Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Begründung der Themenwahl
1.2 Zum Film: Handlung und Charaktere
2 Identität
2.1 Die Vielschichtigkeit des Begriffes und dessen Definition
2.2 Die Identitätskrise
2.3 Identitätssuche und Identitätsfindung
3 Die Einschränkung der Identität durch die Gesellschaft und die Familie am Beispiel von Christopher McCandless
3.1 Die Einschränkung durch gesellschaftliche Normen
3.2 Der familiäre Einfluss
4 Die fünf Säulen der Identität
4.1 Die Vorstellung des Konzepts
4.2 Das Konzept in Bezug auf Christopher McCandless
5 Die Entwicklung von Christopher McCandless' Identität
5.1 Christopher McCandless' Identität vor und während der Reise und kurz vor seinem Tod
5.2 Wie fördert Christopher McCandless die Entfaltung seiner Identität durch die Entfremdung von der Gesellschaft?
6 Filmtechnische Analyse in Bezug auf die Natur und das Freiheitsgefühl
6.1 Der Filmaufbau
6.2 Kamera - Schnitt – Musik
7 Fazit
8 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Begründung der Themenwahl
„Wissen Sie, was ich glaube? Dass wir in eine Welt hineingeboren werden, in der sich niemand die Zeit nimmt, der zu werden, der er ist – und all diese Menschen, die nicht sie selbst sind, verletzen die wenigen Menschen, die sich diese Zeit nehmen.“1
Dies sagt der Regisseur Sean Penn in einem Interview mit der ZEIT. Seine verallgemeinerte Aussage bezieht sich auf den Protagonisten seines Films Into the Wild. Er identifiziert sich stark mit der wahren Geschichte des jungen Amerikaners Christopher McCandless, der 1992 alleine in der Wildnis Alaskas stirbt. Auf der Suche nach seinem Glück, fort von der Einengung durch die Gesellschaft, nimmt er sich „die Zeit [...], der zu werden, der er ist“2 und kehrt seiner Familie den Rücken zu. Berührt von Chris' Geschichte macht Sean Penn es sich zur Aufgabe das Leben des Aussteigers und dessen Ideale in einem warmherzigen und ergreifenden Film in die Weltöffentlichkeit zu bringen.
Ich stieß per Zufall auf den Film und war interessiert an der doch eher unpopulären Thematik und an der Geschichte des jungen Mannes. Als ich den Film schließlich sah war ich beeindruckt, zum einen überwältigt von der wunderschönen Natur Amerikas und fasziniert von der Zielstrebigkeit und Überzeugung, die Chris zeigt. Ich hatte mich zu diesem Zeitpunkt bereits für die Balkankriege und den allgegenwärtigen Menschenhandel in Bosnien (in dem Film Whistleblower) als Thema für meine Arbeit entschieden. Jedoch war ich verunsichert, ob ich mich wirklich mit einem derart bedrückenden und negativen Thema auseinander setzen wollte. Als ich Into the Wild in der Zeit meiner Themenentscheidung sah, war ich so ergriffen von dem Gefühl, dass er bei mir hinterließ, dass ich mir sicher war, mich in meiner Arbeit mit diesem Film befassen zu wollen. Ein weiterer Grund war die auffällig gute Kameraarbeit in Into the Wild, die mir besonders auffiel, da wir uns im Kurs während der letzten Monate intensiv mit den filmtechnischen Mitteln beschäftigt hatten. Es lag nach der Wahl des Films nahe, das Thema: Ausbruch aus der Konsumgesellschaft, heraus zu greifen. Nach einer vollständigen Gliederung des Themas begann ich mich mehr und mehr damit auseinander zu setzen und zu recherchieren. Ich realisierte dabei aber schnell, dass beinahe keine Quellen und Informationen zu dem Thema zu finden sind. Unsicher wie ich damit umgehen sollte, sprach ich mit Frau E. und es wurde bald klar, dass wir nach einem neuen Thema jedoch im gleichen Film suchen würden. Sie schlug mir dann „Identität“ als Thema vor und ich war einverstanden, denn der Film behandelt schließlich auch die Auseinandersetzung Chris' mit seiner Persönlichkeit. Ich bemühte mich schnell eine neue Gliederung zu erstellen