Grundlagen des Strafrechts. Das "anders handeln können" im Rahmen der Schuldunfähigkeit nach §20 StGB


Seminararbeit, 2019

37 Seiten, Note: 11


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis

A. Einleitung

B. Anders-Handeln-Können und Willensfreiheit

I. Bedeutung des Anders-Handeln-Könnens im Rahmen der Schuldfähigkeit

II. Möglichkeit des Anders-Handeln-Könnens.
1. Determinismus
2. Erkenntnisse der Neurobiologie

III. Anknüpfungsmöglichkeiten für die Schuld
1. Schuldvorwurf: das Anders-Handeln-Können
2. Indeterminismus
3. Schuldvorwurf: Handeln eines durchschnittlichen Menschen
4. Schuldvorwurf: Charakter
5. Schuldvorwurf: Rechtlich missbilligte Gesinnung
6. Funktionaler Schuldbegriff
7. Schuldvorwurf: normative Ansprechbarkeit
8. Strafrechtliche Würdigung des Handelns eines Durchschnittsmenschen
C. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A. Einleitung

„Nulla poena sine culpa“ - „Keine Strafe ohne Schuld“ ist einer der wichtigsten Grundsätze des Strafrechts. Gegen einen Täter kann nur eine in seine Grundrechte eingreifende Strafe verhängt werden, wenn seine Schuld erwiesen ist. Ihm muss ein Schuldvorwurf in Form eines Rechtsbruchs gemacht werden können. Um einem Täter diesen Vorwurf machen zu können, muss er die Möglichkeit gehabt haben, sich in der gleichen Situation anders zu verhalten, also in derselben Situation muss ein alternatives Verhalten möglich gewesen sein. Er muss sich durch seinen freien Willen zum besagten Handeln entschieden haben. Die Willensfreiheit im Sinne einer bewussten Willensentscheidung zu einem konkreten Verhalten ist somit die Voraussetzung, um anders handeln zu können. Neurowissenschaftler meinen jedoch widerlegen zu können, dass eine solche Willensfreiheit existiert, was wiederum die Möglichkeit zum Anders-Handeln-Können ausschließen würde.

Diese Arbeit dreht sich um die Darstellung der Meinungen zu den Fragen, ob es Willensfreiheit gibt und ob man eine Willensfreiheit im Sinne eines Anders-Handeln-Könnens überhaupt braucht, um den Täter schuldig zu sprechen. Dazu wird im ersten Schritt geklärt, was das Anders-Handeln-Können bezüglich der Schuldfähigkeit meint. Weiter werden die Ansichten zur Frage, ob es Willensfreiheit überhaupt gibt, unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse der Neurobiologie dargestellt. Daran schließt sich die Frage an, ob aus Sicht des Strafrechts die Willensfreiheit überhaupt benötigt wird, um einen Täter schuldig zu sprechen oder ob die Schuld auch ohne ein Anders-Handeln-Können auskommt. Dazu wird nach der ausführlichen Darstellung des Anders-Handeln-Könnens insbesondere die sogenannte Charakterschuld, die normative Ansprechbarkeit und der funktionale Schuldbegriff vorgestellt. Die verschiedenen Anknüpfungspunkte des Schuldvorwurfs und die Frage, ob man so die Frage nach der Willensfreiheit und einem Anders-Handeln-Können umgehen kann, stellen den Schwerpunkt der Arbeit dar. Die Arbeit gibt einen Überblick über die wichtigsten Meinungen von bekannten Strafrechtlern und Hirnforschern. Nicht näher betrachtet werden dabei das Menschenbild des Grundgesetzes und des BVerfGs, das dem Strafrecht und dem Schuldprinzip zugrunde liegt sowie Probleme, wie die Fahrlässigkeit und der Vorsatz, die die Willensunfreiheit ebenfalls mitbringen würde.

