DDR-Medien als Konstrukteure kollektiver Erinnerung an den Nationalsozialismus (Der Antifaschismus-Mythos und seine Inszenierung in Filmen der DEFA)


Bachelorarbeit, 2004

45 Seiten, Note: 1, 0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abgrenzung der Themenstellung

1. Das kollektive Gedächtnis: Wesen und Wirkung
1. 1 Kollektive Erinnerungen: Kategorien nach Halbwachs, Assmann und Assmann
1. 2 Kollektive Erinnerungen als Machtressource
1. 2. 1 Erinnern nach Einheitsgebot: Gedächtnisstruktur in der DDR
1. 2. 2 Mission Mythos: Die doppelte Legitimationsfunktion
1. 2. 3 Der Gründungsmythos als fundierende Erinnerungsfigur

2. Massenmedien: Mittel und Mittler im kollektiven Erinnerungsprozess
2. 1 Medien als Konservierungsstoffe kollektiver Erinnerungen
2. 1. 1 Audiovisuelle Medien in der DDR
2. 2 Entwicklung der DEFA: Inhalte und Produktionsbedingungen von DDR-Filmen
2. 2. 1 Beginn von Filmprojekten in der SBZ
2. 2. 2. Vom sozialistischen Aufbau bis zum ‚Kahlschlagplenum’
2. 2. 3 Filmbilder als Vermittler von Vergangenheit: Die Thälmann-Epen

Resümee

Anhang: Literaturliste

Abgrenzung der Themenstellung

Jeder tiefere Kontinuitäts- und Traditionsbruch kann zur Entstehung von Vergangenheit führen, dann nämlich, wenn nach einem solchen Bruch ein Neuanfang versucht wird.[1] Die Wahrnehmung von Vergangenheit ist keinesfalls naturwüchsig, Vergangenes kann nicht als etwas bedingungslos Gegebenes betrachtet werden. Denn nur die bloße Abfolge von Ereignissen sorgt längst nicht dafür, dass diese Episoden Berücksichtigung in Gegenwart und Zukunft finden. Dazu bedarf es aktiver Erinnerung, welche ausgewählte Geschehnisse mit Bedeutung ausstattet. Dies ist besonders dann notwendig, wenn die Vergangenheit herausragende Begebenheiten birgt – sowohl ruhmreichen als auch katastrophalen Charakters.

Mit den Folgen einer historischen Zäsur sah sich auch Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs konfrontiert. Alle politischen Konzepte der kommenden Jahrzehnte mussten vor dem Hintergrund der unlängst zu Fall gebrachten nationalsozialistischen Diktatur entwickelt werden. Dieser Weg gestaltete sich mühevoll: Es galt, im Ausland schrittweise Vertrauen und außenpolitische Anerkennung zurück zu gewinnen. Innerhalb der Grenzen war es auf Grund einer tiefen geistigen Verwurzelung der NS-Ideologie erforderlich, den Menschen andere moralische und kulturelle Werte zu vermitteln – die Identität einer ganzen Nation bedurfte eines neuen Fundaments. Dabei musste sorgfältig ausgewählt werden, welche Bestände der vergangenen Jahre auf welche Weise zum Einsatz kommen durften.[2]

Denn im Prozess einer umfassenden gesellschaftlichen Neugestaltung nimmt der Rückgriff auf die Vergangenheit eine Schlüsselrolle ein: Die gemeinsame Fernbetrachtung ausgewählter Ereignisse stellt ein wichtiges Charakteristikum sozialer Gruppen dar. Deshalb widmet sich der erste Teil dieser Arbeit den Mechanismen kollektiven Erinnerns: Welche Merkmale kennzeichnen gemeinschaftlich geteilte Erinnerungen, und wie lässt sich das kollektive Gedächtnis strukturieren? Dazu werden zunächst Prinzipien des kollektiven Gedächtnisses umrissen, gestützt auf die Theorien von Maurice Halbwachs, Aleida Assmann und Jan Assmann. Im Mittelpunkt steht die Frage nach Faktoren, welche bewirken, dass bestimmte Aspekte der Vergangenheit gesellschaftliche Bedeutung erlangen.

