Bilanztheorie und International Financial Reporting Standards


Diplomarbeit, 2006

71 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Problemstellung

2 Grundlagen der Bilanztheorie
2.1 Erscheinungsformen von Theorien
2.2 Begriff und Wesen der Bilanz
2.3 Begriff und Gegenstand der Bilanztheorie
2.4 Entwicklungsphasen der Bilanztheor
2.5 Systematik der Bilanztheorie

3 Klassische Bilanztheorie
3.1 Statische Bilanztheorie
3.1.1 Statischer Bilanzzweck
3.1.2 Statischer Bilanzinhalt
3.1.3 Statische Bilanzbewertung
3.2 Dynamische Bilanztheorie
3.2.1 Dynamischer Bilanzzweck
3.2.2 Dynamischer Bilanzinhalt
3.2.3 Dynamische Bilanzbewertung
3.3 Organische Bilanztheorie
3.3.1 Organischer Bilanzzweck
3.3.2 Organischer Bilanzinhalt
3.3.3 Organische Bilanzbewertung

4 International Financial Reporting Standards (IFRS) und Klassische Bilanztheorie – Ein Vergleich
4.1 Begriff und System der IFRS
4.2 Konzeptionelle Grundlagen der IFRS
4.2.1 Bilanzzweck der IFRS
4.2.2 Bilanzinhalt der
4.2.3 Bilanzbewertung der IFRS
4.3 Bilanzierung von Vorräten
4.3.1 Bilanzansatz und Bewertung nach IAS 2
4.3.2 Der Niederstwerttest als Ausdruck dynamisch Bilanzierung?
4.4 Bilanzierung von Sachanlagen
4.4.1 Bilanzansatz und Bewertung nach IAS 16
4.4.2 Die Neubewertungsmethode als Ausdruck organischer Bilanzierung?
4.5 Bilanzierung von Rückstellungen
4.5.1 Bilanzansatz und Bewertung nach IAS 37
4.5.2 Geplante Änderungen von IAS 37
4.5.3 Der Rückstellungsansatz als Ausdruck statischer Bilanzierung?
4.6 Kritische Würdigung und Ausblick

5 Thesenförmige Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Grundform der Bilanz im engeren Sinne

Abbildung 2: Einteilung der Bilanztheorien nach Hauck

Abbildung 3: Einteilung der Bilanztheorien nach Heinen

Abbildung 4: Bilanzschema nach Schmalenbach

Abbildung 5: Zusammenstellung der Buchungen

Abbildung 6: Normensystem des

Abbildung 7: Rahmenkonzept: Zweck, Basisannahmen, Primärgrundsätze .

Abbildung 8: Kapitalerhaltungskonzepte im Rahmenkonzept

Abbildung 9: Umfang der Herstellungskosten im Vergleich

Abbildung 10: Vorräte: Beispiel 1a

Abbildung 11: Vorräte: Beispiel 1b

Abbildung 12: Vorräte: Beispiel 1a

Abbildung 13: Sachanlagen: Beispiel

Abbildung 14: Rückstellungsarten im Vergleich

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Problemstellung

Die Globalisierung der Güter- und Kapitalmärkte bewegt viele international tätige Unternehmen dazu, ausländische Kapitalmärkte zur Finanzierung ihrer Geschäfts-aktivitäten in Anspruch zu nehmen. Die Absicht, sich im Ausland das notwendige Kapital zu beschaffen und die Kommunikation mit internationalen Unternehmen, Kunden und Lieferanten zu verbessern, veranlasst viele Unternehmen zur Inter-nationalisierung der Rechnungslegung. Mit Verabschiedung der EU-Verordnung vom 19. Juli 2002[1] sind kapitalmarktorientierte Unternehmen in der Europäischen Union seit 2005 zur Anwendung der internationalen Rechnungslegungsnormen (IFRS) in konsolidierten Abschlüssen verpflichtet. Damit erlangen die IFRS auch hierzulande als Bewertungsmaßstab für die Vermögens- und Gewinnermittlung eine große Bedeutung

Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich in Deutschland die Bilanztheorie zu einer wissenschaftlichen Forschungsdisziplin entwickelt. Nach Moxter informiert die Bilanztheorie darüber, „welchen Sinn und Zweck Vermögens- und Gewinn-ermittlungen haben können und welche Bilanznormen eine sinn- und zweck-adäquate Bilanzierung gewährleisten“.[2] Im Rahmen dieser Diplomarbeit wird zu Beginn die Dogmengeschichte der Bilanztheorie kurz skizziert, bevor dann die klassischen Bilanztheorien ausführlicher dargestellt werden

