Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Forschungsstand
3. Theoriegeleitete Zugänge
3.1 Lebensbewältigung nach Böhnisch
3.2 Soziologische Familienforschung - Rosemarie Nave-Herz
3.3 Krise/ kritisches Lebensereignis nach Sigrun Heide-Filipp
4. Konkretisierung der Theorie in Hinblick auf Herausforderungen für Familien mit Kindern mit Behinderung
4.1 Konkretisierung der Lebensbewältigung nach Böhnisch
4.2 Konkretisierung der soziologischen Familienforschung
4.3 Konkretisierung der kritischen Lebensereignisse
5. Perspektiven für die Soziale Arbeit
6. Fazit
I. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Geburt eines Kindes mit Behinderung verändert die Lebenssituation einer Familie und stellt sie vor besondere Herausforderungen. Das Auftreten einer Behinderung wirft Eltern oft aus der ursprünglichen Lebensplanung. Zwischen 3 und 4 Prozent aller Kinder werden mit Behinderungen oder perinatal begründeten Anomalien geboren. Zum Jahresende 2015 lebten rund 7,6 Millionen schwerbehinderte Menschen in Deutschland. Statistisch gesehen gab es im Jahr 2015 173.950 Kinder im Alter von 0 bis 18 Jahren mit einer festgestellten Behinderung (vgl. Statistische Bundesamt Wiesbaden).
Losgelöst davon, ob eine Behinderung während der Schwangerschaft, postnatal oder erst im Laufe des Lebens diagnostiziert wird, geraten Eltern durch die Diagnose einer Behinderung ihres Kindes oftmals in eine Krise. Meist ist die Behinderung nicht der direkte Grund eventuell auftretender Schwierigkeiten. Vielmehr sind die stressbelasteten Eltern sowie die organisatorische Veränderung innerhalb des Familiensystems problematisch. Aufgrund des durchaus traumatischen Ereignisses kann es zu Gefühlen wie Angst, Verzweiflung oder aber auch zum Gefühl von Ohnmacht kommen. Die Sorge, die neue Lebensaufgabe nicht bewältigen zu können, bestimmt meist das ganze Familienleben und beeinflusst die familiären Beziehungen oftmals negativ. Zudem verlangt es von der gesamten Familie eine jahrelange Umorientierung und Neuorganisation des familiären Gleichgewichts, ihrer Strukturen sowie ihrer Gegebenheiten.
Die besonderen Bedürfnisse des Kindes bestimmen den Alltag der Familie. Mit dem Heranwachsen eines Kindes mit Behinderung verändern sich oft auch die Anforderungen an die Familien. Sie werden somit wiederkehrend mit komplexen Anpassungsprozessen konfrontiert (Hinze 1999: 14f.). „Dies erfordert erhebliche Anstrengungen von der Familie hinsichtlich der Strukturierung ihres Lebens und der Erfüllung ihrer Funktion“ (Achilles, Hackenberg: S. 45). Familien mit beeinträchtigten Kindern sind höheren Belastungen ausgesetzt als vergleichbare Familien, in denen keine Kinder mit Beeinträchtigungen leben (vgl. Engelbert, 2012: 99). „Die Bewältigung der meist unerwarteten Situation verläuft in den Familien unterschiedlich, abhängig von den Lebensbedingungen und personenbezogenen Merkmalen der Familienmitglieder sowie der sozialen, materiellen und professionellen Unterstützung, die ihnen zuteil wird“ (Seifert 2011: 41). Neben innerfamiliären Anpassungsprozessen sowie Bewältigungsstrukturen, wird in dieser Arbeit versucht zu erläutern, welche Möglichkeit Soziale Arbeit hat, dieser Herausforderung zu begegnen.