Bereits im Anfangsstadium der Reorganisation Deutschlands zeigte sich, dass beide Teilstaaten trotz einer gemeinsam erlebten Vergangenheit mit deren Erbe unterschiedlich umgingen: Bundesrepublik und DDR begegneten den Geschehnissen des Dritten Reichs keineswegs auf identische Weise. Diese Arbeit konzentriert sich auf die ostdeutsche Strategie der Vergangenheitsbewältigung. Im Zuge dessen wird hinterfragt, auf welche Weise kollektive Erinnerungen intentional, insbesondere als Mittel zur Machterhaltung, eingesetzt werden können: Inwiefern prägen Herrschaftsverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft die offizielle Erinnerungskultur und privates Geschichtsverständnis? Zu diesem Zweck werden Grundzüge des DDR-Regierungssystems reflektiert. Des Weiteren sollen Elemente und Funktionen des Antifaschismus-Mythos im Einparteienstaat beleuchtet werden: Denn in der DDR war die Rückbesinnung auf eine nationale ‚antifaschistische Tradition’ für die dortige Gedächtnisstruktur von zentraler Bedeutung. Jahrzehntelang garantierte der Staatsmythos die Stabilität des institutionellen Gefüges.

Während sich der erste Teil der Abhandlung mit Formen und Gebrauch des gemeinschaftlichen Gedächtnisses befasst, werden im zweiten Themenkomplex Aufgaben von Medien im kollektiven Erinnerungsprozess behandelt: Welche Rolle spielen Massenmedien – abgesehen von ihrer Informations-, Unterhaltungs- und Bildungsfunktion – für das kollektive Gedächtnis? Dabei werden zweierlei Wirkungsbereiche fokussiert: Einerseits wird untersucht, auf welche Weise Massenmedien die Strukturen gemeinschaftlich geteilter Erinnerungen aufrechterhalten, indem sie als Mittel zur Informationsspeicherung dienen. Andererseits wird erörtert, inwiefern Medien als Mittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart fungieren: Auch in der DDR kamen im Vorhaben der Staatsmacht, ein neues kollektives Gedächtnis zu formen, vor allem Massenmedien zum Einsatz. Mit ihrer Hilfe sollte der Antifaschismus-Mythos in den Köpfen der Ostdeutschen verankert werden. Exemplarisch wird dies an Entwicklung und Aufbau einer einflussreichen medialen Institution näher untersucht: Der Filmbetrieb DEFA galt in den ersten Jahren nach 1945 als größtes deutsches Nachkriegsproduktionsunternehmen und produzierte zwischen Kriegsende und Mauerfall über 700 Spielfilme. Diese Fülle an Werken und deren Wirkung trug erheblich dazu bei, die staatlich gelenkte Überzeugungstaktik auszuführen.[3]

Die Versuche des DDR-Regimes, ein für die sozialistische Teilrepublik eigenes kollektives Gedächtnis zu konstruieren, spiegelten sich vor allem in der Kulturpolitik wider: Deshalb soll am Beispiel der ersten beiden Jahrzehnte sozialistischer Filmproduktion gezeigt werden, auf welche Weise künstlerische Aufarbeitungsbemühen der NS-Zeit von der Staatsideologie geprägt wurden. Ein abschließendes Kapitel widmet sich einem DEFA-Film, der sich als Auftragswerk zum Haupt-Planvorhaben der SED entwickelte: Der Zweiteiler ‚Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse’ bzw. ‚Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse’ (1954/1955, Regie: Kurt Maetzig) verdeutlicht das Bestreben des Regimes, eine verbindliche Sichtweise der Historie nachhaltig im kollektiven Gedächtnis der DDR-Bevölkerung zu fixieren.

1. Das kollektive Gedächtnis: Wesen und Wirkung

1. 1 Kollektive Erinnerungen: Kategorien nach Halbwachs, Assmann und Assmann

Kontinuität wird gedenkend hergestellt. So stiftet das Gedenken…Sinnzusammenhänge, zu denen die Alltagserfahrung niemals durchstoßen kann.[4] Weil sich Gesellschaften auch über die Dauer ihrer Existenz definieren, sind sie auf Kontinuität angewiesen. Kollektives Erinnern kann die Basis für Beständigkeit schaffen. Aus diesem Grund richten sich soziokulturelle Gemeinschaften Institutionen der Gedächtnispflege ein. Diese halten festgelegte Vergangenheitsperspektiven aufrecht und garantieren damit ein gemeinschaftlich anerkanntes Gedächtnis. Auf welche Weise Geschehnissen aus der Vergangenheit begegnet wird, überlassen Gesellschaften demnach nicht dem Zufall, sondern sie ersinnen Praktiken, um Vergangenes zu sammeln, zu speichern und zu verbreiten. Diese aktive Arbeit am Gedächtnis stammt vom Brauch des Totengedenkens ab; sie entwickelte sich aus dem Bemühen von Angehörigen, die Namen ihrer Verstorbenen für die Nachwelt zu bewahren.[5]

