Gabriel García Márquez besitzt sicherlich nicht umsonst den Ruf als erfolgreichster Schriftsteller der Pleyade des Literatur-Booms der 60er Jahre. In "Cien años des soledad" verwandelt Márquez seinen Geburtsort Aracataca in Macondo, das magische Dorf der Familie Buendía, deren Familiensaga von Beginn an - von der Genese bis zur Apokalypse - vorbestimmt ist.
Nicht umsonst birgt dieser Roman ein hohes Identifikationspotenzial für die Südamerikaner und auch El País spricht anlässlich des einjährigen Todestages von Márquez von "Macondo somos todos" und adressiert damit alle Lateinamerikaner sowie die Leserschaft des Romans. Wie ist es also möglich, dass Cien años de soledad als Text innerhalb seiner literarischen Gattung zur kollektiven Identitätsstiftung einer Nation - und weitläufiger gedacht – eines ganzen Kontinents beiträgt? Diesen Fragen soll sich in dieser Arbeit gewidmet werden.
Der Roman enthüllt die Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit der archetypischen Protagonisten, die sich in einem Chronotopos aus Isoliertheit und zirkulärer Zeitstruktur bewegen. Die Erzählung einer Familiensaga, in der realistisch-alltägliche Dinge mit übernatürlichen-mystischen Dingen auf subtile Art und Weise verknüpft werden, erreicht modellhaften Charakter für die moderne Literatur Lateinamerikas. Der Roman reflektiert die geschichtlichen Ereignisse Lateinamerikas, leistet gleichzeitig eine Projektion christlicher Mythologie auf diesen Erfahrungshorizont und schafft so eine Hybridität, die charakteristisch für den realismo mágico ist. Die Inszenierung eines konstitutiven Zusammenhangs zwischen Identität und Gedächtnis sowie des Zusammenhangs zwischen Letztgenannten und der Literatur gehört zu den rekurrenten Thematiken der kontemporären Literatur Lateinamerikas. Unter den Kulturwissenschaftlern, vor allem vorangetrieben von Aleida und Jan Assmann, die den Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ prägten, wurde das Gedächtnis zur Leitkategorie einer kulturwissenschaftlichen Neuausrichtung und zudem zu einem transdisziplinären Paradigma.
Auf Basis dieser Theorien demonstriert die vorliegende Masterarbeit, wie das identitätsstiftende Medium - unser Roman - eine Erzeugung von Gedächtniswelt, ja sogar eine Überschreibung realhistorischer Ereignisse und damit der Wirklichkeit mithilfe der imaginativen Gestaltungsmöglichkeiten der literarischen Darstellung des realismo mágico leistet und Literatur so zu einer "Ausdrucksform literarischer Wirklichkeitsaneignung" wird.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Theoretische Annährung an die Memoria
- Das individuelle Gedächtnis
- Das soziale Gedächtnis
- Die soziologische Perspektive auf das Gedächtnis: Maurice Halbwachs und sein Ansatz zum kollektiven Gedächtnis
- Die kulturwissenschaftliche Perspektive auf das kollektive Gedächtnis nach Aleida und Jan Assmann
- Das kulturelle Gedächtnis
- Kulturelles Gedächtnis und Schrift
- Soziales Vergessen
- Definitionen und Theorien zur Identität
- Identität und Alterität
- Kollektive Identität
- Lateinamerika auf der Suche nach seiner Selbst
- Das Erbe der Kolonisierung
- Die Ausbildung der Nationalstaaten
- Die Problematik der mestizaje
- Die lateinamerikanische soledad: Ursachen und Wirkung
- Lateinamerikanische Befreiungsphilosophie
- Die Boom-Romane der 60er Jahre als Entwürfe der Identitätsstiftung
- Cien años de soledad: Spiegel der Identitätssuche Lateinamerikas
- Mythisches Erzählen als Alteritätserfahrung
- Mythische Elemente in Cien años de soledad
- Zirkularität und mythologische Zeit
- Die Funktion und Verarbeitung der lateinamerikanischen Geschichte in Cien años de soledad
- José Arcadio Buendía und der Kolonialismus
- Der Oberst Aureliano Buendía und der Bürgerkrieg
- Die soledad in Macondo
- Der Imperialismus der USA: Señor Brown und die United Fruit Company in Kolumbien
- Ein Roman gegen das Vergessen
- Das Bananenarbeitermassaker – tres mil muertos por decreto
- Sprach- und Gedächtnisverlust bei Rebeca: die Schlaflosigkeits- und Vergessenspest
- Symbolische Orte der Erinnerung: Der Friedhof Macondos und das Totengedenken
- Ausblick: Macondo als pars pro toto für Lateinamerika
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Frage, wie der Roman „Cien años de soledad“ von Gabriel García Márquez zur kollektiven Identitätsstiftung Lateinamerikas beiträgt. Der Fokus liegt auf der Analyse der Verbindung zwischen Erinnerung, Geschichte und Identität, insbesondere im Kontext der lateinamerikanischen Geschichte und Kultur. Die Arbeit untersucht, wie der Roman die lateinamerikanische Identität im Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Vergessen konstruiert.
- Das Verhältnis von Erinnerung und Identität
- Die Rolle des kollektiven Gedächtnisses in der Konstruktion von Identität
- Die Darstellung der lateinamerikanischen Geschichte und Kultur in „Cien años de soledad“
- Die Bedeutung von Mythen und Symbolen in der Konstruktion von Identität
- Der Einfluss von Literatur auf die kollektive Identität
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik der Arbeit ein und stellt die Relevanz von „Cien años de soledad“ für die lateinamerikanische Identität heraus. Kapitel 2 beleuchtet verschiedene theoretische Ansätze zum Thema Gedächtnis, angefangen vom individuellen Gedächtnis bis hin zum kulturellen Gedächtnis nach Aleida und Jan Assmann. Kapitel 3 behandelt die Konzepte von Identität und Alterität, wobei der Fokus auf der kollektiven Identität liegt. Kapitel 4 betrachtet die Suche Lateinamerikas nach seiner eigenen Identität im Kontext des kolonialen Erbes, der Ausbildung der Nationalstaaten und der Problematik der Mestizaje. Kapitel 5 stellt die Boom-Romane der 60er Jahre als bedeutende Entwürfe der Identitätsstiftung vor. Kapitel 6 analysiert „Cien años de soledad“ als Spiegel der lateinamerikanischen Identitätssuche, wobei die Rolle des mythischen Erzählens, die Verarbeitung der lateinamerikanischen Geschichte und die Funktion des Romans als „Roman gegen das Vergessen“ beleuchtet werden.
Schlüsselwörter
Die zentralen Begriffe, die in dieser Arbeit behandelt werden, umfassen: lateinamerikanische Identität, Erinnerung, Vergessen, kollektives Gedächtnis, kulturelles Gedächtnis, Geschichte, Literatur, Mythen, Symbolen, Cien años de soledad, Gabriel García Márquez, Macondo, Alterität.
- Arbeit zitieren
- Katharina Kölbach (Autor:in), 2016, Zwischen Erinnern und Vergessen. Lateinamerikas Identitätssuche in Gabriel García Márquez’ "Cien años de soledad", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/542817