und war nun wieder motivierter und auch interessiert, da ich keine Vorstellung hatte was sich hinter dem Thema wirklich verbirgt. Wenn ich mir überlegte, was Identität ist, hatte ich verschiedene Gedankenansätze und Vorstellungen im Kopf, konnte mich aber nie auf eine einzige Antwort begrenzen. Diese Problematik zeige ich im zweiten Kapitel meiner Gliederung „Identität“. Am Anfang meiner Arbeit steht die Begründung meiner Themenwahl, sowie eine Inhaltsangabe von Into the Wild, um ein besseres Verständnis zu gewährleisten. Dieses zweite Kapitel setzt sich dann in seinem ersten Abschnitt mit der Problematik der Definition des Identitätsbegriffs auseinander und beleuchtet dann die Begriffe Identitätskrise und Identitätsfindung bzw. Identitätssuche. Darauffolgend setze ich mich damit auseinander, wie gesellschaftliche Normen die Individualität und damit die Identität beeinflussen und erläutere ebenso die Einflüsse der Familie. Beide Bereiche - Gesellschaft und Familie - werde ich am Beispiel des Protagonisten aus dem Film veranschaulichen und auch seine spezifischen Wirkungen zeigen. Das vierte Kapitel bezieht sich auf ein Konzept, auf das ich während der Recherche stieß. Es bietet einen Leitfaden um Chris' Identität mit Hilfe verschiedener Überbegriffe zu erschließen und die Entwicklung seiner Identität zeigen. Dies hilft zu veranschaulichen, wie er sich in seiner Entfremdung von der Gesellschaft wandelt. Im gleichen Kapitel behandle ich des Weiteren die Frage, wie er die Entfaltung seiner Identität fördert, indem er sich von der Gesellschaft entfremdet. Als letztes Kapitel vor dem Fazit erkläre ich den Aufbau des Films, ebenso untersuche ich zwei Szenen auf filmtechnische Mittel in Bezug auf die Darstellung der Natur und das Freiheitsgefühl. Im Fazit werde ich dann das Erarbeitete persönlich bewerten sowie eine Stellungsnahme zum Film nehmen.
Ich möchte in meiner Arbeit zeigen, worauf Identität basiert und mich damit auseinander setzen, wie es Chris möglich ist, durch seine Flucht vor der Gesellschaft in Einklang mit sich Selbst zu kommen.
1.2 Zum Film: Handlung und Charaktere
Für das Verständnis des folgenden theoretischen Teils in Zusammenhang mit dem Film Into The Wild ist es wichtig die Handlung und die Charaktere zu kennen. Deshalb fasse ich zu Beginn meiner Arbeit den Inhalt des Films zusammen.
Unter der Regiearbeit von Sean Penn erschien Into The Wild im Jahr 2007 (Deutschland 2008). Das Drehbuch basiert auf dem gleichnamigen Roman von Jon Krakauer, der die Geschichte des wahren Christopher McCandless schildert, welcher 1992 in Alaska seinen Tod fand.3
Sean Penn hat es sich zur Aufgabe gemacht die Geschichte des jungen Mannes filmisch aufzuarbeiten. Der 22-jährige Christopher Johnson McCandless (Emile Hirsch) stammt aus einem Washingtoner Vorort und schließt im Jahr 1990 sein Studium an der Emory University in Atlanta ab.4 Mit seinen guten Noten ist er der Stolz seiner konservativen Eltern, sie sehen ihn bereits als Jurastudent in Harvard. Doch Chris' Ideale heben sich von denen seiner Eltern ab, er verachtet die US-Politik, den Kapitalismus und die Konsumgesellschaft. Die Lebenslüge seines Vaters (die Existenz seiner zweiten Familie), lässt Chris einen radikalen Schlussstrich zwischen seiner Vergangenheit und seiner Zukunft ziehen. Mit dem Ziel ein Leben abseits der Zivilisation und in Nähe zur Natur zu leben bricht er zu einer 2-jährigen Reise auf. Chris verabschiedet sich weder von seiner geliebten Schwester Carine (Jena Malone), noch von seiner Mutter Billie (Marcia Gay Harden) und seinem Vater Walt (Wiliam Hurt). Vor seinem Aufbruch spendet er all seine Ersparnisse an Oxfam und zerschneidet seinen Pass, Gesundheits- und Bankkarte und verbrennt Familienfotos.