Mit dem Schaffen einer Erinnerungskultur stellen sich Gesellschaften die Frage danach, welche Ereignisse nicht vergessen werden dürfen und sollen. Infolgedessen wird über Generationen hinweg eine Identität ausgeprägt, welche der Einzelne gemeinschaftlich mit Anderen teilt: „ Jede Kultur bildet etwas aus, das man ihre konnektive Struktur nennen könnte.[6] Konnektiv ist dieses Gefüge deshalb, weil kollektiv – jenseits individueller Erfahrungen und Werte – auf die Vergangenheit Bezug genommen wird. Dadurch stiftet Erinnerungskultur der Gemeinschaft Verbundenheit, welche dem Einzelnen das Vertrauen gibt, Teil eines einmaligen kulturellen Bündnisses zu sein. Einzigartig deswegen, weil Gesellschaften ihr Verhältnis zur Vergangenheit mit höchst unterschiedlichen Methoden handhaben: Kollektive Erinnerungen richten sich nach den jeweils geltenden soziokulturellen Rahmenbedingungen und können daher vielfältig arrangiert werden.[7]

Eines haben verschiedene Gedächtniskulturen jedoch gemeinsam: Ihre kollektiven Erinnerungen beziehen sich keineswegs auf sämtliche historischen Ereignisse. Vielmehr umfassen sie jene Aspekte der Vergangenheit, die den Mitgliedern einer Gruppe – seien es Nationen, Religionsgemeinschaften, Familien oder andere soziale Vereinigungen – im Gedächtnis präsent sind. Nur bestimmten Geschehnissen aus der Vergangenheit wird gemeinschaftlich eine Bedeutung zugesprochen, die von allseitigem Interesse ist. Diese Form von Erinnerung betrifft den Einzelnen nicht als Einzelnen, sondern als Angehörigen des jeweiligen Kollektivs. Erst dadurch wird für das Individuum nachvollziehbar, welche gemeinsamen Überzeugungen und Werte im Kollektiv kursieren. Einher geht der Drang, die Gemeinschaft durch stützende Träger abzusichern: Das kollektive Gedächtnis stellt damit die Weichen für das Entstehen politischer Institutionen.[8]

Als einer der ersten Wissenschaftler setzte sich der Soziologe Maurice Halbwachs mit den theoretischen Grundlagen kollektiver Erinnerungen auseinander.[9] Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht die Frage, welche Kraft Menschen zu Gruppen verbindet. Er vertritt die Meinung, gemeinsam geteilte Erinnerungen seien die wichtigste Quelle des Zusammenhaltes. Deshalb rückt er die Beziehung zwischen Gruppenzugehörigkeit und Gedächtnis in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Halbwachs differenziert zwischen individuellem und kollektivem Gedenken. Beide Ebenen bestehen nicht unabhängig voneinander, sondern bestimmen sich wechselseitig: Während das kollektive Gedächtnis seine Energie und Beständigkeit aus den Individuen schöpft, erinnert sich der Einzelne ausschließlich als Mitglied einer Gruppe.[10] Denn, so die zentrale These, jeglicher individueller Rückbezug auf die Vergangenheit ist ein Ergebnis sozialer Kontakte: „… unsere Erinnerungen bleiben kollektiv und werden uns von anderen Menschen ins Gedächtnis zurückgerufen – selbst dann, wenn es sich um Ereignisse handelt, die allein wir durchlebt und um Gegenstände, die allein wir gesehen haben.[11] Demnach gibt es kein Gedächtnis, was nicht sozial begründet, keine Erinnerung, die rein individuell geprägt ist.