Der Schwerpunkt dieser Diplomarbeit liegt auf dem Vergleich der internationalen Rechnungslegungsvorschriften (IFRS) mit den klassischen Ansätzen der Bilanz-theorie: der Statik, der Dynamik und der Organik. Ziel dieser Arbeit ist es, den Einfluss der klassischen Bilanztheorien auf das Regelwerk der IFRS aufzuzeigen. Dabei sollen das Rahmenkonzept der IFRS und spezifische Einzelnormen (IAS 2, IAS 16 sowie IAS 37) Gegenstand der Untersuchung sein. Der Leser soll einen Überblick über die bilanztheoretische Ausgestaltung dieser Normen bekommen. Abbildungen und Beispiele fördern das Verständnis der Zusammenhänge

2 Grundlagen der Bilanztheorie

2.1 Erscheinungsformen von Theorien

Theorie kann als Begriff nicht eindeutig festgelegt werden, weil eine Definition je nach zugrunde liegendem Wissenschaftsverständnis des Definierenden oder der wissenschaftlichen Disziplin anders ausfällt. In Abgrenzung zur Praxis kann unter Theorie „die reine Erkenntnis und das systematisch geordnete Wissen ohne Rücksicht auf seine Anwendung und Nutzbarmachung zu bestimmten Zwecken“[3] verstanden werden. Der Theoriebegriff im Sinne Alberts bezeichnet ein wissen-schaftliches Aussagensystem, das Modelle zur Erklärung und Begründung von Erscheinungen für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess liefern soll.[4]

In Anlehnung an Wild sind realwissenschaftliche Theorien und Idealtheorien zu unterscheiden.[5] Realwissenschaftliche Theorien sollen Informationen über tatsächliche Begebenheiten in der Wirklichkeit vermitteln.[6] Gleichwohl sollen sie nicht nur reale Phänomene erklären können, sondern auch wissenschaftlich fest begründete Vorhersagen liefern können.[7] Der realwissenschaftliche Theorietyp wird durch Vergleich mit der Wirklichkeit auf seinen Wahrheitsgehalt hin geprüft.[8] Dagegen können die Idealtheorien als gedankliche Aussagensysteme bezeichnet werden, die vom praktischen Handeln abstrahieren, um „zu einem logisch geschlossenen Modellentwurf für einen Ausschnitt der Realität“[9] zu gelangen. Deshalb erheben sie auch keinen absoluten Wahrheitsanspruch.[10] Idealtheorien sollen nämlich auf Basis getroffener Annahmen denkmögliche und anstrebenswerte Sachverhalte beschreiben und Vermutungen über systematische Zusammenhänge anstellen.[11] Dieser umfänglichen Theorieauffassung soll nun im Weiteren gefolgt werden, da die meisten Bilanztheorien darunter subsumiert werden können

2.2 Begriff und Wesen der Bilanz

Das Wort Bilanz geht aus dem italienischen bilancia (Waage) hervor, das selbst wieder lateinischer Abstammung ist und auf libra bilanx (zweischalige Waage) zurückzuführen ist.[12] Die Bilanz ist demnach eine im Gleichgewicht befindliche zweischalige Waage, welche die Zahlen- und Wertgleichheit beider Bilanzseiten zum Ausdruck bringt.[13]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Begriff Bilanz bezieht sich zunächst auf eine in ausgeglichener Kontoform erfolgende Gegenüberstellung der zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Unternehmen vorhandenen Vermögenswerte und Schulden.[14] Darunter wird die Bilanz im engeren Sinne verstanden, die das finanzielle Unternehmensgeschehen nur unzureichend abzubilden vermag.[15] Daher soll der Auffassung von Moxter gefolgt werden, der die Bilanz in ihrer unmittelbaren Verbindung mit der Gewinn- und Verlustrechnung und anderen Informationsinstrumenten betrachtet.[16] Damit ist der Jahresabschluss das wissenschaftliche Erkenntnisobjekt der Bilanztheorie, der mit der Bilanz im weiteren Sinne gleichgesetzt werden soll.

