Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Zielsetzung der Hausarbeit
2. Das Mögliche und das Wirkliche nach Bergson im filmischen Kontext
3. Found Footage Filme als Reflexion der Theorie Bergsons
4. Bruce Conners A Movie als Beispiel
4.1 Hintergrundinformationen zum Film
4.2 Mikrokosmische Analyse
4.2.1 Formale Aspekte
4.2.2 Inhaltliche Beobachtungen
4.3 Makrokosmische Bezüge
5. Fazit
6. Bibliographie
7. Filmographie
1. Zielsetzung der Hausarbeit
Ein künstlerisches Werk wird oft als Realisierung oder Verwirklichung einer Idee bezeichnet, als Erfindung, durch welche bereits im Raum stehende Möglichkeiten umgesetzt werden. Zuerst existiert irgendwo im Abstrakten eine Möglichkeit, die schließlich ins Konkrete verwirklicht wird – so die weit verbreitete Annahme. Doch wenn bereits die Möglichkeiten von vornherein als gegeben erscheinen – weshalb wird die Menschheit dennoch so oft vom Wesen ihrer Verwirklichung überrascht? Weshalb ist es uns nicht schon längst möglich, die Zukunft vorherzusehen und weshalb begreifen wir oft erst im Nachhinein, ob wir tatsächlich richtig oder falsch gehandelt haben?
Der französische Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur Henri Bergson widmet sich in einem Vortrag aus dem Jahr 1930 genau dieser Problematik der Relation von Möglichem und Wirklichem bzw. Verwirklichung und versucht damit, einen Irrtum in der gängigen Auffassung über dieses Verhältnis offenzulegen. Auch wenn sich Bergson selbst sehr kritisch gegenüber dem filmischen Medium äußerte und durchaus keinen Status als Filmtheoretiker anstrebte, stellen sich seine Überlegungen vor dem Hintergrund der Entstehung und Verknüpfung kinematographischer Bilder bei näherer Beschäftigung mit diesem Phänomen als Bereicherung, wenn nicht sogar unabdingbare Reflexionen heraus (vgl. Totaro 2001). 1
Dieser Hausarbeit liegt im Allgemeinen die Frage zugrunde, wie sich die Konstituierung filmischer Bilder mit Bergsons Gedanken zu Möglichkeit und Wirklichkeit erklären lässt und warum seine Theorie so wichtig ist, um die Korrelation dieser Bilder womöglich erst richtig zu begreifen. Um diese Untersuchung an einem Filmbeispiel zu konkretisieren, soll A Movie (Bruce Conner, USA 1958) als Paradigma für das Phänomen der Found Footage Filme dienen, deren Beschaffenheit die Problematik der Entstehung von Filmbildern und ihrer Relation zu Möglichkeit und Wirklichkeit bereits impliziert. Sicherlich lässt sich das breite Spektrum der Filme, die mit gefundenem Material arbeiten, nicht auf einen Film herunterbrechen, jedoch markiert A Movie einen zentralen und richtungsweisenden Moment in der Geschichte avantgardistischer Found Footage Filme. Conners Werk bietet als eines der ersten und filmgeschichtlich bedeutendsten, welches mit Found Footage Material arbeitet, einen geeigneten Ausgangspunkt für die Untersuchung dieser filmischen Verknüpfungen. Auch aus aktuellem Anlass lohnt es sich, einen genaueren Blick auf das Werk zu werfen, da das New Yorker Museum of Modern Art dieses Jahr seinem gesamten Œuvre eine Retrospektive widmet (vgl. Hoberman 2016).