B. Anders-Handeln-Können und Willensfreiheit

I. Bedeutung des Anders-Handeln-Könnens im Rahmen der Schuldfähigkeit

Im Strafgesetzbuch findet sich keine Norm, die positiv feststellt, was Schuld ist oder die das Anders-Handeln-Können im Rahmen der Schuldfähigkeit ausdrücklich regelt.1Hingegen sind im allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches verschiedene Gründe aufgezählt, die die Schuld ausschließen oder entschuldigen, wie zum Beispiel § 20 StGB, der die Schuld wegen seelischer Störungen ausschließt.2Nach § 20 StGB muss der Täter zuerst an einer der gesetzlich abschließend aufgezählten biologisch psychologischen Störungen leiden3, welche die Einsichtsfähigkeit beeinträchtigen und infolge dessen muss die Steuerungsfähigkeit im Tatzeitpunkt ausgeschlossen sein.4§ 20 StGB normiert somit Störungen, die die Fähigkeit, einen freien Willen zu bilden beziehungsweise dementsprechend anders zu handeln, in einer bestimmten Situation ausschließen und folglich zur Schuldunfähigkeit führen.5Die negative Formulierung des Gesetzes führt im Umkehrschluss dazu, dass das Strafgesetzbuch grundsätzlich die Steuerungs- und Schuldfähigkeit eines Täters annimmt, soweit kein Ausschlussgrund vorhanden ist.6Diskutiert wird, ob § 20 StGB durch den Ausschluss der Steuerungsfähigkeit von der Willensfreiheit des Täters ausgeht und somit zur Frage der Willensfreiheit Stellung bezieht.7Dies ist abzulehnen, was deutlich wird, wenn man bedenkt, dass für die Anwendung des § 51 RStGB, der dem heutigen § 20 StGB entspricht, bis 1975 die freie Willensbestimmung des Täters ausgeschlossen sein musste. Der Wortlaut wurde geändert, was zeigt, dass der Gesetzgeber nicht vom Indeterminismus ausgeht und ein Anders-Handeln-Können nicht positiv bestimmt werden muss.8Die Steuerungsfähigkeit soll nach der Vorschrift nur ausgeschlossen sein, wenn einer der psychischen Defekte dies verursacht.9Der BGH hat 1952 in einem Urteil ausgeführt, wie aus Sicht der Rechtsprechung Schuld zu verstehen ist: „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können.“10Aus der Sicht des BGH kann einem Erwachsenen, soweit kein Ausschlussgrund des heutigen § 20 StGB vorliegt, er also über die Anlage zur freien, verantwortlichen, sittlichen Selbstbestimmung verfügt, ein Schuldvorwurf dahingehend gemacht werden, dass er sich bewusst gegen die Einhaltung der gesetzlichen Ge- und Verbote entschieden hat, obwohl er die Fähigkeit besitzt, seine Handlungen dem geltenden Recht anzupassen.11„Wer weiß, daß das, wozu er sich in Freiheit entschließt, Unrecht ist, handelt schuldhaft, wenn er es gleichwohl tut.“12Der BGH geht grundsätzlich von der Willensfreiheit eines Menschen im Sinne eines Anders-Handeln-Könnens aus.13Danach setzt Strafe Schuld voraus und Schuld wiederum Willensfreiheit.14Nur bei bestehender Willensfreiheit kann dem Täter der Vorwurf gemacht werden, dass er sich bewusst für das Unrecht entschieden hat.15Er hätte also, wenn er es gewollt hätte, in der konkreten Tatsituation anders handeln können.16Es wird auch vom „Dafür-Können“ des Täters für seine rechtswidrige Willensbildung gesprochen.17Dem Täter kann jedoch nicht vorgeworfen werden, dass er das Gesetz verletzt hat, wenn ein anderes Handeln als das geschehene mangels Willensfreiheit unmöglich war.18Das führt zur Folgefrage, ob eine solche weitgehende Willensfreiheit überhaupt existiert.

II. Möglichkeit des Anders-Handeln-Könnens

Die Frage, ob es Willensfreiheit gibt und es einem Täter demnach überhaupt möglich ist, ein alternatives Verhalten an den Tag zu legen, wird im Strafrecht unterschiedlich beantwortet.

