.23

[19] Rolf Schulmeister 1996, S. 71

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Die Wahrnehmung des Fremden
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg  (Institut für Pädagogik I)
Note
2
Autor
Jahr
2005
Seiten
35
Katalognummer
V54010
ISBN (eBook)
9783638493055
ISBN (Buch)
9783656778981
Dateigröße
557 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wahrnehmung, Fremden
Arbeit zitieren
Cyana Schuster (Autor:in), 2005, Die Wahrnehmung des Fremden, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/54010

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