Zweifel an der Zweifellosigkeit - Bedeutungsebenen in Franz Kafkas "In der Strafkolonie"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

33 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Einleitung – Über das Leben und das Schreiben Franz Kafkas

„Hätte sich der Schöpfer anders besonnen, und wäre Kafka in Asien geboren: Millionen klammerten sich an seine Worte und grübelten über sie, ihr Leben lang.“ (Kurt Tucholsky)

Franz Kafkas Werk einer bestimmten literarischen Richtung eindeutig zuzuordnen fällt schwer. Seine Erzählungen weisen sowohl expressionistische Züge auf[1] – existentielle Themen wie Identitätsverlust und Machtmechanismen sind immer wieder Gegenstand seiner Arbeiten, wobei sich auch stilistische Gemeinsamkeiten mit expressionistischen Autoren zeigen[2] – als auch surrealistische – kennzeichnend ist das tiefe Eindringen in die eigene Gedankenwelt, das Vordringen in psychische Tiefenschichten, sowie das Verschwimmen von Traum und Realität, wenngleich zu surrealistischen Autoren die sprachliche Nähe weitgehend fehlt.[3] Für eine eindeutige Zuordnung zu einer der Richtungen reichen die Gemeinsamkeiten jedoch nicht aus.

Kafkas „klarer (fast karger) Stil, der Wirklichkeit und Phantasie vermischt [...], trägt zu der beängstigenden, klaustrophobischen Atmosphäre in seinen Werken bei“[4]. Deutlich erkennbar erscheint der Einfluss der Existenzphilosophie Kirkegaard, nach welcher sich „das menschliche Leben nicht in einem System erklären lasse, sondern durch Zwiespältigkeit gekennzeichnet“[5] ist. „Die wirklichen Probleme entziehen sich nach Kirkegaard einer vernünftigen und objektiven Deutung. Die Wahrheit ist für ihn subjektiv“[6] – ein, wie sich zeigen wird, für Kafka im allgemeinen und für seine Erzählung „In der Strafkolonie“ im besonderen relevanter Aspekt.

Franz Kafka [1883-1924] lebte und starb in Prag; seine immer wieder neu geschmiedeten Pläne, auszuwandern, zuletzt sogar nach Palästina[7], verliefen im Sand und blieben Träume. Abgesehen von Reisen ins Ausland, vorwiegend nach Paris, und längeren Aufenthalten in Berlin blieb er Zeit seines Lebens in Prag, arbeitete für die „Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen in Prag“[8], eine Arbeit, die er, trotz mehrfacher Beförderung, nicht wirklich mochte, während er sich nachts und an seinen freien Tagen dem Schreiben widmete.

Bekannt sind Kafkas Probleme mit Frauen auf der einen Seite – obwohl er dreimal verlobt war, heiratete er nicht, führte Beziehungen zum Teil nur über Briefkontakt, und „man geht wohl nicht zu weit, wenn man behauptet, dass sich Kafka nur über das geschriebene Wort bei gleichzeitiger körperlicher Distanzwahrung vollends öffnen konnte“[9] – , sowie die Probleme mit seinem Vater auf der anderen. Kafkas Vater entstammte der einfachen Arbeiterschicht, und sein einziges Interesse galt der gesellschaftlichen Anerkennung[10], die er mit dem Aufbau seines Geschäftes und einer disziplinierten Lebensweise auch erlangte. Die Generation Kafkas war nun eher akademisch orientiert, und Kafkas Vater brachte für dessen literarische Interessen kein Verständnis auf.[11] Das Eheleben der Eltern Kafkas schien zwar harmonisch zu sein, hatte aber

„unter dem Druck, sowohl den väterlichen, aber auch gesellschaftlichen Erwartungen zu genügen, eine genau gegenteilige Wirkung auf den Sohn. Das fehlende Identitätsbewusstsein Kafkas, das aus einem Mangel an Zuwendung und Aufmerksamkeit in der Kindheit und Jugend herrührte, [...] [führte zuletzt zu einer] Näheangst, die ihn die Gemeinschaft mit anderen Menschen zwar wünschen, aber gleichzeitig – in einer unentwegten Zerreißprobe – [...] fürchten ließ.“[12]