1. Determinismus

Im Gegensatz dazu haben die Vertreter des Determinismus den Ausgangspunkt, dass auch die Willensbildung des Menschen den Gesetzen der Kausalität unterliegt.19Folglich verneinen die Deterministen die Existenz eines freien Willens. Es gehen jedem menschlichen Verhalten, also auch dem Willensentschluss, Umstände voraus, die kein anderes Handeln möglich machen, sodass dieses Verhalten in der Situation nur so geschehen konnte.20Der Willen wird bestimmt durch innere psychische und genetische Faktoren sowie äußere Einflüsse der Umwelt, die auf die neuronalen Strukturen unseres Gehirns einwirken.21Dem Täter ist somit in der konkreten Tatsituation kein Anders-Handeln-Können möglich, da die Tat das zwingende Ergebnis seiner neuronalen Vorgänge und äußerer Einflüsse ist.22Ihm kann kein Schuldvorwurf gemacht werden, sodass auch die Legitimation der Strafe ohne Schuld angezweifelt werden muss.23

2. Erkenntnisse der Neurobiologie

Bekannte Neurobiologen24befeuern die Diskussion über das Bestehen von Willensfreiheit. Sie werfen ein, dass Willensfreiheit illusionär wäre,25obwohl jeder Mensch denkt, über sein Handeln frei bestimmen zu können.26Dazu trennen sie zwei Perspektiven der Wahrnehmung.27Auf der einen Seite steht unser subjektives Empfinden des freien Willens, dass wir das Gefühl haben, unser Handeln steuern zu können, die sogenannte Erste-Person-Perspektive.28Auf der anderen Seite steht die äußere Sicht der Hirnforscher auf die Prozesse, die sich während einer Entscheidung des Menschen im Gehirn abspielen, man spricht von der Dritten-Person-Perspektive.29Die Trennung in die zwei Perspektiven macht deutlich, dass wir eine andere Wahrnehmung von unserem freien Willen haben, als er sich für die Hirnforscher darlegt. Wir empfinden uns als „freie Wesen“, während aus Sicht der Hirnforscher Willensfreiheit unmöglich erscheint. Demzufolge entstehen Entscheidungen zuerst durch neuronale Prozesse und werden dann als Resultat unserer Entscheidungsfindung ausgelegt.30Demnach „tun wir nicht, was wir wollen (...), sondern wir wollen, was wir tun“31. Die Grundlage der Hirnforscher ist ein Experiment vonLibetaus dem Jahr 1979. In diesem Experiment wurde deutlich, dass das Bereitschaftspotenzial des Gehirns, das durch nicht bewusst wahrgenommene neuronale Aktivität Bewegungen des Menschen steuert, bereits vollständig vorhanden war, bevor der Wille zu dieser Handlung den Versuchspersonen bewusst war, was zeigt, dass der Wille die Handlung nicht eingeleitet haben kann, da er erst nach der Bereitschaft zur Handlung entstand.32Folgeexperimente vonHaggardundEimersowie kürzlichHaynesbestätigen dieses Ergebnis.33

III. Anknüpfungsmöglichkeiten für die Schuld

Im folgenden Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, welche Anknüpfungspunkte für den Schuldvorwurf möglich sind und ob es dabei auf die Willensfreiheit des Täters ankommt. Also ob das Anders-Handeln-Können für die Frage nach der Schuldfähigkeit auch umgangen werden kann.

1. Schuldvorwurf: das Anders-Handeln-Können

Die erste Möglichkeit, die Schuld eines Täters zu begründen, ist, ihm entgegen zu halten, dass er in der konkreten Situation ein anderes als das unrechtmäßige Verhalten hätte an den Tag legen können. Die verschiedenen Ansichten im Streit um die Willensfreiheit führen zu verschiedenen Sichtweisen bezüglich der Legitimation des derzeit geltenden Schuldstrafrechts.