Mit der Teilhabe am Kollektivgedächtnis bezeugt das Individuum seine Gruppenzugehörigkeit. Eine Alternative gibt es laut Halbwachs nicht, da Gesellschaften durch ‚Gruppenzwang’ geformt werden – niemand ist in der Lage, sich dem Prozess der Partizipation zu widersetzen, denn: „ Jeder von uns ist in der Tat gleichzeitig Mitglied mehrerer mehr oder minder ausgedehnter Gruppen.[12] Alle Personen sind sozial eingebunden in Gedächtniswelten von Elternhaus, Beruf, sozialem Netzwerk, Konfession. Dabei muss sich der Einzelne nicht zwingend der gesellschaftlichen Faktoren bewusst sein, die auf ihn wirken: „ So bleibt die Mehrzahl der sozialen Einflüsse, denen wir am häufigsten gehorchen, von uns unbemerkt.[13] Denn die Zusammenschlüsse entstehen weniger durch aktives Streben nach Gruppenbildung, sondern indirekt durch Ähnlichkeiten: Akteure einer Fraktion weisen Gemeinsamkeiten auf, in Form von gemeinschaftlichen Symbolen, einer gemeinsamen Sprache und vor allem durch gemeinsam geteilte Erinnerungen: „ Im Vordergrund des Gedächtnisses einer Gruppe stehen die Erinnerungen an Ereignisse und Erfahrungen, die die größte Anzahl ihrer Mitglieder betreffen.[14] Die durch Vergegenwärtigung von Vergangenheit hergestellte Identität ist für den Bestand des Bündnisses von existenzieller Bedeutung: Wird die kollektive Erinnerung porös, löst sich auch die Trägergruppe auf.[15]

Halbwachs betont, die Vergangenheit sei eine soziale Konstruktion, modelliert durch Sinnangebote und Wertvorstellungen der jeweiligen Gegenwart.[16] Gestriges ist demzufolge weder naturwüchsig noch unverfälscht: Da die augenblickliche Gemeinschaft bestimmt, was sie für erinnernswert hält und was nicht, kreiert sie eine jeweils eigene Version des Vergangenen. Dessen gedankliche Verankerung im Kopf des Einzelnen hängt ab von Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule und Medien. Dieses Gefüge stellt ein Bezugssystem für persönliche Erfahrungen dar. Privates Erinnern wird demnach unmittelbar von öffentlicher Erinnerungskultur beeinflusst: Denn die Mitglieder der Gemeinschaft kommunizieren und erinnern nur das, was sie in die Bezugsrahmen des Kollektivgedächtnisses einordnen können. Ändern sich Trägergruppen, ändern sich auch deren Bezugsrahmen. Dann weichen Erinnerungen dem Vergessen, und neue Erinnerungen werden nach neuen Kriterien ausgesucht: „ Die Gruppen, in denen sich früher Konzeptionen und Geisteshaltungen bildeten, die eine Zeitlang die gesamte Gesellschaft beherrschten, treten bald zurück und machen anderen Platz, die ihrerseits während einer bestimmten Zeit Sitten und Gebräuche bestimmen und die öffentliche Meinung nach neuen Modellen formen.[17]

Aleida Assmann und Jan Assmann nehmen die Vorstellungen Halbwachs’ zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen und fügen seinem Schema neue Gedächtnismodi hinzu. Jan Assmann unterscheidet dabei nicht nur zwischen individueller und gemeinschaftlicher Ebene, er ergänzt die Betrachtungen um eine zeitliche Dimension. Dazu gliedert er das kollektive Gedächtnis in zwei Gattungen: Das kommunikative Kurzzeitgedächtnis und das kulturelle Langzeitgedächtnis.[18] Ersteres umfasst die persönlichen Erfahrungen in jüngster Vergangenheit, welche der Einzelne mit Zeitgenossen teilt. Das kommunikative Gedächtnis ist kennzeichnend für Angehörige einer Generation, die bestimmte Erinnerungen in sich tragen und jene mit ihren Mitmenschen austauschen. Durch den kontinuierlichen Transfer von Erinnerung gestaltet sich das kommunikative Gedächtnis eigenständig. Abgesehen vom kommunizierenden Individuum bedarf es keiner vermittelnden Institution. Diese Form des Gedächtnisses ist allgemein zugänglich, jeder kann sich in den Prozess einklinken. Als einzige Einschränkung gilt die Voraussetzung, besagte Erinnerungen selbst miterlebt zu haben.

Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses erlöschen gemeinsam mit ihren Trägern, sofern die Erinnerungen nicht konserviert werden. Existieren keine lebendigen Aufbewahrer mehr, bietet eine Verlagerung der Inhalte auf materielle Speicher den einzigen Schutz vor Vergänglichkeit. Archive und Denkmäler fangen dann die erhaltungsbedürftigen Erinnerungen auf und gewährleisten damit deren Übergang ins kulturelle Gedächtnis.[19]

Im kulturellen Langzeitgedächtnis entscheiden ausgewählte Organe darüber, welche Aspekte der Vergangenheit in der Gruppe erinnert werden dürfen und sollen. Während das kommunikative Gedächtnis auf sozialer Interaktion beruht, wird das kulturelle Gedächtnis medial und institutionell vermittelt und interpretiert. Die Inhalte dieses Gedächtnisrahmens organisieren sich nicht selbstständig, sind deshalb angewiesen auf gesellschaftliche Planung: „ Die fundierende Erinnerung hat immer mehr von Stiftung als von natürlichem Wachstum.[20] Fundierend ist die kulturelle Erinnerung deshalb, weil sie Gesellschaften dabei unterstützt, eine Identität auszubilden. Durch vereintes Erinnern teilen die Mitglieder nicht nur bloße Fakten aus der Vergangenheit. Darüber hinaus vermittelt der kollektive Rückblick ein Fundament an gemeinsamen Werten und Erwartungen, welches die Weltanschauung der Gruppe prägt: „ Durch Zirkulation gemeinsamen Sinns entsteht ‚Gemeinsinn’.[21]

Aleida Assmann nähert sich dem kollektiven Gedächtnis mit anderen Fragestellungen: Nicht die Haltbarkeit von Erinnerungen steht im Fokus ihrer Betrachtungen, sondern die Verfügbarkeit. Einerseits im Hinblick auf die Sinnsubstanz von Informationen: Auf welche Weise kann gespeichertes Wissen zu Präsenz im kollektiven Gedächtnis gelangen, sprich: Wann sind Erinnerungen als solche verfügbar? Andererseits untersucht Aleida Assmann kollektives Gedenken aus Perspektive der Handhabenden: Mit welchen Intentionen können Gesellschaften über Erinnerungen verfügen?

Ähnlich wie Maurice Halbwachs betont Aleida Assmann, dass Erinnerungen keinesfalls Spiegelbilder der Vergangenheit, sondern künstliche Konstrukte sind. Da die Rückschau stets im Jetzt geschieht, ist es unmöglich, die zu erinnernden Aspekte exakt und detailgetreu abzuspulen. Die Einwirkung der Gegenwart erweist sich dabei als zu mächtig.[22] Ebenfalls stellte Halbwachs bereits fest, dass einigen Elementen des Erinnerns Bedeutung verliehen wird, andere jedoch abstrakt bleiben: Wenn das kollektive Gedächtnis „ nur Jahreszahlen und Definitionen oder willkürliche Erinnerungen an Ereignisse enthielte, bliebe es uns durchaus fremd.[23] Und: „ Nicht auf die gelernte, sondern auf die gelebte Geschichte stützt sich unser Gedächtnis.[24] Demnach bedürfen Erinnerungselemente, um im kollektiven Gedächtnis überleben zu können, nicht nur reiner Aufbewahrungsmethoden, sondern zusätzlich einer Aktivierung mittels Sinnzuweisung. Aleida Assmann benennt diesen Umstand und erweitert die Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis um zwei weitere Gedächtnis-Modi: Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis.[25]

Das Funktionsgedächtnis involviert Begriffe, Botschaften, Nachrichten ‚mit Funktion’: Dieser Modus der Erinnerung beinhaltet jene Teile der Vergangenheit, die für die jeweilige Trägergruppe von Belang, von ihr als wichtig definiert sind. Solche Aspekte des Gestern sind den Gesellschaftsmitgliedern in der Kommunikation untereinander mehr oder weniger geläufig. Die übrigen Vergangenheitsereignisse verkümmern zur Bedeutungslosigkeit. In Form von kollektiven Gedenk- und Feiertagen wird das Funktionsgedächtnis wahrnehmbar.