Zu Beginn reist er noch mit seinem Auto, aber bald ist er nur noch zu Fuß und als Tramper durch mehrere Bundesstaaten unterwegs. Die abgebildete Karte zeigt seinen Weg von Atlanta nach Westen über den Colorado River bis nach Mexiko und Richtung Norden nach Fairbanks (Alaska).
Kurz nach seinem Aufbruch gibt er sich den neuen Namen „Alexander Supertramp“. Während seiner Reise schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und schließt zahlreiche Bekanntschaften. Die bedeutendsten sind das Hippie-Pärchen Rainey und Jon5 ; Wayne Westerberg, für den er in South Dakota in einem Getreidesilo arbeitet6 ; Tracy7, eine junge Frau, die sich in ihn verliebt und den Ex-Soldat Ron Franz8, der Chris bei sich aufnimmt und adoptieren will.
Nachdem er fast zwei Jahre gereist ist, verbringt Chris seine letzten Monate in einem ausrangierten Bus (er nennt ihn „Magic Bus“), der in einem Nationalpark in Alaska steht. Er lebt dort abseits der Zivilisation nach seinen Vorstellungen, isoliert aber in Mitten der Natur. Doch die Schneeschmelze lässt den Fluss, den er auf dem Hinweg überquerte, drastisch ansteigen und verhindert seine Rückkehr. Durch mangelnde Erfahrung und Ausrüstung vergiftet er sich durch den irrtümlichen Verzehr einer Giftpflanze.
2 Identität
„Die Würde der eigenen Lebensform“
- Erik H. Erikson (1950) 9
2.1 Die Vielschichtigkeit des Begriffes und dessen Definition
„Ist Identität gleich bedeutend mit Ausdrücken wie „Persönlichkeit“, „Selbstgefühl“, oder „Charakter“? Handelt es sich um den Status, das „Ansehen“ eines Menschen in der Öffentlichkeit, oder ist Identität der Wesenskern, das „Eigentliche“ einer Persönlichkeit hinter ihren sozialen Auftritten und Rollen? Zeigt sich Identität in der Charakterfestigkeit, der Fähigkeit, sich selber in seinen Prinzipien treu zu bleiben, oder geht es um etwas, was man in unterschiedlichen Begegnungen stets neu nach außen „präsentiert“? […] Und wann endet menschliche Identität, in der Psychose, in der Demenz oder im Tod?“10
Das vorangestellte Zitat zeigt die Problematik, die der Begriff „Identität“ aufweist. Verschiedenste Ansätze und Denkweisen stoßen bei Definitionsversuchen aufeinander. Fragestellungen, wie die oben genannten, sind Bestandteil dieser Suche nach einer klaren Bezeichnung für die Identität. Für jedes Individuum definiert sich dieser Ausdruck aus seinem Blickwinkel verschieden, basierend auf der Einstellung zu sich Selbst und zum Leben.
Ich versuche nun im Folgenden - über die allgemeine Übersetzung des Begriffes, in philosophischen, soziologischen und psychologischen Ansätzen - dem Wort „Identität“ eine klare Definition zuzuschreiben.