Die tiefer gehende Fragestellung lautet demnach, inwiefern der Film – und besonders seine 1 Für genauere Ausführungen über Bergson und seine Einstellung zum Film siehe Totaro 2001. spezifische Verwendung von Found Footage – den komplexen Prozess der Konstituierung filmischer Bilder im Kontext der Möglichkeit und Wirklichkeit nach Bergson in sich widerspiegelt und warum es sich dabei nicht um eine Kopie oder simple Neuzusammenstellung bereits existenten und verwendeten Bildmaterials, sondern um ein – mit Bergsons Worten – unvorhersehbares Neues handelt. Dazu sollen zunächst die wichtigsten Erkenntnisse aus Bergsons Vortrag über Möglichkeit und Wirklichkeit, welcher ein Kapitel des Sammelbandes Denken und schöpferisches Werden einnimmt, zusammengefasst und in Bezug auf das Medium Film sowie auf essenzielle Ansichten seiner Philosophie – beispielsweise den Begriff der Dauer – erläutert bzw. interpretiert werden. Im Folgenden soll der Begriff des Found Footage Films expliziert und mit der zuvor dargelegten Theorie Bergsons verbunden und weitergedacht werden. Der nächste Punkt widmet sich im Konkreten dem vorliegenden Filmbeispiel, wobei sich die Analyse sowohl auf mikrokosmische als auch auf makrokosmische Aspekte der Verknüpfung von filmischen Bildern vor dem Hintergrund der Bergsonschen These über Möglichkeit und Wirklichkeit konzentriert.
2. Das Mögliche und das Wirkliche nach Bergson im filmischen Kontext
Die „ununterbrochene Schöpfung von unvorhersehbar Neuem, die sich im Universum fortzusetzen scheint“ (Bergson 2000: 110) lässt sich als Ausgangsthese für Bergsons Gedanken verstehen, da dieser Satz sowohl seine Auffassungen über Möglichkeit und Wirklichkeit, als auch über Zeit und Dauer als fundamentale Prinzipien seiner Philosophie inkludiert. Zunächst konstatiert Bergson, dass man vor der Verwirklichung einer Sache – beispielsweise einer bereits erwarteten Alltagssituation – jede einzelne seiner Handlungen im Detail überlegen, planen und alle denkbaren Szenarien im Kopf durchspielen kann und diese Situation im Moment ihrer Ausführung dennoch immer von den Erwartungen abweicht. Das bedeutet, ihre Verwirklichung „bringt ein unvorhersehbares gewisses Etwas mit sich, das alles verändert“ (Bergson 2000: 110) und ist in ihrer Erscheinungsweise einzigartig. In Bezug auf den Konsum und das Schaffen von Filmen lassen sich hier mehrere Interpretationsansätze erkennen, die diesem Gedanken entsprechen. Zum einen lässt sich mit dem Terminus der Verwirklichung die Realisation des Films durch den Regisseur assoziieren. Auch hier ist es naheliegend, dass – egal, wie konkret das Drehbuch, die Regieanweisungen und generell die Vorstellungen des Filmemachers über sein Werk waren – das Ergebnis letztendlich doch zum Teil ungeahnte Züge aufweist. Allein die Tatsache, dass bereits beim Dreh des Films immer unvorhersehbare Problematiken auftreten, die die Filmschaffenden zur Improvisation zwingen, unterstreicht diesen Umstand. Zum anderen lässt sich der Gedanke des unvorhersehbaren, gewissen Etwas auch mit der Perspektive des Zuschauers vereinen, zumal beispielsweise Suspension oder unvorhergesehene Wendungen beliebte spannungsfördernde Methoden sind und damit den Unterhaltungswert für den Filmkonsumenten deutlich steigern. Viele Filme spielen also bewusst mit dieser Eigenschaft, da der weit verbreiteten Meinung zufolge Voraussetzung eines guten Films seine Unvorhersehbarkeit ist. Abgesehen von dieser bewussten Beeinflussung des Zuschauers durch die intradiegetischen Ereignisse lässt sich jedoch auch im Allgemeinen ein Bezug zu Bergsons Ansicht herstellen. Denn jede einzelne Filmsichtung ist ebenso einzigartig und eigentümlich, da unzählige Faktoren die Wirkung des Films auf den Zuschauer beeinflussen, wie beispielsweise Vorkenntnisse über den Film und seine Thematik, das Umfeld, in dem der Film gesehen wird, die Lebenserfahrung, die momentane Gefühlslage oder sogar die jeweilige Tageszeit. Abhängig von diesen Einflüssen wird der Film von jeder Person und zu jedem Zeitpunkt anders wahrgenommen, was bedeutet, dass ihn der Zuschauer im Moment der Sichtung unwillkürlich interpretiert und so für sich mit verwirklicht.