Das Funktionsgedächtnis ist in zweierlei Hinsicht belebt: Einerseits, weil es stützende Träger benötigt. Andererseits, weil jene Träger die dort gebündelten Informationen mit Sinn bedacht haben. Im Funktionsgedächtnis werden nicht alle zur Verfügung stehenden Fakten berücksichtigt, seine Begründer verfahren selektiv. Doch in welche Kategorie lässt sich gespeichertes Wissen ‚ohne Funktion’, redundantes Material mit fehlendem aktuellen Sinnbezug, einordnen? Aleida Assmann bezeichnet diesen Erinnerungsmodus als Speichergedächtnis, welches sämtliche Aspekte der Vergangenheit umschließt. Auf diese Weise umrahmt es das Funktionsgedächtnis und bietet ihm einen Kontext. Dieses Universalgedächtnis ist unbewohnt, da nahezu trägerlos: Seine Substanz liegt in den Händen einiger Spezialisten, die es in Stand halten. Das Speichergedächtnis bedarf dieser Pflege in besonderer Weise, da sich seine Inhalte nicht – wie im Funktionsgedächtnis – durch bloßen Gebrauch erhalten. Raum für solche Arbeit findet sich dort, wo der gegenwärtige Nutzen nicht den Wert bestimmt: In Literatur, Kunst und Wissenschaft.

Trotz aller Gegensätzlichkeiten müssen sich beide Modi nicht gegenseitig ausschließen, denn ihre Grenzen sind fließend: Inhalte des Speichergedächtnisses bergen das Potenzial, jederzeit im Funktionsgedächtnis reanimiert zu werden. Umgekehrt können gegenwärtige Bezugsrahmen abhanden kommen und sich infolgedessen Inhalte des Funktionsgedächtnisses im Speichergedächtnis verlieren.

Die Träger des Funktionsgedächtnisses wählen aus dem Fundus der Vergangenheit gezielt aus und aktivieren damit beziehungslose Informationssubstanz. Auf diese Weise können sie bewusst über Vergangenes verfügen. Erinnerungen haben damit einen Gebrauchswert, sie können auf unterschiedliche Art und Weise zum Einsatz kommen.[26] Aleida Assmann unterscheidet mehrere Formen der Verwendung: Als offizielles oder politisches Gedächtnis dient das Funktionsgedächtnis der Legitimation von Herrschaft. Hinweise auf die Vergangenheit können von Herrschern gezielt eingesetzt werden, um ihre Machtposition zu rechtfertigen und zu unterstützten. Oberhäupter verfügen über die notwendigen Mittel, um ihre eigene Version der Vergangenheit zu zeichnen und diese in verschiedenen Medien, seien es Ehrenmale, Gedenkfeiern oder Straßennamen, zu propagieren. Darüber hinaus besitzen sie die Macht, zukünftiges Andenken zu steuern: Mit dem Ziel, selbst Bestandteil der offiziellen Erinnerung zu sein und damit ihre Führungsrolle sogar in der Nachwelt stabil zu halten, können Befehlshaber alle erdenklichen Maßnahmen ergreifen, um die Zeit zu überdauern: „ Herrschaft legitimiert sich retrospektiv und verewigt sich prospektiv.[27]

Darüber hinaus können Inhalte des Funktionsgedächtnisses zur Profilierung einer eigenen, klar abgegrenzten kollektiven Identität eingesetzt werden. Großgruppen erfassen dadurch verbindende Elemente ihrer Mitglieder einerseits und Unterschiede gegenüber anderen Vereinigungen andererseits. Kollektiver Rückbezug auf Vergangenes, das Hervorheben gemeinsamer Werte und das Vergegenwärtigen miteinander geteilter Erfahrungen – beispielsweise im Rahmen von Religionsgemeinschaften – stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl oder lassen überhaupt erst das Bewusstsein für die Existenz einer Einheit aufkommen.[28]

Maurice Halbwachs hat beobachtet, dass unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Erinnerungsformen entwickeln. Allerdings blendet er aus, inwiefern politische Handlungsmächte über diesen Umstand verfügen. Gesellschaften tragen die Verantwortung für ihre eigene Gedächtnispflege und sprechen sich die Kompetenz zu, zu entscheiden, welche Dinge Erinnerung verdienen und welche dieser nicht würdig sind. Dementsprechend ist es für Befehlshaber möglich, gezielt auf das kollektive Gedächtnis Einfluss zu nehmen: Erinnerungsräume sind abhängig von politischen und sozialen Interessen.[29] Für einen möglichst breiten Konsens über die zu erinnernden Objekte der Vergangenheit ist ein staatliches System frei von Propaganda mit öffentlich begleitender Kritik unabdingbar. Werden diese Voraussetzungen nicht geschaffen, besteht die Gefahr der Verzerrung und Instrumentalisierung von Erinnerung. Neben dem ‚natürlichen’ Vergessen durch Wegfall aktueller Bezugsrahmen droht dann erzwungenes Vergessen in Form von Manipulation, Zensur und Umschreibung. Dabei werden ausgewählte Aspekte der Vergangenheit vorsätzlich verdrängt und ausrangiert.[30]