Der Begriff „Identität“ kommt von dem lateinischen Wort „idem“ und bedeutet „derselbe“ beziehungsweise „dasselbe“.11 Dies stützt eine mögliche Bezeichnung der Identität aus dem Bereich der Philosophie. Seit Aristoteles versteht man darunter „das Phänomen der Selbigkeit, des Sich-selbst-Gleichbleibens eines Gegenstandes, Sachverhaltes oder Begriffes.“12 Abgesehen von dieser möglichen Bezeichnung umfasst der Begriff einen gemeinsamen Bedeutungskern in den Bereichen der Psychologie und Soziologie.13
Der Duden definiert die Identität - im psychologischen Sinne - als die „als "Selbst“ erlebte innere Einheit der Person“.14 Dies entspricht dem Bewusstsein eines Individuums, eine einzigartige, beständige personale Einheit zu sein.15
Aus weiteren Definitionsversuchen geht hervor, „da[ss] Identität, das was jemand „wirklich“ ist, mindestens zwei Komponenten hat: Die Person, für die man sich selbst hält und die Person, für die einen andere halten.“16
Diese beiden Formen der Identität möchte ich im Folgendem genauer beleuchten. Man unterscheidet zwischen der persönlichen Identität und der sozialen Identität: „Die persönliche Identität hebt die Unverwechselbarkeit jeder Einzelperson hervor“.17 Sie nimmt Bezug auf das äußere Erscheinungsbild einer Person, ihren Namen und deren individuellen Kombination und Ausprägung von persönlichen Merkmalen.18 Den wichtigsten Bestandteil der persönlichen Identität „bildet de[r] lebensgeschichtliche[...] Zusammenhang zwischen den Erfahrungen die ein Mensch gemacht hat“19, also „d[ie] biographische[...] Einzigartigkeit des Individuums.“20 Dem gegenüber steht die soziale Identität, darunter versteht man „die Zugehörigkeit des Menschen zu übergeordneten Einheiten, gesellschaftlichen Gruppen und sozialen Rollen (zum Beispiel Geschlecht, Nationalität, soziale Klasse, Beruf).“21 Die soziale Identität setzt sich aus dem Bild zusammen, das die anderen sich von jemandem machen22, gemeint ist damit, „dass die anderen uns eine bestimmte Identität zuschreiben und ein entsprechendes Verhalten von uns erwarten.“23
Nach Erik H. Erikson 24 ist die Identität die reflektierende Balance zwischen der persönlichen Identität und der sozialen Identität. Er bezeichnet sie als die Ich-Identität, die Fähigkeit zu zeigen, wer man ist. Dies bezieht mit ein, „dass man ein persönliches Profil sowohl gegenüber den Normalitätserwartungen der anderen zeigt als auch in der Kontinuität der eigenen Biographie rekonstruiert.“25 „[...] Für die [Mehrheit] […] ist Identität gleichbedeutend mit dem Selbstbild, der Vorstellung, die ein Mensch sich über seine Charakteristika, seine Stärken und Schwächen, seine Herkunft, sozialen Beziehungen, Werte und Lebensziele macht.“26
Das Zitat zeigt das Zusammenspiel zwischen der sozialen Identität und der persönlichen Identität, die im Rahmen der individuellen Situation ihren Ausgleich finden. Somit steuert die Ich-Identität der Person die beiden Komponenten im Bezug auf die soziale Umwelt.27 Bei der Auseinandersetzung mit Eriksons Annahmen stößt man auf sein Verständnis der Ich-Identität im Sinne einer eher subjektiven Emotion.28 Er sieht es als eine „„Ich-bin-Ich-Erfahrung“, das Gefühl, da[ss] [man] eine zusammen-hängende, abgegrenzte Persönlichkeit [ist], im Besitz [s]einer körperlichen und geistigen Kräfte, aktiv und entscheidungsfähig.“ Er beschreibt „das Identitätsgefühl, als die Fähigkeit, «sein Selbst als etwas zu erleben, das Kontinuität besitzt, das 'das Gleiche' bleibt, und dementsprechend handeln zu können»“29. Andererseits sind Eriksons Theorien geprägt von seiner Vorstellung der Identität als ein Prozess, er wendet sich gegen ein statisches Bild von Identität und lehnt somit auch ihre Unveränderbarkeit ab.30 „Identität ist daher einerseits ein zeitlich überdauerndes Konzepts, das sich andererseits aber lebenslang in Entwicklung und Veränderung befindet.“31