Was den Zusammenhang mit der Zeitauffassung Bergsons betrifft, lässt sich nach dem Philosophen (2000: 112) prinzipiell das Konzept der Zeit mit Schöpfung gleichsetzen. Das bedeutet, dass sich das Phänomen der Zeit in dieser unaufhörlichen Schöpfung im Universum manifestiert, da es „verhindert, daß alles auf einmal gegeben ist“ (Bergson 2000: 112). Wenn Schöpfung aber erst mit der Zeit erfolgt, macht die Idee der Determiniertheit für die organische Welt keinen Sinn (vgl. Bergson 2000: 112 f.). Bereits in dieser Zeitauffassung zeichnet sich also ab, dass die allgemeine Vorstellung von Kausalität im Bergsonschen Modell irrational ist. Lediglich die anorganische Materie charakterisiere sich durch sich wiederholende Strukturen, die „theoretisch im Voraus zu berechnen sind“ (Bergson 2000: 112). So ist auch die Dauer grundsätzlich nichts anderes als „ein ungeteiltes Wachstum als Ganzes, fortschreitende Erfindung“ (Bergson 2000: 115) und gekoppelt an die subjektive Wahrnehmung durch das Bewusstsein des Menschen (vgl. Bergson 2000: 111 f.). Ohne Bewusstsein gibt es folglich keine Dauer. Im konkreten Bezug auf die Schöpfung eines Kunstwerks existiert Determination laut Bergson ebenfalls nur in der Form von Wiederholung, das heißt, die Intelligenz des Künstlers bei der Bildung eines Werks kann sich lediglich auf das beziehen, „was sein Werk mit anderen gemeinsam hat“ (Bergson 2000: 113). Das Neue hingegen kommt erst bei der Verwirklichung zum Vorschein, indem es vom Wiederholten abweicht, was auch im Laufe dieser Arbeit eine wichtige Beobachtung sein wird. Die Ganzheit unserer Existenz, das 'Absolute', begreift Bergson also als Verbindung von der Intelligenz einerseits, die wiederholbare Strukturen des Stabilen und Regelmäßigen erfasst, und vom Bewusstsein andererseits, das die unaufhörliche Bildung von Neuem wahrnimmt, ohne es aber steuern zu können (vgl. Bergson 2000: 114 f.). Diese heterogene, innere Wahrnehmung durch das Bewusstsein des Ich ist das wahre Erleben von Dauer. Das bedeutet, dass sich Bergson strikt gegen eine homogene, räumliche Auffassung der Zeit wendet, welche die vermeintliche Messbarkeit der Dauer als eine Art Strecke oder Zeitstrahl suggeriert, was lediglich für anorganische, geschlossene Systeme gelten kann (vgl. Bockrath 2014: 88–91). Zu beachten ist demzufolge nach Bergson, dass die Schöpfung kein linearer Reifungsprozess von etwas ist, das an die Stelle eines 'Nichts' tritt, sondern ein kontinuierlicher Prozess einer Ausdehnung, bei dem ein 'Neues' an die Stelle von etwas 'Altem' bzw. Anderem tritt. Dieser Gedanke ist essenziell, da er die geläufige Idee einer Leere kritisiert (vgl. Bergson 2000: 115 f.). Damit geht laut Bergson ein zweiter Irrtum einher, bei dem es sich um die Vorstellung der 'Unordnung' (des Universums) handelt, welche – bezogen auf die Schöpfung einer Sache – keinen Sinn macht. „Die Unordnung ist ganz einfach die Ordnung, die wir nicht suchen“ (Bergson 2000: 118), genauso, wie die Leere eigentlich nur die Existenz von etwas ist, dem wir keine Bedeutung beimessen. Genauso wenig, wie die 'Aufhebung' eines Seins ein 'Nichts' bedeutet, sondern die Substitution mit etwas anderem, bedeutet die 'Aufhebung' einer Ordnung gleich Unordnung, sondern die Substitution mit einer anderen Ordnung (vgl. Bergson 2000: 116–118). Die Erkenntnis dieser Problematik ist der Schlüssel zu Bergsons weiterer Argumentation:
Die beiden Illusionen […] sind in Wirklichkeit nur eine. Sie bestehen in dem Glauben, daß in der Idee des Leeren weniger enthalten wäre als in der des Vollen, weniger im Begriff der Unordnung als in dem der Ordnung. Tatsächlich aber steckt in den Ideen der Unordnung und des Nichts […] mehr als in denen der Ordnung und der Existenz […]. (Bergson 2000: 119).