1. 2 Kollektive Erinnerungen als Machtressource

1. 2. 1 Erinnern nach Einheitsgebot: Gedächtnisstruktur in der DDR

Unzweifelhaft können diejenigen, die über den öffentlichen Raum verfügen, am leichtesten Einfluss auf die gesellschaftliche Erinnerung nehmen.[31] Insbesondere, wenn jener Einfluss auf zerrissene soziale Strukturen trifft. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war in allen besetzen Zonen Deutschlands ein Neuanfang notwendig und möglich. Auch das sowjetische Regime beschritt diesen Weg, indem es sich zum Ziel setzte, die Gesellschaft vollständig zu reorganisieren. Unter dem Kommando der Besatzungsmacht wurden neue kulturelle Leitideen verwirklicht, angelehnt an das kommunistische Sozialismus-Modell. Geschaffen werden sollte eine Nation ‚neuen Typs’: Eine Gesellschaft frei von Klassenunterschieden und wirtschaftlichem Wettbewerb. Dieser Plan wurde mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchgesetzt, es entstand ein gänzlich monopolisiertes Kultur- und Gesellschaftskonzept.[32]

[...]


[1] Assmann, J., Gedächtnis, 1992, S. 32

[2] Vgl. Danyel, J., Ausgangslagen, 1993, S. 131 ff.

[3] Vgl. Holterman, A., Medienstrukturen, 1999, S. 48

[4] Bolz, N., Produktivkräfte, 1999, S.194

[5] Vgl. Assmann, A., Erinnerungsräume,1999, S. 33 und 46

[6] Assmann, J., Gedächtnis, 1992, S. 16

[7] Vgl. ebd. S. 16 ff.

[8] Vgl. Münkler, H., Anstrengungen, 1997, S. 123 und Diner, D., Kreisläufe, 1995, S. 115

[9] Vgl. Heinrich, H.-A., Erinnerungen, 2002, S. 26

[10] Vgl. Halbwachs, M., Gedächtnis, 1967, S. 31

[11] Ebd. S. 2

[12] Ebd. S. 64

[13] Ebd. S. 27

[14] Ebd. S. 25

[15] Vgl. ebd. S. 7

[16] Für das Folgende: Vgl. ebd. S. 55

[17] Ebd. S. 50

[18] Für das Folgende: Assmann, J., Gedächtnis, 1992, S. 50 ff.

[19] Vgl. Assmann, A., Erinnerungsräume, 1999, S. 15

[20] Assmann, J., Gedächtnis, 1992, S. 52

[21] Ebd. S. 140

[22] Vgl. Assmann, A., Erinnerungsräume, 1999, S. 29 ff.

[23] Halbwachs, M., Gedächtnis, 1967, S. 37

[24] Ebd. S. 42

[25] Für das Folgende: Vgl. Assmann, A., Erinnerungsräume, 1999, S. 134 ff.

[26] Für das Folgende: Vgl. ebd. S. 138 ff.

[27] Ebd. S. 138

[28] Vgl. ebd. S. 139

[29] Vgl. ebd. S. 408

[30] Vgl. ebd. S. 15 und Assmann, J., Gedächtnis, 1992, S. 23

[31] Heinrich, H.-A., Erinnerungen, 2002, S. 44

[32] Vgl. Mühlberg, D., Kulturgeschichte, 1994, S. 69

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
DDR-Medien als Konstrukteure kollektiver Erinnerung an den Nationalsozialismus (Der Antifaschismus-Mythos und seine Inszenierung in Filmen der DEFA)
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Philosophische Fakultät / Europastudien)
Veranstaltung
Vorlesung: Kulturgeschichte Europas / Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Note
1, 0
Autor
Jahr
2004
Seiten
45
Katalognummer
V54454
ISBN (eBook)
9783638496582
ISBN (Buch)
9783656785040
Dateigröße
532 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
DDR-Medien, Konstrukteure, Erinnerung, Nationalsozialismus, Antifaschismus-Mythos, Inszenierung, Filmen, DEFA), Vorlesung, Kulturgeschichte, Europas, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Arbeit zitieren
Annett Meiritz (Autor:in), 2004, DDR-Medien als Konstrukteure kollektiver Erinnerung an den Nationalsozialismus (Der Antifaschismus-Mythos und seine Inszenierung in Filmen der DEFA), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/54454

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