Alle angeführten Ansätze und Teildefinitionen führen mich zu Heinz Abels Resümee für eine Definition der Identität, die deutlich auf Eriksons Darstellungen basiert:
„Identität ist das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein, in seinem Handeln eine gewisse Konsequenz zu zeigen und in der Auseinandersetzung mit anderen eine Balance zwischen individuellem Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben.“32
Darin findet sich deutlich das Modell der persönlichen und sozialen Identität, welche in Balance stehen und die Ich-Identität bilden. Man muss jedoch berücksichtigen das dies keine einheitliche Definition darstellen kann. Der Begriff der Identität ist und bleibt umstritten. Das folgende Zitat unterstreicht abschließend die Vielschichtigkeit des Identitätsbegriffes:
„Die[...] Mangellage erklärt sich daraus, da[ss] unter demselben Titel und in einer sachlichen Beziehung zueinander, die sich nur schwer durchschauen lä[ss]t, zahlreiche und sehr verschiedene Probleme abzuhandeln sind. Umgekehrt erklärt sie aber auch den sehr hohen Grad an Dunkelheit und Problemverwirrung, welche gegenwärtig den Gebrauch des Identitätsbegriffes kennzeichnen,- ganz besonders in den Sozialwissenschaften. In den philosophischen Untersuchungen herrscht solche Verwirrung zwar nicht. Sie gehen aber in mehreren gegeneinander abgeschlossenen Diskussionsgängen vor sich. In ihnen zeigt sich vielfältig, da[ss] man mit dem Problembereich als ganzem zwar vertraut ist, da[ss] man sich ihm aber nicht aufgrund einer ausgearbeiteten und allgemein akzeptierten Übersicht orientiert.“33
2.2 Die Identitätskrise
„Das Individuum erlebt Identität als Einheit der Person“.34 Man spricht in diesem Fall von einem intakten Identitätsgefühl, dass durch folgende verschiedene Faktoren im Gleichgewicht gehalten wird: Gesundheit und Attraktivität des Körpers; das Gefühl, in Heimat, Familie, Volk oder Religionsgemeinschaft verwurzelt zu sein; die Anerkennung, die wir in unseren privaten Beziehungen und öffentlichen Rollen erfahren; die Festigkeit unserer Überzeugungen und Werte.35 Diese Balance des Identitätsgefühls kann durch verschiedene Einflüsse gestört werden. Soziale Umbrüche, mangelnde Schulbildung, körperliche Unvollkommenheit, sexuell abnormes Verhalten, gestörte Familienbeziehungen, religiöse Zweifel und die Zugehörigkeit zu einer unterdrückten Minderheit, können die Identität verunsichern.36 Man spricht dann von einer Krise der Identität, definiert als eine „kritische Störung des Gefühls der Identität mit sich selbst“.37 Von einer Identitätskrise Betroffene können Gefühle von Depersonalisation oder auch Derealisation verspüren:38 Man spricht von Depersonalisation, wenn ein subjektiver Fremdheitseindruck im Bezug auf die eigene Person verspürt wird. Der Körper oder Teile des Körpers, Handlungen, Erinnerungen, Wahrnehmung sowie Gefühle und Gedanken werden als unwirklich und fremd eingeschätzt bzw. nicht zugehörig zur eigenen Person erlebt.39 Im Grunde wird hierbei die eigene Person nicht als Einheit erlebt. Dieses Empfinden steht somit direkt gegenüber der Definition der „Identität als Einheit der Person“.40 Derealisation bezeichnet zusätzlich ein zeitweises oder auch dauerhaftes Fremd- und Unwirklichkeitsgefühl in Bezug auf die Umwelt. Die Umgebung (Menschen, Objekte etc.) wirkt fremd, unwirklich und verändert, bis auf einzelne zugeordnete Details.41
Die meisten Menschen durchleben in der Regel einmal eine Form der Identitätskrise, sei es auch nur im kleinen Rahmen. Dies erfordert eine Neuorientierung. Man muss sich selbst klar werden, was man erreichen möchte und welchen Weg man einschlägt, was große oder eher geringere Bedeutung hat, um die Einheit mit sich Selbst wieder herzustellen.