2. Forschungsstand
Mehr als jeder achte Mensch in Deutschland hat eine amtlich anerkannte Behinderung. (vgl. Statistischem Bundesamt Wiesbaden). Behinderung ist nicht gleich Behinderung - es gibt etliche Formen von Handicaps. An dieser Stelle den Begriff der „Behinderung“ in seiner allgemeingültigen Bedeutung darzulegen ist kaum möglich, da der Begriff in den unterschiedlichsten Disziplinen, wie bspw. in der Weltgesundheitsorganisation (WHO), in der Pädagogik, im Bundessozialhilfegesetz (SGB IX, § 2, Abs. 1) oder auch in der Medizin, seine eigene entsprechende Definition besitzt. Die einzelnen Definitionen für den Begriff „Behinderung“ sind im internationalen Rahmen unterschiedlich. Nach Clorekes (2007) ist „eine Behinderung [.] eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der [.] ein negativer Wert zugeschrieben wird. Dauerhaftigkeit unterscheidet Behinderung von Krankheit, Sichtbarkeit ist im weitesten Sinne das Wissen anderer Menschen um die Abweichung“. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen „behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“ (Wasmund 2017: o.S.). Der Grad der Behinderung beurteilt die Schwere der Behinderung. Er wird in Zehnerschritten von 10-100 angegeben und durch das Versorgungsamt festgestellt (vgl. Castendiek, Hoffmann 2009: 39).
Ende des Jahres 2015 lebten in Deutschland circa 7,6 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts in Wiesbaden, stieg der prozentuale Anteil um 0,9% im Vergleich zum Jahr 2013. Demnach gab es 2015 rund 67 000 mehr Menschen mit einer Behinderung als 2013. 2015 waren somit 9,3% der gesamten Bevölkerung in Deutschland schwerbehindert. „Rechnet man die Anzahl derjenigen hinzu, deren festgestellter Grad der Behinderung weniger als 50 beträgt, sind es insgesamt sogar 9,6 Millionen Menschen, was einem Anteil von 11,7% der Gesamtbevölkerung gleichkommt“ (Weinbach 2015: 131). 2% waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Es ist jedoch anzumerken, dass die Dunkelziffer von Kindern mit Behinderung höher liegt, da Behinderungen bei Kleinkindern teilweise noch nicht diagnostiziert werden. Beispielhaft kann hier der frühkindliche Autismus herangezogen werden, bei dem sich erste Beeinträchtigungen meist erst mit dem dritten Lebensjahr ergeben. Hinzu kommt, dass für Kinder und Jugendliche zum Teil kein Schwerbehindertenausweis beantragt oder ein dauerhafter Grad der Behinderung von mindestens 50% noch nicht anerkannt wurde. Schätzungen zur Folge kann von etwa 185.000 behinderten Kindern und Jugendlichen in Deutschland ausgegangen werden. (Vgl. Landesgleichberechtigungsgesetz 2015: o.S.). Fachleute gehen davon aus, dass zwischen 75 und 90% der Kinder und Jugendlichen in einer Familie leben (vgl. Thimm 2002: 103). In Deutschland lebten 2013 in 55.000 Familien ein oder mehrere Kinder unter 30 Jahren mit Behinderung. „In 14.000 Fällen handele es sich um Familien mit einem alleinerziehenden Elternteil, darunter 12.000 Frauen und 2.000 Männer. In 39.000 Familien lebt ein schwerbehindertes Kind, in 7.000 Familien lebten zwei oder mehrere schwerbehinderte Kinder“ (Deutscher Bundestag 2018: o. S.).