a) Festhalten am Schuldvorwurf durch Indeterminismus

Der BGH vertritt eine absolut indeterministische Ansicht, bei der von der absoluten Willensfreiheit des Menschen ausgegangen wird.34Wie die Rechtsprechung die Schuld als ein Anders-Handeln-Können versteht, wurde bereits dargestellt.35Dem Täter wird der Vorwurf gemacht, sich nicht für das rechtmäßige Verhalten entschieden zu haben, obwohl er dazu in der Lage gewesen wäre.36Dementsprechend soll gegen den konkreten Täter ein individualethischer Tadel erhoben werden, insofern, dass er sich frei entschieden hat, die Straftat zu begehen trotz einem möglichen Alternativverhalten, wenn er eine andere Willensentscheidung gefällt hätte.37Ein Teil der Literatur geht dabei nicht von der absoluten Willensfreiheit aus, sondern bedenkt, dass die Freiheit durch äußere nicht zwingende Faktoren wie Emotionen oder situative Umstände beeinflusst wird.38Für diese indeterministische Sicht der Rechtsprechung spricht, dass es nicht abschließend bewiesen ist, dass Willensfreiheit nicht besteht.39Die vom BGH vertretene Ansicht steht im Einklang mit dem vom Grundgesetz und dem BVerfG gezeichneten Menschenbild, das den Menschen als freies Wesen sieht, das grundsätzlich sein Verhalten frei bestimmen kann.40Dem entspricht unser Gefühl, dass wir frei über unser Handeln bestimmen können.41Durch dieses Menschenbild mit bestehender Willensfreiheit kann am derzeit praktizierten Schuldstrafrecht festgehalten werden, um dem Täter einen Schuldvorwurf im Sinne des Anders-Handeln-Könnens zu machen.42Denn ohne Willensfreiheit keine Schuld und ohne Schuld wäre der Grund der Strafe nicht mehr haltbar.43

Teilweise wird vertreten, dass das Strafrecht nur indeterministisch gesehen werden kann.44Weiter lässt sich anführen, dass die Schuld das Maß für eine angemessene Strafe darstellt, unter der sowohl repressive Schuld ausgleichende als auch präventive Strafzwecke in der Rechtsprechung berücksichtigt werden.45Ohne ein Schuldstrafrecht wäre dieses Maß schwer zu beziffern. Jedoch scheint es eine unüberwindbare Hürde, im Nachhinein zu beweisen, dass der Täter in der konkreten Tatsituation die Möglichkeit hatte, sich anders zu verhalten, wenn er sich anders hätte entscheiden wollen.46Wenn ihm diese alternative Handlungsmöglichkeit nicht nachgewiesen werden kann, muss der Grundsatz in dubio pro reo greifen und der Täter muss freigesprochen werden.47Die absolut indeterministische Sicht dürfte gegen die Unschuldsvermutung des Beschuldigten verstoßen, da sie die Einwände aus der Hirnforschung völlig außer Acht lässt, um am Schuldstrafrecht festhalten zu können, was zulasten des Täters geht, falls dessen Handeln tatsächlich determiniert war. Aber auch der relative Indeterminismus kann einen individuellen Tadel nicht begründen, mangels Nachweisbarkeit der Möglichkeit zum Alternativverhalten.