Auch hierfür lässt sich ein Beispiel aus dem Bereich des Films finden. Oft werden non lineare Filme, die keiner offensichtlichen – an die Gewohnheiten des Durchschnitts-Kinogängers angepassten – narrativen Logik folgen, als 'chaotisch' oder 'wirr' bezeichnet und entsprächen somit der gängigen Auffassung von Unordnung. Dennoch sind es zweifelsfrei vor allem die nicht-linearen und schwer klassifizierbaren Filme, die am meisten Raum für Interpretationen offenlassen, was ebenfalls eher einem mehr als einem weniger entspricht.
Diese Beobachtung des Philosophen lässt sich nun vor der Ausgangsbeobachtung des unvorhersehbaren Neuen mit dem Problem der Möglichkeit und Wirklichkeit und dem damit verbundenen Irrglauben weiterdenken, dass das Wirkliche gegenüber dem Möglichen mehr ist „und daß aus diesem Grunde die Möglichkeit der Dinge ihrer Existenz vorausgeht. Sie seien deshalb im Voraus vorstellbar; sie könnten vor ihrer Verwirklichung gedacht werden. Das Umgekehrte ist jedoch die Wahrheit“ (Bergson 2000: 119).2 Das bedeutet gleichsam, sie können erst nach ihrer 2 Zu beachten ist, dass es sich hier nicht um den Trivialgebrauch des Terminus möglich im Sinne der Bedingung einer Verwirklichung erfasst werden und diese Verwirklichung ist eigentlich weniger als die im Nachhinein ersichtlichen Möglichkeiten, da diese gewissermaßen die Summe der Wirklichkeit und eines Rückwärtsdenkens sind. Die Kalkulierbarkeit von Möglichkeiten ist somit eine Grenze der menschlichen Intelligenz.
All diese Aspekte scheinen auf die menschliche Neigung zur Linearität ihrer Weltsicht zurückzuführen: Auf ein 'weniger' folge demnach ein 'mehr', auf eine Möglichkeit ihre Verwirklichung, auf die Ursache die Wirkung und auf die Vergangenheit die Zukunft. Bergson zeigt jedoch durch seine Theorie, dass diese Denkstruktur, die der Mensch womöglich intuitiv zur gedanklichen Vereinfachung der Lebens- und Weltanschauung nutzt, in Wirklichkeit eine falsche Sichtweise darstellt, die zahlreiche Problematiken in sich birgt (vgl. Bergson 2000: 119).