Im Jahr 2013 wurde eine Studie durchgeführt, die sich mit den Lebenssituationen von Familien mit Kindern mit Behinderung und den damit verbundenen Herausforderungen beschäftigt. Die Universität Hamburg-Eppendorf hat bundesweit ca. 1.600 Eltern von chronisch kranken oder behinderten Kindern befragt. Die Kindernetzwerk Studie erhebt unter anderem die Erfahrungen betroffener Eltern zur Lebensqualität, Versorgungsqualität sowie die beruflichen wie sozioökonomischen Konsequenzen (vgl. Kofahl, Lüdecke 2014: 6). Die Ergebnisse der Umfragen zeigen auf, dass gerade die Betreuung eines Kindes mit Behinderung den Familien einiges abverlangt. 40% der Eltern gaben an, dass sie ihr Kind nicht unbeaufsichtigt lassen können. In 30% der Fälle können die Kinder nicht länger als eine Stunde allein gelassen werden. Im Ergebnis liegt die Lebensqualität der betroffenen Familien weit unter dem Bevölkerungsdurchschnitt. Darüber hinaus stellt die Studie heraus, dass die Mütter in rund 80% der Fälle die Hauptbezugsperson sind. Neben den üblichen erzieherischen und versorgungsrelevanten Verpflichtungen sind Eltern mit Kindern mit Behinderung durch zusätzliche Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte, Therapeutentermine stärker gefordert. Ein Großteil der Eltern (83% der befragten Familien) sehen in den Antragsverfahren für zusätzliche Unterstützungs- und Entlastungsleistungen eine große Hürde (vgl. Kofahl, Lüdecke 2014: 6f.).
3. Theoriegeleitete Zugänge
3.1 Lebensbewältigung nach Böhnisch
Das Konzept Lebensbewältigung versteht sich als Theorie-Praxis-Modell für die Soziale Arbeit. Es geht auf die individualpsychologisch inspirierte Sozialpädagogik nach Otto Rühle zurück (vgl. Heinemann 2004: 141). Lebensbewältigung „[.] entwickelt und systematisiert Hypothesen zum Betroffensein und zu dem entsprechenden Bewältigungsverhalten von Menschen in kritischen Lebenskonstellationen [.]“ (Böhnisch 2017: 11). Darüber hinaus können gewonnene Erkenntnisse diagnostisch brauchbar gemacht werden, um konkrete Handlungsaufforderungen an die Soziale Arbeit abzuleiten. Nach Lothar Böhnisch kann das Konzept der Lebensbewältigung als 3 Streben nach psychosozialer Handlungsfähigkeit in Krisen erklärt werden (vgl. Böhnisch 2017: 11). Lebenssituationen werden dann als kritisch angesehen, wenn die vorhandenen eigenen Ressourcen nicht mehr ausreichen und damit die psychosoziale Handlungsfähigkeit beeinträchtigt ist. Soziale Anerkennung, Wirksamkeit und darüber gestärkter Selbstwert machen diese Handlungsfähigkeit aus (ebd.: 20).
Lebensbewältigung bezieht sich somit insbesondere auf Bewältigungsprobleme in kritischen Lebenssituationen (vgl. ebd.: 25). Aspekte wie Selbstwert, soziale Anerkennung und Selbstwirksamkeit gelten als zentrales Merkmal. Das kontinuierliche „[.] Streben nach Handlungsfähigkeit strukturiert den Alltag und die Biografien aller Menschen“ (Böhnisch, Schröer 2013: 25). Übergänge von klassischen normativen Lebenssituationen zu prekären Bewältigungssituationen sind fließend. Sie haben ein großes Veränderungspotenzial. „Bei berufsbiografischen Brüchen und Lebenskrisen [.] setzen subjektive Bewältigungsaufforderungen [ein], die der [.] Psychodynamik des Bewältigungshandelns im Streben nach Handlungsfähigkeit unterworfen sind“ (Böhnisch 2017, 65). In kritischen Lebenssituationen können jedoch Bewältigungssituationen entstehen, welche die Betroffenen selbst nicht mehr steuern können. Grund dafür kann sein, dass das Bewältigungsverhalten psychodynamisch, also durch tiefenpsychologische, psychoanalytische Erfahrungen vielfach zurückgebunden ist.