2.3 Begriff und Gegenstand der Bilanztheorie

Die Bilanztheorie lässt sich allgemein als eine rein auf Erkenntnis gerichtete Theorie auffassen,[17] die bestimmte Erscheinungen auf Basis einer oder mehrerer Hypothesen aus einem Prinzip wissenschaftlich erklärt.[18] Unter der Bilanztheorie werden so alle Versuche verstanden, die vielförmigen Erscheinungen der Bilanz nach einem einheitlichen Prinzip zu beurteilen,[19] um entscheidungsrelevantes Vermögen oder Einkommen zu bestimmen.[20] Nach Fries sind Bilanztheorien „historisch entwickelte Lehrmeinungen über Wesen und Aufgabe der Bilanz, aus denen Regeln für den Aufbau und die Bewertung abgeleitet werden“.[21] Sie „lassen sich deshalb auch als (auf die Bilanz bezogene) Aufgaben-Normen-Systeme“[22] beschreiben. Damit verdankt die Bilanztheorie ihren Namen de facto dem rechnerischen Instrument Bilanz.[23] Die Bilanztheorie erklärt folglich den Sinn und Zweck von Vermögens- und Gewinnermittlungen sowie die Bilanznormen, die eine dem Sinn und Zweck entsprechende Bilanzierung sicherstellen sollen.[24]

Eine endgültige Definition kann von Coenenberg geboten werden, der unter dem Begriff der Bilanztheorien „alle nicht auf bloße Gesetzesauslegung gerichteten Diskussionen über Inhalt und Ausgestaltung des Jahresabschlusses als Instrument der finanziellen Rechnungslegung“[25] zusammenfasst. Insofern bezieht sich die Bilanztheorie also auf die Bilanz im weiteren Sinne und beinhaltet damit auch die Bilanzrechtstheorie, deren Gegenstand der gesetzliche Jahresabschluss ist, also die Bilanz im Rechtssinn.[26] Das Anliegen der Bilanzrechtstheorien ist eine logisch widerspruchsfreie Auslegung der geltenden Rechtsnormen.[27]

In der Ermittlung des Gewinns wird die zentrale Aufgabe der Rechnungslegung gesehen.[28] Daher untersucht die Bilanztheorie auch die Ermittlung und die Zweckmäßigkeit des betrieblichen Gewinns als Grundlage für die Besteuerung.[29] Folgerichtig gehört die Analyse der finanziellen Informationsinteressen und Zielrealisierungsmöglichkeiten zum Gegenstand der Bilanztheorie, die deshalb immer auch Verteilungstheorie ist.[30] Rückle sieht daher die Ermittlung qualitativ hochwertiger Informationen über die Lage des Unternehmens als zweite zentrale Aufgabe der Rechnungslegung an, da die Informationen den internen wie den externen Adressaten als Grundlage für ihre Entscheidungen dienen.[31] Gleichwohl ist auch die Vermögensermittlung von Bedeutung, um zu zeigen, für welche Vermögenswerte und in welcher Höhe die aufgewendeten Mittel (Eigenkapital und Schulden) verwendet worden sind

2.4 Entwicklungsphasen der Bilanztheorie

Die geschichtliche Entwicklung der Bilanztheorie lässt sich in Anlehnung an Schneider in vier Phasen gliedern.[32] Die Phasen beschreiben Blickänderungen in der bilanztheoretischen Diskussion und stimmen im Allgemeinen mit den Änderungen der deutschen Handelsgesetzgebung überein.[33]

Die erste Phase wurde von den Vorschlägen zur Bewertung bestimmt und sah die Höhepunkte der Entwicklung in der „Ordonnance de Commerce“ Ludwigs XIV. (erstes Handelsgesetzbuch der Welt, 1673), in Napoleons „Code de Commerce“ (1807), in den Bewertungsvorschriften für Handelsgesellschaften im Preußischen Landrecht (1794) und im Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die preußischen Staaten (1856).[34] In den alten italienischen Stadtstaaten wurde die Verpflichtung zur Führung von Handelsbüchern erstmals gesetzlich geregelt und von dort in die französischen Vorschriften der „Ordonnance de Commerce“ übernommen.[35] Die „Ordonnance de Commerce“, die maßgeblich von Jacques Savary erarbeitet wurde, sieht auch eine zweijährlich wiederkehrende Inventur vor.[36] In seinem Handbuch „Le Parfait Négociant“ (1675) empfahl Savary in Kommentierung der gesetzlichen Vorschriften eine jährliche Inventur und zur Bewertung die Anwendung des Anschaffungs- und des Niederstwertprinzips.[37] Das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (AHGB) für Preußen (1861) und Österreich (1862) schrieb für alle Kaufleute neben der Führung von Büchern, der Vornahme von jährlichen Inventuren und der Erstellung von Jahresbilanzen auch die Bewertung der Vermögensgegenstände zum beizulegenden Wert verbindlich vor.[38]