Er führt seine Erläuterung weiter aus, indem er konstatiert, „[w]enn ich wüßte, was das große dramatische Werk von morgen sein wird, so würde ich es selbst schaffen“ (Bergson 2000: 120). Vor seiner Verwirklichung ist ein Kunstwerk deshalb nicht möglich, man könnte lediglich sagen, „daß es einmal möglich gewesen sein wird “ (Bergson 2000: 120). Diese Aussage verdeutlicht ebenfalls, dass der Möglichkeit-Wirklichkeit-Diskurs direkt mit der Problematik einer linearen Zeitauffassung verknüpft ist. Bergson verwendet hier explizit das Futur II, um von einer Möglichkeit zu sprechen, die sich erst nach ihrer Verwirklichung offenbart. Interessant ist, dass es sich hierbei um eine Zeitform handelt, die als unnötig bzw. sehr selten stigmatisiert wird, hier jedoch als einzig korrekte Zeitform erscheint, um den vermeintlich banalen Terminus der Möglichkeit als eine noch nicht greifbare Sache zu beschreiben, die sich erst in der Zukunft retrospektiv erkennen lässt. Durch diese Umkehrung wird nicht nur die geläufige Vergangenheit-Zukunft-Kausalität dementiert, sondern es geschieht auch gleichzeitig eine allgemeine Relativierung zeitlicher Beziehungen, indem die Beeinflussung der Vergangenheit durch die Zukunft in diesem Gedankenmodell als in gewisser Weise gegeben erscheint: „So vollzieht sich nach rückwärts eine beständige Umbildung der Vergangenheit durch die Gegenwart, der Ursache durch die Wirkung“ (Bergson 2000: 123), da sich nicht nur verborgene Möglichkeiten rückblickend offenbaren, sondern oft eine ganze Reihe von Ereignissen in unserer Vergangenheit in einem anderen Licht erscheint bzw. erst bewusst wahrgenommen wird. Dennoch handelt es sich hier nicht um ein Theorem der Veränderung von Wirklichkeiten in der Vergangenheit im Sinne einer Zeitreise beispielsweise, weshalb auch der Vergleich mit Filmen wie Back to the Future (Robert Zemeckis, USA 1985) in diesem Kontext nur Sache für ihre Umsetzung ohne unüberwindbare Hindernisse handelt. Es geht ganz klar um den Begriff der Möglichkeit als bedeutungsgeladene Potenzialität, die der weit verbreiteten Sichtweise zufolge im Raum steht bzw. einer Sache innewohnt und auf ihre Verwirklichung 'wartet' (vgl. Bergson 2000: 122). bedingt funktioniert. Bergson negiert selbst, „daß man […] dem Zeitverlauf entgegen arbeiten kann“ (Bergson 2000: 120). Es geht also nicht um eine aktive Beeinflussung oder ein aktives Eingreifen in die Vergangenheit, sondern um deren passive Umbildung. Die Filme im Stil von Back to the Future exemplifizieren eher den allgemeinen Irrtum, es gäbe eine kausale Zeitkette, die es durch übernatürliche Mittel zu durchbrechen gilt. Vielmehr könnte man beispielsweise in Filmen mit Flashbacks, durch die die Figuren sich Dingen erst im Nachhinein bewusst werden, Assoziationen zu Bergsons Erkenntnissen über Möglichkeit und Wirklichkeit finden.
Der Philosoph verbildlicht seine Überlegungen darüber hinaus anhand der Vorstellung von Spiegelungen und erklärt, dass das Mögliche die Kombination des Wirklichen mit einer Rückwärtsspiegelung ins Vergangene ist.
[…] da wir wissen, daß das Zukünftige einmal Gegenwärtiges sein wird, daß der Spiegeleffekt sich pausenlos weiter fortsetzt, sagen wir, daß in unserer aktuellen Gegenwart, die die Vergangenheit von morgen sein wird, das Bild von morgen schon enthalten ist, obwohl wir nicht imstande sind, es schon festzuhalten. Darin liegt gerade die Illusion. (Bergson 2000: 121) Wie Bergson hier treffend formuliert, lassen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht als gegebene Zeitabschnitte voneinander trennen, sondern fließen in jedem Moment ineinander, was die ständige Schöpfung von Neuem auf Basis des Wiederholbaren charakterisiert. „Im Sinne dieser Auffassung ist es daher nicht möglich anzugeben, wo genau ein Augenblick beginnt oder endet“ (Bockrath 2014: 89).