Das Konzept der Lebensbewältigung lässt sich in einem Modell mit drei Dimensionen darstellen (vgl. Böhnisch, Schröer 2013: 25f.). Böhnisch spricht von der psychodynamischen, der sozial-interaktiven und der sozialstrukturell-sozialpolitischen Sphäre. Die psychodynamische Zone, beinhaltet das psychosoziale Streben nach Handlungsfähigkeit in Krisen. Drei Bewältigungsimpulse treffen hier aufeinander. Zum einen soll der Selbstwert stabilisiert werden, zum anderen steigt das Verlangen nach sozialer Anerkennung. Drittens werden Erfahrungen der Selbstwirksamkeit bedeutsam (vgl. ebd.: 26). Bedingt wird dies durch die biographische Handlungsfähigkeit. Sie sucht „[.] ihre unbedingte soziale Verwirklichung [.] auch dann, wenn sie sie im gegebenen gesellschaftlichen Rahmen nicht finden kann“ (ebd.: 26). Soziale Anerkennung hingegen kann in kulturellen und gesellschaftlichen Normen, als auch in „[.] aufmerksamkeitserregenden Auffälligkeitsverhalten [.]“ (ebd.: 26) gesucht werden. Selbstwirksamkeit wiederum kann in sozialer Mitbestimmung „[.] aber auch im antisozialen Verhalten bis hin zu Gewalt [.] gespürt werden“ (ebd.: 26). Hinter derartigen abweichenden Verhaltensmustern stehen Botschaften der Hilflosigkeit. Hinzukommt ein gewisses Unvermögen, eigene Bedürfnisse zu regulieren und die gewohnte Balance wiederherzustellen. Das Unvermögen entsteht, wenn Anpassungserwartungen zu hoch sind und zeitgleich die eigenen Bedürfnisse von der sozialen Umwelt nicht oder kaum wahrgenommen werden. „Es entsteht ein körperlich- seelischer (somatischer) innerer Druck, den man loswerden muss“ (vgl. Böhnisch 2017: 20f.). Der Schlüssel liegt in der Thematisierung. Gelingt es einem Menschen nicht, die eigene Hilflosigkeit zu thematisieren, entwickelt sich eine Selbstwertstörung. Gerade Menschen, „[...] die in der bisherigen Biographie nie die Chancen hatten [...] und damit auch nicht lernen konnten, das was in ihnen ist, auszusprechen [...], fällt das Thematisieren schwer“ (ebd.: 30). Thematisieren der Hilflosigkeit bezieht sich nicht nur auf das reine Verbalisieren. Es geht vielmehr um den sozial-interaktiven Vorgang des Mitteilens und des Anknüpfens an Beziehungen (vgl. ebd.: 21). Die innere Dynamik zwingt den Einzelnen, dessen Thematisierungsfertigkeit defizitär ist, dazu, die eigene Hilflosigkeit auf andere zu projizieren. Der emotionale Drang zur Entspannung gewinnt die Oberhand. Gilt derartiges Verhaltens als einzige Bewältigungsoption bezeichnet Böhnisch dies als Abspaltung. Das abgespaltende Kompensationsverhalten ist vielfältig. Es äußert „[.] sich in unterschiedlichen Inszenierungen und Aktivitäten der Entlastung, Ablenkung oder des Umlenkens der inneren Bedrängnis“ (ebd.: 22). Dieses Abspaltungsverhalten kann sich nach außen richten. Es reicht von Verweigerungsverhalten bis hin zu physischen und/ oder psychischen Gewalttaten. Derartiges Verhalten entzieht sich der Selbstkontrolle und die Handlung erfolgt unbewusst. Da die Abspaltungsdynamik emotional aufgeladen ist, führt das antisoziale Verhalten zu einer Entlastung. Es ist oft das letzte Mittel, um Selbstwirksamkeit, Selbstwert und Anerkennung zu erlangen. Neben der äußeren Abspaltung, kann auch eine innere Abspaltung erfolgen. Die eigene Hilflosigkeit wird hier nach innen gerichtet. Menschen versuchen „[.] Probleme bis zur Selbstzerstörung auszuhalten [.]“ (ebd.: 24) Zu Formen der inneren Abspaltung zählen diverse Formen der Selbstverletzung sowie Essstörungen und Depressionen. Der Körper wird hier als äußeres Objekt benutzt. Hierdurch können z.B. traumatische Erlebnisse der Kindheit abgetötet werden. Durch die Offenlegung der Selbstverletzung und das damit verbundene Entsetzen der sozialen Umwelt, erfährt der betroffene Mensch Entspannung und Entlastung. Es vollzieht sich eine unbewusste Projektion ab. Aufmerksamkeit und die gewünschte Anerkennung werden durch extreme Auffälligkeiten gesucht (vgl. ebd.: 25). Nach Böhnisch gibt es noch weitere Abspaltungsformen. Sie sind oft weniger spektakulär und verdeckt, deswegen jedoch nicht weniger problematisch. „Das sich Entwerten, die erzwungene Selbstisolation, die Unterwerfung bis in die Co-Abhängigkeit, das Aushalten von Demütigungen oder überhaupt der Zwang zum Schweigen über die innere Not“ (Böhnisch, Schröer 2013: 26) spiegeln ebenfalls eine Abspaltung, die der inneren Hilflosigkeit geschuldet ist.