Die zweite Entwicklungsphase wurde von der Diskussion über bilanztheoretische Grundsatzfragen bestimmt. Ihren Höhepunkt hatte sie in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen die dynamische und die organische Bilanztheorie entwickelt wurden.[39] Der Beginn der zweiten Phase kann mit dem Inkrafttreten des Aktiengesetzes von 1884 gleichgesetzt werden, in dem das Anschaffungs- und das Niederstwertprinzip zwingend vorgeschrieben wurde.[40] Dem folgte 1886 die erste detaillierte Beschreibung von Bilanzierungsnormen durch Herman Veit Simon, dessen Werk den Beginn der Bilanztheorie als wissenschaftlichen Forschungsbereich bezeichnet.[41] Als Vertreter der älteren Statik war Simon noch stark juristisch orientiert, während jüngere Statiker wie Walter le Coutre und Wilhelm Osbahr eine betriebswirtschaftliche Bilanzinterpretation vertraten.[42] Die Gegenposition zum statischen Bilanzdenken vertrat Eugen Schmalenbach, der 1919 seinen Aufsatz „Grundlagen dynamischer Bilanzlehre“ veröffentlichte und als der Begründer der dynamischen Bilanztheorie gilt.[43] Als Antwort auf die große Inflation zwischen den Jahren von 1920 bis 1923 konzipierte Fritz Schmidt 1929 seine „Organische Tageswertbilanz“, die damit auch das Ende der Phase der klassischen Bilanzdiskussion markiert.[44]

Die dritte Phase begann mit der Aktienrechtsnovelle von 1931. Sie brachte eine für alle Aktiengesellschaften gültige Verpflichtung zur Prüfung der Jahresab-schlüsse und legte für bestimmte Branchen verbindliche Mindestanforderungen für die öffentliche Rechenschaftslegung fest.[45] Während dieser Phase bemühte sich die betriebswirtschaftliche Forschung besonders darum, die bilanztheo-retischen Erkenntnisse für die Bilanzierungspraxis anzuwenden.[46] Als Resultat dieser Bemühungen sind die durch Anregung von Schmalenbach erarbeiteten Grundsätze ordnungsmäßiger Rechnungslegung für jeweils bestimmte Bilanz-positionen hervorzuheben.[47] Auf die bilanztheoretische Diskussion übten auch die Arbeiten von Erich Kosiol, der zum Problem einer Einheitsbilanz und einer Reform des Bilanzrechts Stellung bezog, und Wilhelm Rieger, welcher sich zu den Problemen der Kapitalerhaltung äußerte, nachhaltigen Einfluss aus.[48]

Die vierte Phase bilanztheoretischer Diskussion entwickelte sich in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts und wurde insbesondere durch neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Investitions- und Kapitaltheorie und durch die Verbreitung informationstheoretischen Wissens beeinflusst.[49] Typisch für die neuere Bilanz-diskussion ist eine verstärkte Zukunftsorientierung der Rechenwerke.[50] Insofern ging es zum einen darum, „ob sich Investitions- und Bilanzrechnung miteinander verbinden lassen“ und zum anderen darum, ob sich der Periodengewinn im Sinne der ökonomischen Gewinnkonzeption „als Erfolgsmaß im Rahmen der finanziellen Rechnungslegung besser eignet als der herkömmliche Gewinnbegriff der Bilanzlehre“.[51] Des Weiteren war die Fragestellung von Interesse, ob sich aus Sicht externer Bilanzadressaten die Aussagefähigkeit des Jahresabschlusses durch andere Instrumente der finanziellen Rechenschaftslegung wie zum Beispiel der prospektiven Kapitalflussrechnung von Walther Busse von Colbe oder dem finanzplanorientierten Tableau von Adolf Moxter (beide 1966) verbessern lässt.[52]

2.5 Systematik der Bilanztheorie

Die ersten wissenschaftlichen Ansätze, eine systematische Einteilung der verschiedenen Bilanztheorien vorzunehmen, sind bei Hauck und Lehmann zu finden.[53] Während Hauck ein Ordnungsschema entwickelt hat, dass eine Unter-scheidung zwischen Zwecktheorien und Bewertungstheorien vornimmt,[54] schuf Lehmann ein System, das zwischen formellen und materiellen Bilanztheorien unterscheidet.[55] Den formellen Bilanztheorien wird dabei die Aufgabe zuteil, das Wesen des Bilanzinhalts, also die Bilanzpositionen, zu erklären.[56] Dagegen deutet Lehmann die materiellen Bilanztheorien als Bewertungstheorien, die vom jeweiligen Bilanzzweck abhängen.[57] Die nachfolgende Abbildung zeigt eine Einteilung Haucks über die bis dato entwickelten Bilanztheorien:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Einteilung der Bilanztheorien nach Hauck[58]