2.3 Identitätssuche und Identitätsfindung
Ich möchte mich im Folgendem vorrangig mit der Suche nach der Identität in der Jugend und in dem Erwachsenenalter beschäftigen. Somit werde ich die psychische Entwicklung der früheren Lebensphasen - beispielsweise nach Freud - vernachlässigen. Deshalb ist es wichtig zu unterscheiden ob es sich um das Finden und Festigen der Identität handelt oder um eine Identitätssuche, beispielsweise nach einer Identitätskrise.
Jeder Mensch stellt sich wohl im Laufe seines Lebens die Frage: „Wer bin ich?“. Vereinfacht man diese Fragestellung, könnte dies wie folgt lauten: „Wie bin ich geworden, was ich bin?“, „Wer will ich sein?“, „Was tue ich?“ und „Wie sehen mich die anderen?“. Die Komposition der persönlichen Antworten auf diese Fragen könnte man als die Identität bezeichnen.42 Es eröffnet sich ein grobes Schema aus persönlichen Merkmalen, Eigenschaften und Perspektiven. Man erkennt hier theoretische Zusammenhänge, mit der bereits erläuterten persönlichen und sozialen Identität, sowie mit dem im folgenden Kapitel 4 aufgeführten Modell der fünf Säulen der Identität. Nach Erikson heißt Identitätsfindung und Identitätssuche, „seinen Platz in der Gesellschaft finden, Rollen übernehmen und verantwortlich ausfüllen, aus all den vielfältigen Beziehungen und Erfahrungen eine eigenständige Weltanschauung und Wertorientierung ableiten.“43 Ebenso vertritt er das Bild der Identitätsfindung unter entwicklungspsychologischer Sicht, aus allen verschiedenen Phasen und Aspekten des Lebens immer wieder die Einheit der Persönlichkeit herzustellen.44 Daraus folgend bedeutet Identitätsfindung, sich nach einer Identitätskrise neu zu orientieren und die Einheit der eigenen Person, in Einklang mit den veränderten Umständen, wieder herzustellen. Für Erikson zeigt sich die Identitätsfindung noch in einer weiteren Komponente. Er versteht darunter ebenfalls „nach innen zu blicken und die eigenen dunklen Seiten als zu sich gehörig zu erkennen und akzeptieren zu lernen.“45 Demnach ist es ein Teil der Identitätsfindung sich auch speziell mit seinen negativen Seiten kennenzulernen.
[...]
1 Zitiert nach: Penn, Sean: Interview: „Niemand nimmt sich Zeit, der zu werden, der er ist“, S.3. http://www.zeit.de/2008/05/Interview-Sean-Penn/seite-3. 02.05.2016.
2 Ebd.
3 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Into_the_Wild, 26.4.2016.