Jedem Film ist so gesehen auch schon das potenzielle Bild eines zukünftigen Films inhärent, ohne es jedoch in seiner spezifischen Ausprägung im Voraus greifen zu können. Beim Erscheinen eines neuen Films zeigt sich erst, inwiefern er – gewollt oder ungewollt – das Potenzial und die Inspiration aus seinen Vorgängern in sich trägt. Auch für die Genretheorie sind Bergsons Beobachtungen essenziell, da der 'Beginn' eines Genres erst rückblickend auf einen Film oder einen Zeitpunkt zurückgeführt werden kann, nachdem bereits mehrere Filme mit ähnlichen Merkmalen erschienen sind und die Entwicklung erst im Nachhinein als die eines Genres klassifiziert wurde. Erst dann lassen sich auch die in ihm angelegten Möglichkeiten erkennen, die in den späteren Filmen des Genres realisiert wurden. In Hinsicht des Filmkonsums lässt sich auch ein Beispiel für die kontinuierliche Umbildung der Vergangenheit finden. So kann ein in jüngeren Jahren gesehener Film später durch die inzwischen gewonnene Lebenserfahrung und Bildung entweder primitiver erscheinen, teilweise anders interpretiert oder sogar später erst wirklich verstanden werden.
3. Found Footage Filme als Reflexion der Theorie Bergsons
Filme, die Bergsons Möglichkeits-Wirklichkeits-Konzeption nicht nur durch inhaltliche oder stilistische Eigenschaften reflektieren, sondern bereits durch ihr Wesen die Bedeutung dieser Theorie für das Medium Film exemplarisch in sich vereinen, sind Found Footage Filme. Sie machen die Verknüpfung und Entstehung filmischer Bilder aus anderen Bildern unverkennbar und verwirklichen zudem retrospektiv begreifbare Möglichkeiten anderer Filme.
Der Terminus Found Footage bedeutet zunächst wörtlich aus dem Englischen übersetzt gefundenes Material, wodurch die Bedeutung im filmischen Kontext bereits nahe liegt. Im Allgemeinen handelt es sich demnach um die Aneignung fremden, vorgefundenen Filmmaterials und dessen neues Arrangement (vgl. Brunner/Schlichter 2012). Laut Christa Blümlinger ist die Verwertung von Found Footage im Grunde kein verfremdendes Verfahren im Film, da sie „dem Medium durch Montage und Reproduktivität gewissermaßen eingeschrieben“ (Blümlinger 2009: 9) ist. Bereits diese Tatsache zeigt, wie im Medium angelegte Möglichkeiten erst durch die Existenz von Found Footage Filmen sichtbar wurden. Im Fall der Found Footage- Montage, also der Verbindung zweier dem Medium Film inhärenten Phänomene, handelt es sich demnach gleichsam um einen Vorgang, der die Ontologie des Films und seine Geschichte in doppelter Hinsicht reflektiert (vgl. Blümlinger 2009: 9). Des Weiteren lässt sich rückblickend verstehen, dass die zunehmende Existenz von Kopien und archiviertem Filmmaterial und die damit verbundene Neuverwertung dieser Aufnahmen aus der immer häufiger angewendeten Technik der Montage resultierte. So wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts vereinzelt mit Archivmaterial gearbeitet (vgl. Blümlinger 2009: 9). Bereits hier zeichnet sich eine Parallele zu Bergsons Theorie ab, da diese Möglichkeiten durch die neue Technik erst retrospektiv mit der Verwirklichung der Found Footage-Montage als spezifisches stilistisches Verfahren ersichtlich werden.
Blümlinger (2009: 15 f.) sieht in der Neuverarbeitung von Archivmaterial außerdem eine Verbindung zu Montage- und Collagepraktiken in der Kunstgeschichte, sowie zur kompositorischen Reprise in der Musik, ohne deren Berücksichtigung eine Untersuchung filmischer Found Footage- Montage unvollständig wäre. Auch hier erkennt man medienübergreifende Potenzialitäten und deren assoziative Verbindung durch die ähnliche Verwendung in einem neueren Medium – dem des Films – erst im Nachhinein. Die vom Produzenten unabhängige, ständige Iterierbarkeit und Zitierbarkeit des schriftlichen Zeichens nach Derrida lässt sich laut Blümlinger auch auf die filmische Arbeit mit Found Footage, ihrer Fragmentierung und Montage anwenden. Denn Derridas Theorie besagt, dass ein Zeichen gerade durch seine Wiederholung und das Zitieren verändert wird und seine Anpassung an den jeweiligen Kontext immerzu wandelbar ist (vgl. Blümlinger 2009: 50). Versteht man den Terminus Zeichen also konkret als filmisches Zeichen oder Bild, macht die Hypothese des Philosophen auch in diesem Zusammenhang Sinn. Mit Bergson stimmt diese Beobachtung Derridas insofern überein, als laut Bergson erst die Abweichung vom Wiederholbaren, Regulären das Neue ersichtlich macht.
