Vorliegende Arbeit untersucht die Fragestellung, ob Frauen mit einer geistigen Behinderung in der Lage sein können, eigene Kinder verantwortungsvoll großzuziehen. Ausgehend von der Situation von Frauen mit geistiger Behinderung und ihrer oftmals belasteten Sozialisation in Familie und Gesellschaft werden Entwicklungsaufgaben wie Pubertät, Identitätsentwicklung, Sexualität, Partnerschaft, Ehe und Mutterschaft untersucht. Vorurteile gegenüber geistig behinderten Müttern werden auf ihre Gültigkeit hin reflektiert. Ausgehend vom Normalisierungsprinzip wird schließlich erarbeitet, wie eine optimale Begleitung von Müttern mit sogenannter geistiger Behinderung erfolgen könnte und welche Erfahrungen und Projekte es bisher gibt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Behinderung - der Versuch einer Begriffsbestimmung
2.1 Geistige Behinderung
2.2 Das Normalisierungsprinzip
3 Zur Situation der geistig behinderten Frau
3.1 Mutter- Tochter- Beziehung
3.2 Sozialisation in der Schule
3.3 Pubertät
3.4 Die Identität als Frau in der Gesellschaft
3.5 Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Freunde
3.6 Sexualität
3.7 Partnerschaft
3.8 Ehe
3.9 Mutterschaft
4 Vorurteile gegenüber geistig behinderten Müttern
4.1 Vorurteil 1: Mütter sind emotional nicht in der Lage, Liebe zu geben
4.2 Vorurteil 2: Unzureichende finanzielle Absicherung der Mutter
4.3 Vorurteil 3: Das Risiko für die Kindesentwicklung ist zu hoch
4.4 Vorurteil 4: Das Kind wird auch behindert sein
5 Ableitungen der bisherigen Betrachtungen für die Begleitung der Frauen
5.1 Die Notwendigkeit einer Trennungsbegleitung- ein aktuelles Beispiel
6 Wie sieht eine optimale Begleitung von Mutter und Kind aus ?
6.1 Aspekte auf der gesellschaftlichen Ebene
6.2 Aspekte auf der institutionellen Ebene
6.3 Aspekte auf der professionellen Ebene
7 Zum Stand gegenwärtiger Betreuungsmöglichkeiten
8 Abschließende Betrachtung
9 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Bereits im ersten Semester wurde ich durch das Seminar Anthropologie der Behinderung bei Prof. Jödecke auf die Thematik geistig behinderter Mütter aufmerksam. Nach Recherchen im Internet und Diskussionen im Bekannten- und Freundeskreis geriet ich selbst oft in ein Wechselbad der Gefühle.
Auch innerhalb des Kolloquiums im 2. Semester tauchten viele Fragen auf, die ich teilweise aus meiner Erfahrung als Mutter zu beantworten versuchte. Aber reichen meine Erfahrungen und meine Sicht auf die Dinge aus, um beurteilen zu können, was eine geistig behinderte Mutter kann und was nicht? Diese Frage beantworte ich inzwischen mit einem klaren „Nein“.
Ganz entscheidend half mir dabei der Dokumentarfilm „Jetzt fahren wir übern See“ von Antje Hubert. Sie begleitete drei als geistig behindert geltende Mütter ein halbes Jahr lang im Kieler Waldhof der Marie-Christian-Heime. Zunächst war ich überrascht, wie sehr mir der Alltag der Mütter bekannt vorkam, wie liebevoll die Mütter mit ihren Kindern umzugehen verstanden und wie viel die Kinder ihnen bedeuteten. Doch im Laufe des Filmes wurden auch viele Schwierigkeiten deutlich.
Viele dieser Schwierigkeiten resultierten ganz klar aus den Lebensumständen der Frauen.
Deshalb erscheint es mir wichtig zu klären, welchen Hürden geistig behinderte Frauen im Laufe ihrer Entwicklung ausgesetzt sind, die es ihnen objektiv erschweren, in unserer Gesellschaft ihren Platz zu finden.