Ein allgemein anerkanntes Ordnungsschema der verschiedenen Bilanztheorien existiert de facto nicht,[59] weil jeder Versuch einer systematischen Einteilung dadurch erschwert wird, dass die einzelnen Theorien „meist ganz unter-schiedliche Problemkreise behandeln und selbst bei Behandlung gleichartiger Problemkreise von unterschiedlichen Voraussetzungen“[60] ausgehen. Gleichwohl machte Seicht mit seiner „Theorie der Bilanz“ den Versuch, ein stark gegliedertes Ordnungssystem auszuarbeiten, das alle bisher entwickelten Bilanzkonzeptionen erfassen sollte.[61] In Anlehnung an Lehmann nahm Seicht eine Einteilung in formale und materielle Aufgabenbereiche der Bilanz vor.[62] Dieser Einteilung der Bilanztheorien soll hier nicht gefolgt werden, da sie zu wenig Grundlage für die nachfolgenden Ausführungen bietet

Dennoch soll eine zweckmäßige Einteilung geboten werden, welcher im Rahmen dieser Arbeit gefolgt werden soll. Der Fokus in den nachfolgenden Ausführungen liegt dabei auf der Darstellung der klassischen Bilanztheorien. Die folgende Abbildung zeigt eine Zusammenstellung von Heinen über die in mehr als ein-hundert Jahren entstandenen Bilanzkonzeptionen, die jeweils nach der Zugehörig-keit zu bestimmten Entwicklungsphasen der Bilanztheorie eingeteilt werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Einteilung der Bilanztheorien nach Heinen[63]

3 Klassische Bilanztheorie

3.1 Statische Bilanztheorie

3.1.1 Statischer Bilanzzweck

Als Begründer der Statik gilt Herman Veit Simon,[64] der eine Vielzahl bilanzrecht-licher Einzelnormen erläutert hat, die sich teilweise bis heute im geltenden Recht wiederfinden.[65] Seine Lehre ist Gegenstand der folgenden Ausführungen

Simon nennt drei Zwecke: „Den ersten Zweck, die periodische Gewährung einer Uebersicht über die Vermögenslage, hat die Bilanz des Aktienvereins mit derjenigen eines jeden Kaufmanns gemeinsam“.[66] Nach statischer Anschauung dient die Bilanz also dazu, das Vermögen des Kaufmanns mittels Inventar- und Bilanzaufstellung stichtagsbezogen zu ermitteln.[67] Die jährliche Bilanz stellt eine Vermögensbilanz dar[68] und muss „ihrem Wesen nach als selbständige, auf Grund besonderer Aufnahme und Abschätzung des Vermögens, der Inventur errechnete Vermögensübersicht betrachtet werden“.[69] Simon will das individuelle Kaufmannsvermögen bei Unternehmensfortführung bestimmen.[70] Damit unter-scheidet sich seine Bilanzlehre von der damals weit verbreiteten Ansicht der Zerschlagungsstatiker, die von einer fiktiven Konkurslage des Unternehmens ausgehen und das Bilanzvermögen als Gläubigerzugriffsvermögen auffassen.[71]

„Die zweite Bedeutung der Bilanz liegt darin, daß sie Gewinn und Verlust klarstellt“ und dass bei Gesellschaftsverhältnissen „durch sie festgestellt wird, ob, eventuell welcher Gewinn unter die Beteiligten vertheilt werden kann“.[72] Folglich dient die Aufstellung der Vermögensbilanz auch der Ermittlung eines verteilungsfähigen Gewinns, der statisch als Vermögenszuwachs definiert wird.[73]

„Die dritte Bedeutung der Bilanz liegt darin, daß sie in Gemeinschaft mit der Gewinn- und Verlustrechnung und dem Geschäftsbericht die Grundlage für die Rechnungslegung an die Aktionäre bildet“.[74] Simon begreift die Bilanz unter rechtlichen Gesichtspunkten damit auch als ein Instrument zum Zwecke der Rechenschaftslegung.[75]

3.1.2 Statischer Bilanzinhalt

Die entscheidende Bilanzaufgabe sieht Simon darin, den Stand des Vermögens am Bilanzstichtag darzustellen.[76] Zu diesem Zweck müssen vor allem die einzelnen Vermögensobjekte in der Bilanz aufgeführt werden.[77] Simon will das Reinvermögen, dass sich als Summe aus den einzeln bewerteten Vermögens-objekten vermindert um die Schulden zusammensetzt, bilanziell ermitteln.[78] Das Fortführungsvermögen drückt sich dabei im Ertragswert des Unternehmens aus, der den Wert des ganzen Unternehmens darstellt.[79] Zu den Vermögens-gegenständen zählen damit generell alle Objekte des Fortführungsvermögens, die einen positiven Ertragswertbeitrag leisten, während die Schulden prinzipiell als negative Ertragswertkomponenten zu interpretieren sind.[80]