4 Ebd.
5 Anm.: Erste Begegnung in Szene 14.
6 Anm.: Erste Begegnung in Szene 20.
7 Anm.: Erste Begegnung in Szene 41.
8 Anm.: Erste Begegnung in Szene 48.
9 Zitiert nach: Abels, Heinz: Identität, S. 241.
10 Zitiert nach: Conzen, Peter: Erik H. Erikson, S. 54 f.
11 Vgl. Abels, Heinz: Identität, S. 244.
12 Zitiert nach: Conzen, Peter: Erik H. Erikson, S. 55.
13 Vgl. Oerter, Rolf / Montada, Leo: Entwicklungspsychologie, S. 264 .
14 Zitiert nach: http://www.duden.de/rechtschreibung/Identitaet. 30.03.2016.
15 Vgl. http://www.enzyklo.de/Begriff/Identit%C3%A4t. 31.3.2016.
16 Zitiert nach: Oerter, Rolf / Montada, Leo: Entwicklungspsychologie, S.265.
17 Zitiert nach: von Engelhardt, Michael / Zirfas, Jörg (Hrsg.): Schlüsselwerke der Identitätsforschung, S.127.
18 Vgl.. Ebd.,S.127
19 Zitiert nach: Oerter, Rolf / Montada, Leo: Entwicklungspsychologie, S. 265.
20 Zitiert nach: Abels, Heinz: Identität, S. 438.
21 Zitiert nach: von Engelhardt / Michael; Zirfas, Jörg (Hrsg.): Schlüsselwerke der Identitätsforschung, S.127.
22 Vgl. Oerter, Rolf / Montada, Leo: Entwicklungspsychologie, S. 265.
23 Zitiert nach: Abels, Heinz: Identität, S. 348.
24 Anm.: Erik Homburger Erikson (1902-1994): weltbekannter deutsch-amerikanischer Psychoanalytiker (Conzen, Peter: Erik H. Erikson, S. 9).
25 Zitiert nach: Abels, Heinz: Identität, S. 438.
26 Zitiert nach: Conzen, Peter: Erik H. Erikson: S. 56.
27 Vgl. von Engelhardt, Michael / Zirfas, Jörg (Hrsg.): Schlüsselwerke der Identitätsforschung, S.128.
28 Vgl. Conzen, Peter: Erik H. Erikson, S. 56.
29 Zitiert nach: Conzen, Peter: Erik H. Erikson, S. 56.
30 Vgl. Noack, Juliane / Zirfas, Jörg (Hrsg.): Schlüsselwerke der Identitätsforschung, S. 47.
31 Zitiert nach: Steiger, Ruedi: Die 5 Säulen der Identität nach H. G. Petzold. http://www.therapiedschungel.ch/content/5_saeulen_der_identitaet.htm. 31.3.2016.
32 Zitiert nach: Abels, Heinz: Identität, S. 254.
33 Zitiert nach: Heinrich, Dieter: 'Identität' – Begriffe, Probleme, Grenzen, S.133. http://www.philosophie.tu-berlin.de/uploads/media/Henrich_-_Identitaet1.pdf. 29.04.2016.
34 Zitiert nach: Fegert, Jörg: http://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/kinder-jugend-psychiatrie/warnzeichen/adoleszenz-ad oleszenzkrisen/identitaetsentwicklung-und-identitaetskrisen/. 29.03.2016.
35 Vgl. Conzen, Peter: Erik H. Erikson: S, 59.
36 Ebd., S. 59
37 Zitiert nach: Peters, Uwe: Lexikon. Psychiatrie Psychotherapie Medizinische Psychologie, S. 259.
38 Anm.: Im Normalfall nur schwach, in Extremfällen aber auch stärker bis hin zu psychischen Erkrankungen.
39 Vgl.. http://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/glossar/?tx_mksglossary_pi1%5BshowUid%5D=50&cHash=f0a0c5b0d4e28a773d6bd6343f7560ce. 29.3.2016.
40 Zitiert nach: Fegert, Jörg: http://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/kinder-jugend-psychiatrie/warnzeichen/adoleszenz-adoleszenzkrisen/identitaetsentwicklung-und-identitaetskrisen/. 29.03.2016.
41 Vgl. http://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/glossar/?tx_mksglossary_pi1%5BshowUid%5D=51&cHash=bc3c96c71047d6671c5e54e2107bc0f. 30.3.2016.
42 Vgl.Abels, Heinz: Identität, S. 245.
43 Zitiert nach: Conzen, Peter: Erik H. Erikson, S.66.
44 Vgl. Ebd., S. 71.
45 Zitiert nach: Ebd, S. 70.