Des Weiteren möchte ich darstellen, mit welchen Vorurteilen sich geistig behinderte Mütter konfrontiert sehen. Anhand dieser Vorurteile und anhand der Untersuchungen von Ursula Pixa-Kettner, die für meine Arbeit eine wesentliche Grundlage bilden, lassen sich Schlussfolgerungen für die praktische Arbeit des begleitenden Fachpersonals ableiten.
Da ich mich als Frau und Mutter besonders für die Probleme der als geistig behindert geltenden Frauen und Mütter interessiere und nach meinen Recherchen die meisten dieser Mütter ihr Kind allein groß ziehen müssen, werde ich meine Arbeit überwiegend aus der Sicht der Frauen betrachten.
2 Behinderung - der Versuch einer Begriffsbestimmung
„Behinderung ist eine Medaille mit zwei Seiten, der des Behindertwerdens und der des Behindertseins“ (Schildmann, Ulrike 2003, S. 30).
Diese Aussage zeigt, dass Behinderung nicht objektiv definiert werden kann, denn wer behindert wen und wodurch?
Nach Bleidick/Hagemeister ist der Begriff der Behinderung ein sozial vermitteltes Konstrukt. „Soziale Normen, Konventionen und Standards bestimmen darüber, wer behindert ist.(...). Darum sind alle Aussagen darüber, wer gestört, behindert, beeinträchtigt, geschädigt ist usw., relativ, von gesellschaftlichen Einstellungen und diagnostischen Zuweisungen abhängig“ (Bleidick/Hagemeister 1998, zitiert nach Schildmann 2003, S. 30).
Hier wird deutlich, dass Behinderung im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu betrachten ist. Meistens „betrachten die Betroffenen selbst weniger ihre Funktionseinschränkung als Behinderung, sondern vielmehr die Reaktion der Umgebung auf ihr Anderssein sowie die behindernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen“ (Sigrid Arnade 2003, S.3).
In diesem Sinne formulierte auch die Weltgesundheitsorganisation WHO ihre Sicht auf Behinderung im Jahr 1998 neu. Behinderung wird demnach systemorientiert betrachtet, das heißt, immer im Zusammenhang von sozialen und institutionellen Gegebenheiten. Die positiven Möglichkeiten, die Stärken und Kompetenzen des Menschen mit Behinderung innerhalb seines Lebensraumes stehen im Vordergrund (vgl. Hensle/Vernooij 2000, S. 13/14).
In dieser Neufassung verdeutlicht sich der Wandel vom defizitorientierten Menschenbild hin zur kompetenzorientierten Sichtweise von Behinderung oder wie Sabine Stengel- Rutkowski aus humanmedizinischer Sicht formuliert: „vom Defekt über den Dialog mit den Menschen, die anders sind, zur gesellschaftlichen Akzeptanz von Vielfalt“ (Stengel- Rutkowski 2002)
2.1 Geistige Behinderung
Nach Walter/Hoyler- Hermann „(führen) soziale Kontrollmechanismen und Stigmatisierungsprozesse zur Etikettierung geistige Behinderung“ (Joachim Walter/Annerose Hoyler- Herrmann 1997, S.19).
Auch hier wird wieder die Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft deutlich.
Geistige Behinderung ist „ein mehrperspektivischer Begriff, der sowohl genetische, prä-, peri- und postnatale Ursachen erkennt, aber vor allem Attributionen und Reaktionen des jeweiligen Umfeldes in sozialer Interaktion als identitätsstiftende bzw. Identität gefährdende Faktoren für Menschen mit geistiger Behinderung berücksichtigt. (J. Walter/A. Hoyler- Herrmann, 1987, S.19)
Nach der Definition der Lebenshilfe bezieht sich der Begriff „geistige Behinderung“ auf „die intellektuellen Bereiche, nicht aber auf sonstige Wesenszüge, wie z.B. die Fähigkeit, Freude zu empfinden und zu verbreiten oder sich wohl zu fühlen. Menschen mit geistiger Behinderung haben die selben Grundbedürfnisse wie jeder andere auch. Geistige Behinderung ist (...) keine Krankheit. Es handelt sich vielmehr um die Folgen schädigender Ereignisse, um hinterlassene Spuren also“ (Lebenshilfe 1990, S.7).