b) Festhalten am Schuldstrafrecht durch Agnostizismus

Eine vermittelnde Ansicht, der ein großer Teil der Literatur angehört, hält Willensunfreiheit für möglich, aber noch nicht für bewiesen.48Es scheint also nicht ausgeschlossen, dass der Täter bei entsprechendem Willensentschluss auch anders hätte handeln können. Willensfreiheit besteht danach eventuell doch. Man spricht vom Agnostizismus, was aus dem griechischen stammend so viel bedeutet wie „unbekannt“.49Wegen der Unbeweisbarkeit der Willensunfreiheit soll am Schuldstrafrecht festgehalten werden.50Zuerst muss bemerkt werden, dass die Neurobiologen selbst wissen, dass die Forschungen bezüglich der Willensfreiheit noch lange nicht abgeschlossen sind, sondern erst begonnen haben.51Es steht nicht fest, dass unsere Handlungsentscheidungen nicht mit unseren Überlegungen zusammenhängen.52Weiter ist die Grundlage, auf der die Hirnforscher die Determiniertheit des menschlichen Handelns hauptsächlich stützen, das Experiment vonLibet, zu kritisieren.53Die Handlungen für das Experiment vonLibetwurden einfach gehalten und wirkten eingeübt. Die Probanden sollten spontan ihren Finger oder das Handgelenk bewegen.54Diese Handlungen sind nicht mit den hochkomplexen Lebensentscheidungen vergleichbar.55Und noch weniger mit der Entscheidung eines Täter, einen Straftatbestand zu verwirklichen, das heißt etwas Unmoralisches zu tun, an das empfindliche Konsequenzen in Form einer Geld- oder Gefängnisstrafe geknüpft sein können. Außerdem ist an dem Experiment zu bemängeln, dass es schwer ist, den Zeitpunkt objektiv zu bestimmen, wann der innere Willensentschluss, der dann zu einer äußeren Handlung führt, gefasst wurde.56Fraglich ist, ob es für den Schuldvorwurf genügt, dass grundsätzlich der Täter durch das grund- und strafgesetzlich gezeichnete Menschenbild in unserer Gesellschaft im Glauben agiert, dass Willensfreiheit besteht und er das Gefühl hat, anders handeln zu können, sodass die Willensfreiheit gar nicht mehr bewiesen werden muss. Dem Täter soll die Schuld demnach zugeschrieben werden, da er in der Annahme agiert, dass er und seine Mitmenschen frei über ihr Handeln bestimmen können.57Die Grundlage dieser Sicht ist, dass ein dem Schuldstrafrecht alternatives Maßregelrecht nicht haltbar wäre. Es werden keine Argumente gegeben, warum Willensfreiheit besteht, sondern nur, dass das Strafgesetzbuch von Indeterminismus ausgeht. Die Dritte-Person-Perspektive wird außer Acht gelassen, sodass für den Schuldvorwurf die Erste-Person-Perspektive ausreicht.58Dieses Argument reicht aber nicht aus, wenn die Erste und Dritte-Person-Perspektive tatsächlich auseinanderfallen. Ein Fehler unserer Wahrnehmung kann keinen strafrechtlichen Schuldvorwurf legitimieren.59Die Wirklichkeit würde verdreht werden, um das Schuldstrafrecht zu begründen.

c) Strafen mit schlechtem Gewissen

Reinhard Merkelvertritt ebenfalls die Auffassung, dass weder das Bestehen noch das Nichtbestehen der Willensfreiheit derzeit bewiesen ist.60Er zählt zu den Agnostikern.61Merkelargumentiert vor allem vor dem Hintergrund am Schuldstrafrecht festhalten zu wollen, um eine gerechte Strafe für eine rechtswidrige Tat zu begründen. Nach ihm sollen sich Richter bei der Verurteilung eines Straftäters der Möglichkeit des eventuell determinierten Willens mehr bewusst sein und wenigstens mit einem schlechten Gewissen bestrafen.62Diese Sichtweise ist inkonsequent. Es ist nicht nachvollziehbar, warum Richter Straftäter als schuldig aburteilen sollen, wenn sie dabei ein schlechtes Gewissen haben.63Es ist gerade Aufgabe der Richter, ein unabhängiges Urteil zu finden (Art. 97 I GG), das sie mit dem Gesetz und ihrem Gewissen vereinbaren können. Auch Art. 4 I GG spricht gegen das Handeln der Richter gegen ihr Gewissen. Konsequenterweise müssten Richter, wenn sie die Willensunfreiheit für möglich halten, wieder nach dem Grundsatz in dubio pro reo freisprechen, um eine Gewissensentscheidung zu fällen.

[...]


1Rogall, SK-StGB, § 20 Rn. 6; Merkel/ Roth, BRJ 2010, 47 (47).

2Hoffmann-Holland, Strafrecht AT, 4. Kapitel Rn. 357; Merkel/ Roth, BRJ 2010, 47 (47).

3Freund, Strafrecht AT, § 4 Rn. 45; Rengier, Strafrecht AT, § 24 Rn. 5; Keiser, Jura 2001, 376 (378 f.).