Die sozial-interaktive Sphäre, beschreibt die Bewältigungskulturen. Das Bewältigungsverhalten eines Menschen ist durch persönliche und soziale Beziehungen geprägt und wird durch bestimmte Bewältigungskulturen beeinflusst. Familie, Gruppen, Schule, Medien sowie die Arbeitswelt sind Kulturen, in die der einzelne Mensch verflochten ist. Als sozial-interaktive Zone gibt sie die Art und Weise des Umgangs in Krisen vor und beinhaltet verschiedene Möglichkeiten, das bedrohte Selbst eines Menschen zu thematisieren (vgl. ebd.: 32). Im Kontext dessen spricht man oft von sogenannten Milieus. Zu diesen zählen unter anderem die Herkunft sowie die Schichtzugehörigkeit. „Dahinter steckt die [Annahme], dass sie soziale Umgebung, in der jemand aufgewachsen ist, auch das Verhalten in Hilfebeziehungen prägen kann“ (Böhnisch 2017: 55). Familie gilt als eine der essentiellen Bewältigungskulturen im Leben eines Menschen. Sie soll vieles ersetzen, was im gesellschaftlichen Leben eines Menschen unerreichbar scheint. Dies kann zu Überforderung führen. Aufgrund der gesellschaftlichen Individualisierung ist die Familie „[...] nicht nur zur Aushandlungsfamilie der Einzelinteressen ihrer Mitglieder geworden [...], sondern unter diesen Umständen auch eine auf sich gegenseitig angewiesene Intimgruppe Bedürftiger“ (vgl. ebd.: 57). Belastungen wie Arbeitslosigkeit, Armut oder die Geburt eines behinderten Kindes setzen Familien zusätzlich unter Druck. Sie versuchen nach außen hin Normalität zu repräsentieren, obgleich ihnen die Fertigkeit fehlt, Beziehungen unter den Familienmitglieder zu gestalten. Je desolater der familiäre Zusammenhalt, desto mehr halten die einzelnen Familienmitglieder an den Vorstellungen einer heilen Familie fest. Kritisch wird es dann, wenn die in der Familie wahrgenommene Überforderung und die daraus resultierende Bedürftigkeit weder innerhalb noch außerhalb der Familie besprochen werden kann. Bieten sich keine Entlastungsoptionen, kann der Abspaltungsdruck enorm werden. Der Druck kann innerfamiliär in diversen Formen wie Hass, Machtmissbrauch und Gewalt umschlagen (vgl. ebd. 58f.).
Das Konzept wird mit der sozialstrukturellen Dimension erweitert. Mit ihr „[.] können die jeweiligen Vergesellschaftungsformen auf die je individuell verfügbaren Muster der Bewältigung strukturell bezogen und so individuelle Lebensbewältigung an die gesellschaftliche Entwicklung rückgebunden werden“ (Böhnisch 2012: 224). Diese Sphäre bedient sich der gesellschaftlichen Freisetzung von Bewältigungsproblemen. Sie beinhaltet die Konzepte Lebenslage und Bewältigungslage. „Soziale Arbeit und Sozialpolitik haben ein gemeinsames Ziel: Die Verbesserung sozial riskanter Lebensverhältnisse und ungleicher Lebenschancen“ (Böhnisch, Schröer 2013: 40). Böhnisch entwickelt hieraus das Lebenslagenkonzept. Dieses eröffnete einen Zugang zu den Lebensverhältnissen des Einzelnen. Dies wurde durch Böhnisch um die Bewältigungslage erweitert. Über das Konzept der Bewältigungslage können nun die Lebensverhältnisse sozial interaktiv beeinflusst werden (vgl. ebd.: 40f).