Ob Kafkas Vaterkomplex sich zu einem „Weltkomplex“[13] ausweitete, sei dahingestellt, doch scheint die Annahme, Kafkas Schreiben sei insgesamt nur auf das Verhältnis zu seinem Vater zurückzuführen und stelle einen Versuch der Bewältigung dieses Problems dar, nur an der Oberfläche zu kratzen; vielmehr scheint das Schreiben für Kafka existentiell – es bedeutet ihm Freiheit innerhalb einer einschränkenden Welt, in welcher ihn „immer das Gefühl bedrückte, nicht seinen Wünschen entsprechend zu leben“[14], und mit deren, in seinen Erzählungen komplex dargestellten und oft unlösbar scheinenden, Schwierigkeiten er sich auf diese Weise auseinander setzte.

Die Erzählungen Kafkas zeichnen sich meist durch eine besondere Bildhaftigkeit aus, stellen Metaphern für bestimmte (wenngleich manchmal schwer zu bestimmende) Aspekte des wirklichen Lebens dar und zeigen die Problematik dieser Aspekte auf. Sie sind insofern vergleichbar mit den äsop’schen Fabeln, die durch die Verwendung von Tieren anstelle von Menschen bestimmte Sachverhalte durchleuchten. Während die Gründe für die verschlüsselte Sprache äsop’scher oder sonstiger volkstümlicher Fabeln auf der Hand lagen – Sklaven, beziehungsweise arme Bevölkerungsschichten konnten sich schwerlich leisten, ihre Herren, beziehungsweise den Adel in den Geschichten beim Namen zu nennen –, sind Kafkas Gründe Spekulationen vorbehalten.

Günter Mecke beispielsweise versucht in seiner Arbeit „Franz Kafkas offenbares Geheimnis – Eine Psychopathographie“ dessen „Geheimsprache“ zu enträtseln und glaubt den Schlüssel darin gefunden zu haben, dass Kafka homosexuell gewesen sei.[15] Zahlreiche von Mecke angeführte Textstellen aus Kafkas Erzählungen scheinen darauf zu verweisen, so zum Beispiel die folgende aus „Die vertrackte Geschichte vom schamhaften Langen und vom Unredlichen in seinem Herzen“[16]:

„ ,Da begann der Lange unruhig zu werden, die Nase schnupperte in der Stubenluft. Gott, was war die Luft so stickig, muffig, ungelüftet! Der Fremde hörte nicht auf. Er erzählte von sich, von Westenknöpfen, von der Stadt, von seinen Gefühlen -, bunt. Und während er erzählte, stach er nebenbei seinen spitzen Spazierstock dem Langen in den Bauch. Der zitterte und grinste [...]’ Stickig, muffig, ungelüftet; Hitze, Wärme, Schwüle: mit dem Umlaut fällt der Schleier des Geheimnisses“[17],

und dass sich der Spazierstock als Phallussymbol deuten lässt, braucht kaum erwähnt zu werden. Mecke nennt weitere Beispiele, deutet das in Kafkas Schriften hin und wieder auftauchende „Nicht-Schwimmen-Können“ als „den unwiederbringlichen Verlust heterosexueller Funktionstüchtigkeit, ,Ertrinken’ [als] den quälenden, ,immer fortgesetzten Augenblick’ der Klarsicht in den psychosexuellen Schiffbruch.“[18] Akribisch genau entschlüsselt er die „Chiffren [...], willkürlich gewählte Geheimzeichen“[19] also, der Sprache Kafkas und bezeichnet diesen als den „Chronist der männlichen Homosexualität“[20]. Vorausgesetzt die Theorie stimme, lägen psychische Konflikte nahe, die auch in Zusammenhang mit Kafkas Vater-Konflikt stünden: es ist dem Sohn nicht möglich, in die Fußstapfen des Vaters zu treten und diesem durch Familiegründung nachzueifern, beziehungsweise seine Erwartungen zu erfüllen, zumal er im „Brief an den Vater“ schrieb:

„Heiraten, eine Familie gründen, alle Kinder , welche kommen , hinnehmen, in dieser unsicheren Welt erhalten und gar noch ein wenig führen, ist meiner Überzeugung nach das Äußerste, das einem Menschen überhaupt gelingen kann.“[21]

Die Verschlüsselung der Texte ergäbe den Sinn, nicht erkannt werden zu wollen in einem Umfeld, einer Zeit und einer Kultur, die Homosexuellen gegenüber wenig Toleranz aufbrachte.

Natürlich ist Meckes Theorie, wenngleich schlüssiger und umfangreicher, als das hier erörtert werden kann, weder beweisbar, noch ist sie relevant für das Verständnis einer Erzählung wie es sich aus dem Text selbst ergibt, zumal der Großteil der Texte Kafkas sich meiner Ansicht nach entweder gar nicht oder nur im weitesten Sinne aus ihr Ableiten ließe. Dennoch stellt das Werk Kafkas für Anhänger der historischen Textinterpretation weitgehend eine „verkleidete Autobiographie“[22] dar.

In seinem ebenfalls biographisch orientierten „Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen“ weist Hartmut Binder darauf hin, die soziale Situation Kafkas habe einem „dreifachen Ghetto“[23] geglichen:

„Als Prager war er auf dieser deutschen Sprachinsel vom lebendigen Strom seiner Muttersprache abgeschnitten, als Deutschsprechender vom ihn umgebenden tschechischen Volkstum und seiner Kultur isoliert und als Jude wiederum von den in dieser Stadt lebenden nichtjüdischen Österreichern und ihrer Lebensart distanziert, die dort die Oberschicht bildeten.“[24]

Legt man derlei biographische Umstände zugrunde, so lässt sich auch hier durchaus auf eine innere Zerrissenheit schließen , die sich in seinen Werken deutlich niederschlägt.

Der historischen Interpretationsmethode – die zwar interessante Thesen über Leben und Denken des Autors hervorbringt und auch insofern Licht auf die Texte wirft, als ja das Leben das Denken prägt und dieses wiederum die Schriften, andererseits aber keinesfalls die ganze in einem literarischen Werk enthaltene Bedeutung erschließen kann – steht die textimmanente Forschung als genauer Gegensatz gegenüber: Die werkimmanente Deutung fordert eine „objektive Deutungshaltung, die sich ihre Legitimation aus dem Text selber zu holen“[25] scheint; sie sieht den Text, nach Binder,

„nicht als komplexe Grundlage eines Kommunikationsprozesses mit offenem Ende [...], sondern als in sich stimmiges, seinsautonomes Gebilde, von dem sich die Interpreten in ihren Auslegungen unmittelbare Evidenz für ihre Sinnbestimmung erwartet haben. [...] [Kritik erntet sie dort,] wo die Herstellung eines konkreten Zusammenhangs im Literarischen, Sozialen und Geschichtlichen unterblieb, [...] [denn] unabdingbar gehört in der hermeneutischen Situation zum verstehenden Subjekt ein vom Text verschiedenes Weltbild, das die eigene Lebenswelt zum Bezugsrahmen hat. [...] Die werkimmanente Schule war nie völlig einheitlich, weil gerade die Interpretation Spielraum für Subjektives ergab.“[26]

Des weiteren brachte Kafkas Werk religiöse, philosophische, psychologische, literatursoziologische und gar marxistische Deutungen hervor[27] ; es mag an der oben erwähnten Chiffrierung, der Verschlüsselung der Kafka-Texte liegen, dass sie ein subjektives Verstehen begünstigen, und dass es somit, könnte man sagen, so viele Interpretationen wie Leser gibt.