4Fischer, StGB KO, § 20 Rn. 3; Kindhäuser, StGB KO, § 20 Rn. 2 ff.

5Adam/ Schmidt/ Schumacher, NStZ 2017, 7 (10); Merkel/ Roth, BRJ 2010, 47 (47).

6Eschelbach, StGB KO H-H, § 20 Rn. 3; Jähnke, LK, § 20 Rn. 1; Nedopil, in FS Schöch, 979 (987); Roxin, Strafrecht AT, § 19 Rn. 41; Hassemer, ZStW 121 (2009), 829 (852); Hirsch, ZStW 106 (1994), 746 (750); Weißer, GA 2013, 26 (36); anders Schiemann, ZJS 2012, 774 (776).

7Perron/ Weißer, Sch/Sch KO, § 20 Rn. 2.

8Schild, StGB KO 3. Aufl., § 20 Rn. 18; Frister, Strafrecht AT, 18. Kapitel Rn. 8; Haddenbrock, NStZ 1995, 581 (581).

9Fischer, StGB KO, § 20 Rn. 3; Schiemann, ZJS 2012, 774 (776); Weißer, GA 2013, 26 (32).

10BGHSt 2, 194 (200).

11BGHSt 2, 194 (200).

12BGHSt 2, 194 (200).

13Schild, StGB KO, § 20 Rn. 9.

14Jescheck/ Weigend, Strafrecht AT, § 37 I. 1. S. 407 f.; Herzberg, ZStW 124 (2012), 12 (12); Lampe, ZStW 118 (2006), 1 (2).

15Hillenkamp, JZ 2005, 313 (316).

16Schiemann, NJW 2004, 2056 (2056).

17Kindhäuser, StGB KO, vor § 19 Rn. 8; Roxin, Strafrecht AT, § 19 Rn. 20.

18Fischer, StGB, vor § 13 Rn. 8; Pauen, in Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, S. 41.

19Mohr, in Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, S. 76; Wessels/ Beulke/ Satzger, Strafrecht AT, § 13 Rn. 632.

20Dreher, Die Willensfreiheit, S. 2; Herzberg, in FS Achenbach, 157 (184); ders., Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, S. 62; ders., ZStW 124 (2012), 12 (58); Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 25; ders., in FS Roxin, 737 (740); Jäger, GA 2013, 3 (4).

21Merkel/ Roth, BRJ 2010, 47 (49 f.).

22Gropp, Strafrecht AT, § 6 Rn. 52.

23Merkel/ Roth, BRJ 2010, 47 (50 f.).

24Vgl. u.a. Prinz, in Freiheit des Entscheidens und Handelns, S. 86 ff.; Roth, in Hirnforschung und Willensfreiheit, S. 218 ff.; Singer, Ein neues Menschenbild, S. 1 ff.

25Pauen, in Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, S. 76; Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 553; Singer, Ein neues Menschenbild, S. 20, 32.

26Roth, in FS Lampe, 43 (44).

27Singer, Ein neues Menschenbild, S. 32.

28Roth, in FS Lampe, 43 (47); Singer, in Summa Simon, 529 (531); Merkel/ Roth, BRJ 2010, 47 (48).

29Singer, Unser Menschenbild im Spannungsfeld, S. 9; ders., Ein neues Menschenbild, S. 32.

30Singer, Unser Menschenbild im Spannungsfeld, S. 12 f.

31Prinz, in Freiheit des Entscheidens und Handelns,86 (98).

32Libet, Behavioral and Brain Sciences (1985), 529 (529 ff.); sowie in Schild, StGB KO 3. Aufl., § 20 Rn. 11; Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 518 ff.; ders., in FS Lampe, 43 (48 f.).

33Haggard/ Eimer, Experimental Brains Research 126 (1999), 128 (128 ff.); Soon/ Brass/ Heinze/ Haynes, Nature Neuroscience 11 (2008), 543 ff.

34Wessels/ Beulke/ Satzger, Strafrecht AT, § 13 Rn. 632.

35Siehe B. I.