2.2 Das Normalisierungsprinzip
1969 formulierte der Schwede Bengt Nirje das sogenannte Normalisierungsprinzip, welches die pädagogische Arbeit mit geistig behinderten Menschen entscheidend beeinflusste. Nach Nirje ist das Normalisierungsprinzip ein „Mittel, das dem geistig Behinderten gestattet, Errungenschaften und Bedingungen des täglichen Lebens, so wie sie der Masse der übrigen Bevölkerung zur Verfügung stehen, weitgehend zu nutzen.“ (Walter Thimm 1994, S.37).
Dabei geht es nicht um ein „Normalmachen“ im Sinne der Anpassung von Menschen mit Behinderungen an die Menschen, die sich für normal halten. Vielmehr geht es um die Teilhabe, Integration und Selbstbestimmung behinderter Menschen, in der Form, wie wir als sogenannte „Nichtbehinderte“ diese Rechte in Anspruch nehmen. Es geht darum, trotz Behinderung „ein Leben so normal wie möglich“ (Walter Thimm 1994, S. 67) leben zu können.
Unter diesem Aspekt gewinnt die Frage nach Sexualität, Partnerschaft oder Mutterschaft geistig behinderter Menschen an Bedeutung. Nirje fordert in diesem Zusammenhang das
- Respektieren von Bedürfnissen, d.h. weniger Fremdbestimmung dafür mehr Selbstbestimmung, gerade im Bereich Wohnen, Partnerschaft oder bei Inanspruchnahme ambulanter Dienste (vgl. Walter Thimm 1994, S. 42)
sowie die Akzeptanz des
- Lebens in einer bisexuellen Welt, d.h., jeder Mensch hat sexuelle Bedürfnisse, braucht Liebe und Zuwendung oder sehnt sich nach einer Partnerschaft, das Zugestehen von Privatsphäre sowie Sexualaufklärung und entsprechende Begleitung sollten selbstverständlich sein (vgl Walter Thimm 1994 S. 43).
Wie sieht die Umsetzung des Normalisierungsprinzips im Hinblick auf die Rechte und Bedürfnisse in Bezug auf Sexualität, Partnerschaft und Mutterschaft in der Realität aus?
3 Zur Situation der geistig behinderten Frau
Das Leben von Frauen mit geistiger Behinderung ist in weiten Teilen durch geringe Selbstbestimmung, eingeschränkte Handlungskompetenz und Abhängigkeit von anderen Menschen bestimmt. Auch ihre Sicht von sich selbst ist davon beeinflusst. Viele beschreiben sich auf der Basis von Fremdzuweisungen: Wie du mich siehst, so bin ich. Nicht nur deshalb ist ihr Erwachsensein, ihre Identität als Frau existentiell davon abhängig, inwieweit wir am anderen Ende der Abhängigkeit diese zulassen. Wenn Betreuerinnen eine 40jährige Frau immer noch „Mädle“ nennen, verwehren sie ihr damit die Identitätsfindung als erwachsene Frau (Andrea Friske 1995, S. 39).
Im Hinblick auf die Wechselwirkung von Gesellschaft und Individuum stellt sich mir die Frage, welche Einflüsse im Leben der geistig behinderten Frau dazu geführt haben, dass sie in diese Abhängigkeit geraten ist. Nach Andrea Friske haben Frauen mit geistiger Behinderung „für sich kein Selbstverständnis als Frau entwickelt. Sie sehen sich als Mädchen oder als Neutrum“ (A. Friske 1995, S. 46).
Im Folgenden möchte ich auf typische Phasen in der Entwicklung eingehen um aufzuzeigen, mit welchen Problemen diese Frauen von Geburt an konfrontiert werden.
3.1 Mutter-Tochter-Beziehung
„Eine Tochter mit geistiger Behinderung bedeutet Identitätsverlust für die Frau“ (A. Friske 1995, S. 27).