Simon zufolge gehören zum Vermögen die beweglichen und unbeweglichen körperlichen Gegenstände, die Forderungen und die unkörperlichen Gegenstände, welche Rechte, sofern sie gegen Aufwendungen erworben wurden, und Nicht-rechte, sofern sie gegen Entgelt von Dritten erworben wurden, umfassen.[81] Er bezeichnet freilich nicht alle Objekte, die der Fortführung des Unternehmens dienen, als Vermögen, sondern gesteht ein, dass die Aktivierung von Ausgaben für Reklamefeldzüge oder von selbsterstellten immateriellen Wirtschaftsgütern wie z. B. ein selbst erfundenes Fabrikgeheimnis in der Bilanz nicht zulässig ist.[82] Dies macht deutlich, dass Simon bei der Aktivierung Vereinfachungen und Objektivierungen für geboten hält, denn durch den „Erwerb hat das Gut seine Eigenschaft als verkehrsfähiges Rechtsobjekt bewährt und dadurch einen Titel zur Einstellung in die Bilanz erlangt“.[83]

Dem Objektivierungsgedanken folgt Simon auch auf der Passivseite der Bilanz, denn er betrachtet als Passiva, vom Eigenkapital abgesehen, im Grunde nur Schulden, die aus einer rechtlichen Verpflichtung erwachsen.[84] Verluste, welche aus schwebenden Geschäften drohen, sind ebenfalls passivierungspflichtig.[85] Das Eigenkapital unterteilt Simon in „Aktienkapitalkonto“ und „Reservefonds“.[86] Der „Reservefonds“ bezeichnet denjenigen Teil des Aktienkapitals, der über das ursprünglich eingesetzte Kapital hinaus beim Unternehmen erhalten bleiben muss, und der aus den erzielten Gewinnen einbehalten wird.[87] Zum „Reservefonds“ gehören u. a. der „Pensionsfonds“ und der „Selbstversicherungsfonds“, welcher bestimmte Risiken durch Eigenvorsorge abdeckt.[88] Beide stellen jeweils keinen Schuldposten des Unternehmens dar[89], und insoweit besteht für sie auch kein Passivierungszwang.[90]

Simon will auch Rechnungsabgrenzungsposten, die er als „Antizipationskonten“ oder „transitorische Rechnungen“ bezeichnet, in der Bilanz angesetzt wissen.[91] Aktive Rechnungsabgrenzungsposten sind für vor dem Bilanzstichtag getätigte Ausgaben, die kommenden Rechnungsperioden zuzurechnen sind und für die ein rechtlich gesicherter Leistungsanspruch des Bilanzierenden besteht, zu bilden.[92] Dagegen sind passive Rechnungsabgrenzungsposten für vor dem Bilanzstichtag erfolgte Einnahmen zu bilanzieren, wenn sie späteren Rechnungsperioden zuzurechnen sind und eine Verpflichtung zur Gegenleistung darstellen.[93]

3.1.3 Statische Bilanzbewertung

Simon bestimmt den „individuellen Wert“ als den für die Bilanz maßgeblichen Wert und macht deutlich, dass dieser der „besondere Gebrauchs- oder Verkehrs-wert“ ist, den die Vermögensgegenstände für ein bestimmtes Subjekt besitzen.[94] Damit spricht er sich gegen die damals herrschende Rechtsauffassung des ROHG aus, die den Ansatz der Bilanzposten zum allgemeinen Verkehrswert verlangt.[95]

Simon unterscheidet zwischen Betriebsgegenständen, die zum Gebrauch gedacht sind (Anlagevermögen), und Veräußerungsgegenständen, die dem Geschäfts-betrieb nur vorübergehend dienen sollen und zur Weiterveräußerung gedacht sind (Umlaufvermögen), sowie Forderungen und Schulden.[96] Simon will das Umlauf-vermögen zum besonderen (subjektiven) Veräußerungspreis bilanzieren, denn „für die Gesellschaft kann nur derjenige Betrag maßgebend sein, den sie erzielen kann“.[97] Damit sind unrealisierte, also umsatzunabhängige Gewinne erzielbar.[98] Der Bewertungsmaßstab unfertiger Erzeugnisse „ist grundsätzlich der Verkaufs-preis der Fertigprodukte abzüglich der noch zur Herstellung notwendigen Kosten“.[99] Die Herstellungskosten umfassen jedoch nur die der Herstellung direkt zurechenbaren Kosten (Einzelkosten).[100]