Unumstritten bleibt dabei die besondere Sensibilität, mit der Kafka seine Umwelt wahrnimmt und in seinen Erzählungen wiedergibt.[28]

Gerade die Erzählung „In der Strafkolonie“ [1914] ist ein Paradebeispiel für Kafkas Auseinandersetzung mit konträren Sichtweisen, von denen keine zu einer befriedigenden Lösung zu führen scheint. Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine Deutung dieser Erzählung unter besonderer Berücksichtigung des Aspektes Schuld und Strafe, der einen Schwerpunkt in Kafkas Gesamtwerk darstellt. Das Aufzeigen der verschiedenen Bedeutungsebenen, welches auf textimmanenter Ebene geschehen muss, innerhalb des hermeneutischen Zirkels, in dem wir uns hierbei befinden, wird verschiedene moralphilosophisch deutbare Sichtweisen und das mit ihnen verbundene Dilemma einer Unentscheidbarkeit zeigen, welche sich, in Bezug zur Leserwelt gesetzt, geradezu als Essenz aller psychischer und weltlicher Konflikte offenbart.

[...]


[1] Vgl. Franz Kafka, Literarische Einordnung. Internet: www.kades.de/deutung/epoche.htm, S. 1.

[2] Vgl. ebd. S. 1.

[3] Vgl. ebd. S. 1.

[4] Ebd. S. 1.

[5] Ebd. S. 2.

[6] Ebd., S. 2.

[7] Vgl. Biographie Kafkas. Internet: www.asamnet.de/kassecch/content/biografie.html S. 3.

[8] Biographie Kafkas, s.o., S. 2.

[9] Kafka und die Frauen. Internet: www.kafkaesk.de/Kafka/Seiten/kafka_frauen.htm S. 1.

[10] Vgl.: Klaus Wagenbach: Franz Kafka in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlt Verlag, Hamburg, 1964.

[11] Vgl.: Klaus Wagenbach, s.o.

[12] Kafka und die Frauen, s.o., S. 1.

[13] Vgl.: Kafka – Literarische Einordnung, Internet, s.o., S. 2.

[14] Kafka und die Frauen, Internet, s.o., S. 1.

[15] Vgl.: Günter Me>

[16] Kafka schickte die Geschichte am 20.12.1902 brieflich an seinen Freund Oskar Pollak. Vgl.: Günter Mecke, s.o., S. 12 f.

[17] Ebd., S. 12 f.

[18] Ebd., S. 7.

[19] Ebd., S. 3.

[20] Ebd., S. 10.

[21] In: Franz Kafka und die Frauen, s.o., S. 1.

[22] Vgl.: Hartmut Binder: Kafka-Handbuch in zwei Bänden, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 1979, S. 804.

[23] Hartmut Binder: Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, 3. Auflage 1982, Winkler Verlag, München, 1975, S. 1.

[24] Ebd., S. 1.

[25] Hartmut Binder: Kafka-Handbuch in zwei Bänden, s.o., S. 810.

[26] Ebd., S. 810 f.

[27] Vgl. ebd., S. 799-808.

[28] Vgl. auch Klaus Wagenbach, s.o., S. 41 ff.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Zweifel an der Zweifellosigkeit - Bedeutungsebenen in Franz Kafkas "In der Strafkolonie"
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen  (Germanistisches Institut)
Veranstaltung
Hauptseminar: Franz Kafka - Ausgewählte Erzählungen
Note
1,7
Autor
Jahr
2003
Seiten
33
Katalognummer
V54461
ISBN (eBook)
9783638496643
ISBN (Buch)
9783638688260
Dateigröße
507 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
arbeit
Arbeit zitieren
Marcel Schaefer (Autor:in), 2003, Zweifel an der Zweifellosigkeit - Bedeutungsebenen in Franz Kafkas "In der Strafkolonie", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/54461

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