„So wenig wie die Collage als feststehende Kunstform gibt es den Archivkunstfilm als Genre“ (Blümlinger 2009: 61), eine Feststellung, die in Hinblick auf die verschiedensten Formen der Aneignung filmischen Fremdmaterials plausibel erscheint.
Versucht man den Found Footage-Film dennoch als eigene Gattung zu begreifen, wird diese oft in Verbindung mit der ästhetischen Avantgarde gesehen, wo vor allem das formal-experimentelle Wesen der Arbeit mit Found Footage auffällt (vgl. Brunner/Schlichter 2012). Davon zu unterscheiden ist der Kompilationsfilm, der sich kennzeichnet durch eine „Organisation dokumentarischer Erzählungen auf Basis von Archivmaterial, meist unter Rückgriff auf einen ordnenden Kommentar, dessen Form sich an den Tropen linearer Narration orientiert“ (Blümlinger 2009: 9). Das filmische Material, dessen Inhalt hier deutlich wichtiger ist, tritt also in einen neuen, dokumentarischen Kontext, wobei das reine Material an sich jedoch nicht verändert wird. Michael Zryd bezeichnet den Found Footage-Film explizit als „spezielles Subgenre des Experimental- (oder Avantgarde-) Kinos“ (Zryd 2002: 113) und unterscheidet Archivmaterial von Found Footage folgendermaßen:
Während das Archiv als offizielle Einrichtung historische Aufzeichnungen von unbrauchbaren Aufzeichnungen, den Outtakes, trennt, ist ein großer Teil des in experimentellen Found Footage -Filmen verwendeten Materials nicht archiviert, sondern in privaten Sammlungen, kommerziellen Bildagenturen, Trödelläden und Abfalleimern untergekommen oder wurde im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße gefunden. (Zryd 2002: 113 f.)
Egal, in welcher Form dieses gefundene Material wiederverwendet wird, ruft die Re-Montage dabei immer eine Neukontextualisierung und damit eine neue Sichtweise der Bilder hervor. Zryd bezeichnet dieses Vorgehen als „metahistorische Form des Filmemachens“ (Zryd 2002: 114), da sich die Filme durch die Wiederverwertung der Bilder aus einem bestimmten Kulturkreis zwangsläufig mit deren Geschichte auseinandersetzen und diese kommentieren. Dies gleicht einer historischen Ausgrabung, bei der für die Subkultur typische Gebräuche und Weltbilder im Nachhinein offengelegt werden, da sie innerhalb dieses Kulturkreises zu anderen Zwecken gedreht wurden und die darin versteckten Aussagen über sie selbst erst durch die neue Montage zum Vorschein kommen, weshalb auch oft von einer archäologischen Vorgangsweise gesprochen wird (vgl. Zryd 2002: 114 f.). Hier findet sich die Möglichkeits-Wirklichkeits-Thematik bei Bergson wieder, da das Kommentieren und Reflektieren historischer Ereignisse erst im Nachhinein möglich wird, zumal ein zeitlicher Abstand von diesen Filmbildern zu einer ausgereiften Reflexion notwendig ist. Die in den Bildern verborgenen Aussagen über ihren historischen und diskursiven Kontext lassen sich also mit den in ihnen angelegten Möglichkeiten vergleichen, die durch die Realisierung der Found Footage-Montage aufgedeckt werden. Diese Reflexion hört jedoch selbst niemals auf und kann sich selbst wiederum im Laufe der Zeit verändern und weiterentwickeln. Obwohl die Filmstreifen bereits gedreht und 'abgeschlossen' sind, sind die in ihnen angelegten Möglichkeiten undefiniert und unbegrenzt und können sich ständig in neuen Filmen rückblickend manifestieren.
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