Das Anlagevermögen ist zum besonderen Betriebswert (Gebrauchswert), den Simon auf der Basis des Anschaffungspreises abzüglich des Abschreibungs-betrags für Abnutzung und Entwertung bestimmt, zu bilanzieren.[101] Planmäßige Abschreibungen sind bei nicht mehr neuwertigen Gegenständen generell linear vorzunehmen.[102] Außerordentliche Abschreibungen sind notwendig, sofern in früheren Rechnungsperioden zu niedrig abgeschrieben wurde.[103] Zuschreibungen bei Betriebsgegenständen, welche auf Reparaturen, Verbesserungen und Erweiterungen beruhen, sind zu aktivieren.[104] Allerdings sind Wertaufholungen, die zuvor als Aufwand erfasste Abschreibungen korrigieren, nicht zulässig.[105] Den für die Bewertung einer Schuld maßgebenden Wert bezeichnet Simon als „Nominalbetrag“ (Nennwert), wenngleich dieser regelmäßig nicht dem wirklichen Wert entspricht.[106] Liegt der wirkliche Wert über dem Nennwert, wird dies durch Passivierung eines Agios ausgeglichen; unterschreitet dagegen der wirkliche Wert den Nennwert, bedarf es der Aktivierung eines Disagios.

[...]


[1] Vgl. die Verordnung (EG) Nr. 1606/ 2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.7. 2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, Amtsblatt der EG Nr. L 243 vom 11.9.2002

[2] Moxter (1984), S. 1

[3] Hoffmeister (1944), S. 689

[4] Vgl. Albert (1976), S. 91

[5] Vgl. Wild (1976), Sp. 3892

[6] Vgl. Heinen (1986), S. 32

[7] Vgl. Wangemann (1996), S. 521

[8] Vgl. Wangemann (1996), S. 521

[9] Heinen (1986), S. 32

[10] Vgl. Wild (1976), Sp. 3904

[11] Vgl. Wangemann (1996), S. 522

[12] Vgl. Gerstner (1933), S. 3

[13] Vgl. Buchner (1974), Sp. 859; Zimmermann/ Fries/ Hoch (2003), S. 9

[14] Vgl. Gerstner (1933), S. 9; Rückle (1993), Sp. 249

[15] Vgl. Moxter (1988), S. 671

[16] Vgl. Moxter (1988), S. 671

[17] Vgl. Wöhe (1997), S. 51

[18] Vgl. Lehmann (1963), S. 13; insbesondere die Ausführungen in Abschnitt 2.1. Insofern kann die abschwächende Bezeichnung Bilanzauffassung, die von einzelnen Autoren in der Bilanzliteratur verwendet wird und dem Begriff der Bilanztheorie gegenübergestellt wird, entfallen. Vgl. hierzu Heinen (1986), S. 32

[19] Vgl. Schweitzer (1974), Sp. 929; Knoll (1964), S. 350

[20] Vgl. Ballwieser (1982), S. 774

[21] Fries (1988), S. 652

[22] Moxter (1993), Sp. 500

[23] Vgl. Lehmann (1955), S. 537

[24] Vgl. Moxter (1984), S. 1

[25] Coenenberg (1998), S. 125

[26] Vgl. Wangemann (1996), S. 522

[27] Vgl. Ballwieser (1993), S. 108

[28] Vgl. Moxter (1982), S. 3

[29] Vgl. Rückle (1993), Sp. 251

[30] Vgl. Schneider (1987), S. 405-406; Moxter (1988), S. 671

[31] Vgl. Rückle (1993), Sp. 251

[32] Vgl. Schneider (1974a), S. 158-164

[33] Vgl. Schneider (1974a), S. 158

[34] Vgl. Schneider (1974a), S. 161

[35] Vgl. Barth (1953), S. 65; Seicht (1970), S. 28

[36] Vgl. ter Vehn (1929), S.16

[37] Vgl. ter Vehn (1929), S. 17-18; Schneider (1974a), S. 159

[38] Vgl. Seicht (1970), S. 32

[39] Vgl. Coenenberg (2005), S. 1161

[40] Vgl. Seicht (1982), S. 10; Schneider (1974a), S. 161

[41] Vgl. Schneider (1974a), S. 161

[42] Vgl. Moxter (1988), S. 674

[43] Vgl. Egner (1974), S. 86

[44] Vgl. Egger (1993), Sp. 1474

[45] Vgl. Schneider (1974a), S. 162

[46] Vgl. Coenenberg (2005), S. 1161

[47] Vgl. Schneider (1974a), S. 162; Coenenberg (2005), S. 1161

[48] Vgl. Schneider (1974a), S. 162

[49] Vgl. Egner (1974), S. 86

[50] Vgl. Küting (1981), S. 268

[51] Coenenberg (2005), S. 1162 [beide Zitate]