3.2 Soziologische Familienforschung - Rosemarie Nave-Herz
Familienstruktur hat sich in den vergangenen Jahrhunderten grundlegend verändert. Nicht nur die Wissenschaft oder Politik beschäftigen sich mit dem Konzept Familie. In fast allen Gesellschaften und Kulturkreisen hat die Familie als Form des sozialen Zusammenlebens eine herausgehobene Bedeutung. Familie „[...] organsiert sich im Rahmen rechtlicher, sozialer und sittlicher Normen, die historisch gewachsen sind, sich aber auf dem jeweiligen Hintergrund politischer Verhältnisse und kultureller Strömungen immer wieder neu [...]“ (Wilken, Jeltsch-Schudel 2003: 15) formt. Familie kann als ein soziales Konzept verstanden werden, „[...] dass sich über intra- oder interpersonelle Beziehungen, durch Fürsorge und die Bereitschaft, Verantwortung für den anderen zu übernehmen, definiert“ (Gubrium, Holstein 1990: 24). An vorderster Stelle wird der Familie die biologische und soziale Reproduktionsfunktion zugewiesen. Eine allgemein anerkannte Definition des Begriffes und Konzepts Familie gibt es nach Rosemarie Nave- Herz nicht (vgl. Nave-Herz 2002: 141). Beim Umschreiben des Konzepts wird ihrer Meinung nach, entweder die Bedeutung der Familie für die gesamte Gesellschaft oder aber der spezifische Gruppencharakter in den Mittelpunkt gerückt. (Nave-Herz 2013: 148). Gesellschaft ist gekennzeichnet durch die postmoderne soziale Komplexität und kulturelle Diversität. Diese gesellschaftliche Gegebenheit führt natürlich auch zu Veränderungen innerhalb der Familiensysteme. Hinzukommen Modernisierungsprozesse, die durch ihre veränderten strukturellen Rahmenbedingungen und neue Formen des Zusammenlebens, alle Mitglieder einer Familie enorm herausfordern. Im Fokus stehen innerfamiliale Veränderungsprozesse, ihre verursachenden Bedingungsfaktoren und die Folgen für die Erziehung der Kinder.
Familie gilt als Sozialform mit besonderer Bindungsqualität. Spricht man im Alltag von Familie, ist häufig die Ursprungs- oder Kernfamilie gemeint. Die Kernfamilie ist eine Zwei-Generationen-Familie, die nur aus der Eltern- und der Kindergeneration besteht (vgl. Nave-Herz 2015: 13). Im gängigem Sprachgebrauch ist das Verständnis von Familie jedoch unterschiedlich. Aufgrund des uneinheitlichen subjektiven Erlebens des Einzelnen ergeben sich hier Abgrenzungen. Das Konzept Familie ist nur in menschlichen Gesellschaften zu finden und gilt darüber hinaus als Kulturprodukt. Bestimmte Kriterien grenzen Familien in allen Kulturen von anderen sozialen Systemen ab. Unabhängig davon, um welche spezifische, historische oder regionale Ausprägung von Familie es sich handelt, weist die Familie als universelle soziale Institution ein bestimmtes Grundmuster auf. Zum einen besitzen Familien eine „[...] biologisch-soziale Doppelnatur [.]“ (Hormann 2013: 35). Sie enthält, neben kulturell variablen anderen gesellschaftlichen Funktionen, eine Reproduktions- als auch eine Sozialisationsfunktion.
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