36Bock, Strafrecht AT, 12. Kapitel S. 374; Krey/ Esser, Strafrecht AT, § 20 Rn. 689. 6. Auflage, München, 2011 6 20 Rn. 689.

37Streng, MüKO, § 20 Rn. 52.

38Frisch, in FS Kühl, 187 (188); Dreher, in FS Spendel, 13 (15).

39Schöch, LK, § 20 Rn. 30; Roxin, Strafrecht AT, § 19 Rn. 21; Hillenkamp, JZ 2005, 313 (318 f.).

40BVerfGE 45, 187 (227); BVerfGE 123, 267 (413); Fischer, StGB KO, vor § 13 Rn. 8; Eisele/ Heinrich, Strafrecht AT, Kapitel 12 Rn. 356.

41Merkel/ Roth, BRJ 2010, 47 (48).

42Streng, MüKo, § 20 Rn. 52; Beck, in Die neuronale Selbstbestimmung des Menschen, 117 (154).

43Roxin, Strafrecht AT, § 19 Rn. 18.

44Dreher, Die Willensfreiheit, S. 18.

45BVerfGE 133, 168 (168); BGHSt 24, 132 (133 f.); Hillenkamp, ZStW 127 (2015), 10 (49).

46Roxin, Strafrecht AT, § 19 Rn. 21.

47Roxin, Strafrecht AT, § 19 Rn. 21; ders., ZStW 96 (1984), 641 (643).

48Heger, Lackner/ Kühl KO, vor § 13 Rn. 26; Eisele, Strafrecht AT B/W/ME, § 16 Rn. 25; Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, S. 64; Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, S. 23 ff.; Frisch, in FS Kühl, 187 (210); Maiwald, in FS Lackner, 149 (164); Roxin, Strafrecht AT, § 19 Rn. 37; Streng, NStZ 1995, 12 (14); Weißer, GA 2013, 26 (38).

49Herzberg, ZStW 124 (2012), 12 (32).

50Merkel, in FS Roxin, 737 (760 f.); Hillenkamp, JZ 2005, 313 (318).

51Hillenkamp, JZ 2005, 313 (318).

52Hillenkamp, JZ 2005, 313 (319).

53Hillenkamp, JZ 2005, 313 (318).

54Libet, Behavioral and Brain Sciences (1985), 529 (529 ff.).

55Schild, StGB KO 3. Aufl., § 20 Rn. 11; Hillenkamp, JZ 2005, 313 (319); Jäger, GA 2013, 3 (9).

56Frisch, in FS Kühl, 187 (202); Schiemann, NJW 2004, 2056 (2057).

57Schöch, LK, § 20 Rn. 22 f.; Burkhard, in FS Lenckner, 3 (10); Dreher, in FS Spendel 1992, 13 (22); Frisch, in FS Kühl, 187 (210).

58Hillenkamp, ZStW 127 (2015), 10 (61).

59Hillenkamp, in Neue Hirnforschung - Neues Strafrecht?, 85 (97); ders., JZ 2005, 313 (320); Schiemann, NJW 2004, 2056 (2058).

60Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 134.

61Merkel, in FS Roxin, 737 (740).

62Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 136; ders., in FS Roxin, 737 (761); ders., in Willensfreiheit im Kontext, 109 (138).

63Vgl. Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, S. 72.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Grundlagen des Strafrechts. Das "anders handeln können" im Rahmen der Schuldunfähigkeit nach §20 StGB
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Rechtswissenschaft)
Note
11
Autor
Jahr
2019
Seiten
37
Katalognummer
V540209
ISBN (eBook)
9783346162861
ISBN (Buch)
9783346162878
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schuld, Anders-Handeln-Können, Willensfreiheit, Indeterminismus, Charakterschuld, Rechtlich missbilligte Gesinnung, Funktionaler Schuldbegriff, Normative Ansprechbarkeit
Arbeit zitieren
Jasmin Hain (Autor:in), 2019, Grundlagen des Strafrechts. Das "anders handeln können" im Rahmen der Schuldunfähigkeit nach §20 StGB, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/540209

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