[52] Vgl. Schneider (1974a), S. 163. In jüngerer Zeit werden auch Fragen der Prognoseeignung und der Kapitalmarktwirkungen bestimmter Rechnungslegungsinformationen diskutiert

[53] Vgl. Seicht (1970), S. 44

[54] Vgl. Hauck (1933), S. 57

[55] Vgl. Lehmann (1955), S. 538

[56] Vgl. Schneider (1963), S. 458

[57] Vgl. Lehmann (1955), S. 674

[58] In Anlehnung an Seicht (1970), S. 46

[59] Vgl. Heinen (1986), S. 36

[60] Seicht (1970), S. 51

[61] Vgl. Heinen (1986), S. 34

[62] Vgl. Seicht (1970), S. 51; Seicht (1982), S. 12-13

[63] In Anlehnung an Wöhe (2005), S. 1075

[64] Simon war als Rechtsanwalt tätig und sein Werk „Die Bilanzen der Aktiengesellschaften und der Kommanditgesellschaften auf Aktien“ erschien 1886 in erster Auflage, die hier zitiert wird

[65] Vgl. Moxter (1984), S. 5

[66] Simon (1886), S. 2

[67] Vgl. Simon (1886), S. 2 und S. 67

[68] Vgl. Moxter (1984), S. 5

[69] Kovero (1912), S. 29-30

[70] Vgl. Moxter (1993a), Sp. 1855

[71] Vgl. Moxter (1984), S. 6-7

[72] Simon (1886), S. 3-4 [beide Zitate]

[73] Vgl. Moxter (1984), S. 5

[74] Simon (1886), S. 1

[75] Vgl. Schneider (1974), S. 288

[76] Vgl. Simon (1886), S. 67

[77] Vgl. Simon (1886), S. 67

[78] Vgl. Moxter (1979), S. 433

[79] Vgl. Moxter (1984), S. 7

[80] Vgl. Moxter (1984), S. 7 und S. 11

[81] Vgl. Simon (1886), S. 101

[82] Vgl. Simon (1886), S. 99-100

[83] Simon (1886), S. 99

[84] Vgl. Baetge/ Kirsch/ Thiele (2005), S. 14

[85] Vgl. Schneider (1974), S. 289

[86] Vgl. Simon (1886), S. 121 und S. 127

[87] Vgl. Simon (1886), S. 79

[88] Vgl. Simon (1886), S. 140-141

[89] Vgl. Simon (1886), S. 141 und S. 142

[90] Vgl. Moxter (1984), S. 13

[91] Vgl. Simon (1886), S. 147 und S. 148

[92] Vgl. Simon (1886), S. 149

[93] Vgl. Simon (1886), S. 149

[94] Vgl. Simon (1886), S. 161

[95] Vgl. Moxter (1984), S. 15; Moxter (1993a), Sp. 1854

[96] Vgl. Simon (1886), S. 163-164

[97] Simon (1886), S. 185 [i. O. teilweise hervorgehoben]

[98] Voraussetzung für den Ausweis unrealisierter Gewinne ist die Bilanzierung der Veräußerungs- gegenstände über ihrem Anschaffungswert. Simon verneint also das Realisationsprinzip

[99] Gutenberg (1926), S. 508

[100] Vgl. Simon (1886), S. 177

[101] Vgl. Simon (1886), S. 209-210

[102] Vgl. Simon (1886), S. 198

[103] Vgl. Moxter (1984), S. 22

[104] Vgl. Simon (1886), S. 204

[105] Vgl. Moxter (1984), S. 22

[106] Vgl. Simon (1886), S. 219

Ende der Leseprobe aus 71 Seiten

Details

Titel
Bilanztheorie und International Financial Reporting Standards
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Professur: BWL, insb. Wirtschaftsprüfung und Corporate Governance)
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
71
Katalognummer
V54186
ISBN (eBook)
9783638494472
ISBN (Buch)
9783638935135
Dateigröße
813 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diplomstudiengang Betriebswirtschaftslehre
Schlagworte
Bilanztheorie, International, Financial, Reporting, Standards
Arbeit zitieren
Roman Damm (Autor:in), 2006, Bilanztheorie und International Financial Reporting Standards, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/54186

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