Zur Rolle des kindgerichteten Sprechens beim Erstspracherwerb


Masterarbeit, 2006

35 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Spracherwerbskonzepte
2.1. Das behavioristische Konzept des Spracherwerbs
2.2. Das nativistische Konzept des Spracherwerbs
2.3. Das interaktionistische Konzept des Spracherwerbs
2.4. Neuere Spracherwerbskonzepte

3. Zum Begriff des kindgerichteten Sprechens
3.1. Merkmale des kindgerichteten Sprechens
3.1.1. Die Babysprache
3.1.2. Die stützende Sprache
3.1.3. Die lehrende Sprache
3.2. Qualität des kindgerichteten Sprechens
3.3. Funktion des kindgerichteten Sprechens und intuitive Verhaltensmerkmale der Eltern

4. Untersuchung der Kritik Chomskys an der Bedeutung des sprachlichen Inputs für den Spracherwerb

5. Untersuchung des kultur- sowie schichtspezifischen
Gebrauchs kindgerichteten Sprechens
5.1. Kulturelle Variation
5.1.1. Der Verlauf des Spracherwerbs unter
dem Einfluss der Verwendung kindgerichteten
Sprechens: die soziale Umwelt von Kindern in
westlichen Kulturkreisen
5.1.2. Der Verlauf des Spracherwerbs ohne den
Einfluss kindgerichteten Sprechens:
die soziale Umwelt von Kindern der Kaluli
und aus Trackton
5.1.2.1. Die Kaluli
5.1.2.2. Trackton
5.1.3. Zusammenfassung
5.2. Schichtenspezifische Variation

6. Zur Frage der Spracherwerbsförderlichkeit kindgerichteten Sprechens

7. Ausblick oder Neue Wege in der Inputforschung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Aufgabe des Spracherwerbs ist eine außerordentlich komplexe. Seit Beginn der Spracherwerbsforschung zum Ende des 19. Jahrhunderts (Elsen 1991:20) haben sich – vor allem in Folge von Chomskys Generativer Transformationsgrammatik - mehrere Theorien entwickelt, die sich uneinig darin sind, wie das Kind die Aufgabe des Spracherwerbs meistert, welche spezifischen Fähigkeiten es in den Spracherwerbsprozess einbringt und welche Mechanismen in diesem Prozess wirken.

Zunächst muss man also herausfinden, was das Kind für den Spracherwerb selbst mitbringt. Angesichts der Komplexität und dem raschen Verlauf des Spracherwerbsprozesses (das Kind erwirbt bis zum 6. Lebensjahr Grundlagen in Phonologie, Syntax, Morphologie und Lexikon) könnte man schließen, dass das Kind, das in anderen Bereichen kognitiv noch lange nicht so weit entwickelt ist, unterstützt wird durch seine Umwelt.

Besonders die Rolle der Umwelt (die Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson, die Besonderheit der Sprache der Bezugsperson zum Kind, die Bedeutung der vorsprachlichen Kommunikation zwischen Kind und Bezugsperson) ist seit den 80/90er Jahren in das Blickfeld von Spracherwerbsforschern gerückt. Chomskys nativistische Sicht des Spracherwerbs, die der sozialen Umwelt nur eine sehr geringe bis gar keine Bedeutung für den Spracherwerb beimisst, wurde bereits Ende der 70er Jahre stark kritisiert; interaktionistische Ansätze traten in den Vordergrund, die der sozialen Umwelt und besonders den Interaktionen zwischen Kind und Umwelt eine große Bedeutung für den Spracherwerb einräumen. Dabei wird besonders die Rolle des sprachlichen Inputs diskutiert, also jenes Sprachmaterial, das ein Kind durch seine Umwelt empfängt, sowohl die Sprache, die explizit an das Kind gerichtet ist, als auch die Sprache, die die Erwachsenen untereinander sprechen. Bei der Untersuchung der Sprache, die speziell an das Kind gerichtet ist, zeigte sich, dass sie spezifische Merkmale hat, die auf das Verständnisniveau des Kindes abgestimmt sind. Diese „einfache“ Sprache soll dem Kind helfen, Sprache zu verstehen, zu lernen und zu sprechen. Umstritten ist jedoch bisher, ob diese vereinfachte Sprache für den Spracherwerb überhaupt förderlich ist. Dass sie weit verbreitet verwendet wird, impliziert nicht zwingend, dass ein Spracherwerb ohne kindgerichtete Sprache nicht möglich ist. Möchte man die Rolle der kindgerichteten Sprache[1] für den Spracherwerb untersuchen, das heißt, herausfinden, ob sie für den Spracherwerb überhaupt notwendig ist, ob sie relevant ist und wenn ja, ob sie auch förderlich ist, muss man ihre Verwendung sowohl kulturspezifisch als auch schichtenspezifisch untersuchen. Man könnte annehmen, dass es Kulturen gibt, in denen kindgerichtete Sprache nicht verwendet wird oder zumindest nicht in der Weise, wie es in westlichen Kulturkreisen getan wird; ebenso wäre denkbar, dass Mütter[2] der gehobenen Schicht dieses Register eher verwenden als Mütter einer niedrigeren Schicht. Stellte man fest, dass kindgerichtete Sprache tatsächlich nicht universal ist, das heißt nicht in allen Kulturen und Schichten verwendet wird, bedeutete das, dass sie auch nicht für den Spracherwerb notwendig wäre. Um die Rolle der kindgerichteten Sprache für den Spracherwerb zu untersuchen, sollen zunächst folgende Fragen geklärt werden:

Wie erklären die einzelnen Spracherwerbstheorien den Spracherwerb?

Welche Bedeutung räumen sie der sozialen Umwelt und angeborenen Faktoren für den Spracherwerb ein?

Welche Rolle spielt die soziale Umwelt für den Spracherwerb?

Was sind Merkmale und Funktion kindgerichteter Sprache?

Ist kindgerichtete Sprache für den Spracherwerb förderlich?

Was wollen Bezugspersonen mit der Verwendung der kindgerichteten Sprache erreichen? Genauer: stellt kindgerichtetes Sprechen eine Art elterlicher Didaktik dar oder resultiert sie aus dem Ausdruck von Gefühlen und dient der Herstellung einer Kommunikation mit dem Kind?

Wird kindgerichtete Sprache in allen Kulturen und Ländern der Welt verwendet?

Wird sie durch alle sozioökonomischen Schichten hindurch verwendet?

Für die Bezeichnung jener Sprache mit auffallenden strukturellen Anpassungen gibt es viele Vorschläge. Snow (1977) bezeichnet die durch eine spezielle Prosodie gekennzeichnete Sprache, die Eltern an Kinder richten, bis diese etwa 3 Jahre alt sind, als motherese (dt.: ‚mutterisch’). Die wohl älteste Bezeichnung dieser Sprechweise stammt von Wundt (in: Szagun 1996), der sie als „Ammensprache“ bezeichnet. Gallaway und Richards (1994) führen den Terminus der child directed speech ein (dt.: ‚an das Kind gerichtete Sprache’). Ferguson (1977) verwendet dagegen den Begriff des baby talk bzw. auch den der infant-directed speech oder des parentese.

2. Spracherwerbskonzepte

Um die Rolle des kindgerichteten Sprechens für den Erstspracherwerb zu bestimmen, ist es auch nicht unwichtig, ihren Status in den verschiedenen Konzepten des Spracherwerbs zu betrachten.

Einen wichtigen, wenn auch nicht unkritisiert gebliebenen Beitrag zur Spracherwerbsforschung hat Noam Chomsky in den 60er Jahren geleistet, als er im Rahmen seiner Generativen Transformationsgrammatik auch ein Spracherwerbsmodell formulierte. Grob gefasst kann man die Spracherwerbstheorien, die sich seit den 60er Jahren bis heute entwickelt haben, in zwei große Theorien einteilen (Dittmann 2002:59; Hennon/Hirsh-Pasek/Golinkoff 2000:44):

1. Die Von-innen-nach-außen-Theorie
2. Die Von-außen-nach-innen-Theorie.

Die Spracherwerbskonzepte, die zur ersten Gruppe gehören, wie z.B. der Nativismus, gehen von einem speziellen, dem Kind angeborenen Sprachapparat bzw. Sprachlernmechanismus aus und messen der Umwelt, sozialen Beziehungen und dem sprachlichen Input wenig bis keine Bedeutung beim Spracherwerbsprozess bei.