Neun Monate lang konnte das werdende Leben im Leib der Mutter wachsen. Die Mutter entwickelt eine Vorstellung von ihrem Kind und malt sich die gemeinsame Zukunft aus. Sie hat im Laufe der Schwangerschaft Zeit, sich auf ihre künftige Identität als Mutter geistig vorzubereiten. Nach Stern ist zum Zeitpunkt der Geburt
„die emotionale Bindung der Mutter an ihr Kind noch nicht vorhanden“ (Daniel N. Stern 2003 S. 63) Die Mutterschaft erwächst erst aus der Fürsorge für das Baby (vgl. Daniel N. Stern 2003, S. 63).
Wird diese Tochter dann mit einer Behinderung geboren, so durchlebt die Mutter ein ungeahntes Trauma. Das Kind wird nicht selten radikal abgelehnt. Die Mutter sieht ihr Selbstbild verletzt, sie entwickelt Schuldgefühle. Die Abneigung gegen das Kind wird verstärkt und stört die Bindung zwischen Mutter und Tochter erheblich. Selbst wenn die Mutter gelernt hat, ihr Kind anzunehmen, wird sie ihm unbewusst die Rolle der ewigen Tochter zuweisen (vgl. A. Friske 1995, S. 28). Sie ist überzeugt, dass ihre Tochter nie die gesellschaftlich angedachte Rolle der Frau als Mutter, Ehe- oder Karrierefrau erfüllen wird.
Zudem erleben viele geistig behinderte Frauen die jahrelange Ablehnung ihrer Familie. Die Tochter wird trotz oder gerade wegen dieser Ablehnung versuchen, sich mit ihrer Mutter zu identifizieren. Zum einen sucht sie die Anerkennung der Mutter, zum anderen erkennt und erlebt sie sehr wohl die Bedeutung der Rollenverteilung in der Gesellschaft. Also versucht auch die geistig behinderte Tochter eine Frau zu werden und orientiert sich an vorgegebenen gesellschaftlichen Idealen wie Partnerschaft und Kind (vgl. A. Friske 1995, S. 28).
3.2 Sozialisation in der Schule
In der Schule verhalten sich Mädchen in der Regel sehr angepasst. Sie sind eher depressiv oder versteckt autoaggressiv und fallen den Lehrern dadurch nicht auf. In den Einrichtungen wie Kindergarten und Schule erwartet man von Mädchen, dass sie brav und angepasst sind. Mädchen erleben durch das unbewusste Weitergeben der Rollenmuster durch Erzieherinnen, Eltern und Bezugspersonen ihre gesellschaftlich geringere Minderwertigkeit (vgl. A. Friske 1995, S. 32).
Hinzu kommt meiner Meinung nach, dass geistig behinderte Kinder übermäßig mit ärztlichen und therapeutischen Behandlungen versorgt werden und so ständig ihre „Andersartigkeit“ erleben. Auch die gesamte Interaktion mit der Umwelt ist davon geprägt, sich als „anders“ zu erleben. Aussonderung in Sonderschulen verstärkt dieses Problem erheblich.
3.3 Pubertät
Mädchen mit geistiger Behinderung erleben die Veränderungen ihres Körpers mit gewissen Ängsten. und werden damit oftmals allein gelassen. Die Erwachsenen registrieren die körperlichen Veränderungen oftmals mit Distanz. Die Mädchen sind dem Zwiespalt des Erwachsenen ausgesetzt, der in ihnen nun weder Kind noch reifende Frau sieht. „Mädchen mit geistiger Behinderung verlieren ihr Kindsein ohne den Ersatz des Frauwerdens. Sie sind nicht mehr goldig, werden aber nicht attraktiv“ (A. Friske 1995, S. 36).
Oft wird den Mädchen in der Zeit der Pubertät ihre Andersartigkeit bewusst und so das Gefühl der Minderwertigkeit noch verstärkt.
Nach Friske sehnen sie sich
[...]
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.