Die zweite Gruppe, der z.B. interaktionistische Spracherwerbskonzepte angehören, geht nicht von einer sprachspezifischen Disposition des Kindes und angeborenen sprachspezifischen Lernmechanismen aus, vielmehr reichen für die Bewältigung des Spracherwerbs allgemeine Lernmechanismen, der Input sowie Interaktionen mit der Umwelt aus.

2.1. Das behavioristische Konzept des Spracherwerbs

Der Behaviorismus, die psychologische Schule Englands von Beginn bis Mitte des 20. Jahrhunderts, nimmt an, dass der Spracherwerb in erster Linie durch „Imitation, Konditionierung, Reinforcement“ (Prillwitz/Jochens/Stosch 1975:13) gesteuert wird. Nach behavioristischer Ansicht imitieren Kinder von Beginn an die Erwachsenensprache, tun dies aufgrund ihrer noch geringen kognitiven und physischen Entwicklung anfangs jedoch noch fehlerhaft. Die Kindersprache ähnelt daher einer „defekte[n] Erwachsenensprache“ (Zimmer 1986:11). Die Annahme, dass Kinder Sprache durch Imitation der Erwachsenensprache mit anschließender Verstärkung erlernen, würde jedoch bedeuten, dass Menschen Sprache immer nur reproduzieren; doch die menschliche Sprache ist eben dadurch geprägt, dass sie sich ständig verändert, dass neue Wörter und Äußerungen produziert werden. Die Sprache unterliegt einem ständigen Wandel, der nicht möglich wäre, wenn Menschen immer nur die gehörte Sprache reproduzieren würden. Weiterhin sieht der Behaviorismus das Kind als einen „hohle[n] Organismus, der nur auf externe Reize und Verstärkungen reagiert“ (Mussen/Conger/Kagan 1976:247). Der aktive Anteil des Kindes am Spracherwerb wird dabei in keiner Weise gewürdigt. Auch die Tatsache, dass taube Kinder vor sich hin „babbeln“, widerlegt die Imitationsthese des Behaviorismus.

Wenn das Kind Sprache nicht durch Imitation von einzelnen Äußerungen erwirbt, liegt der Gedanke nahe, dass es eben nicht einzelne Wörter oder Wendungen „auswendig“ lernt, sondern vielmehr erlernt es die Regeln der Strukturen, die einer Sprache zugrunde liegen, also die Grammatik, so dass es später selber in der Lage ist, Wörter beliebig aneinanderzureihen und eigene Äußerungen zu produzieren. Diese kognitiv doch sehr beeindruckende Vorgehensweise für ein ansonsten noch nicht sehr weit entwickeltes Kind, führte Noam Chomsky zur Annahme einer sprachlichen Prädisposition des Kindes, ohne die eine solch komplexe Aufgabe wie der Spracherwerb sonst nicht lösbar wäre.

2.2. Das nativistische Konzept des Spracherwerbs

Noam Chomsky hat im Rahmen seiner Generativen Transformationsgrammatik auch ein Spracherwerbsmodell entwickelt, das von einem angeborenen Sprachlernmechanismus des Kindes ausgeht, dem sogenannten „Language Acquisition Device“ (LAD). Zusätzlich besitzt das Kind eine angeborene Universalgrammatik, die Prinzipien und Parameter aller Einzelsprachen enthält. Chomsky geht bei diesem sogenannten „Prinzipien-und-Parameter-Modell“ (P+P-Modell) davon aus, dass alle Sprachen der Welt auf einer für alle Sprachen gültigen Universalgrammatik basieren. Die Parameter sind deshalb einzelsprachliche Ausgestaltungen der universalen Prinzipien.

Der Input zeigt dem Kind, welche der linguistischen Universalien seiner angeborenen Grammatik der Sprache seiner Umwelt angehören. Tauchen Strukturen einmalig oder gar nicht auf, wird das Kind aufgrund seiner angeborenen linguistischen Universalien annehmen, dass diese nicht zu seiner Sprache gehören und die entsprechenden Regeln eliminieren. In diesem Modell ist der Grammatikerwerb ein „aktiver Prozess der Festsetzung von Parametern über die Sprache, die gelernt wird“ (Prillwitz/Jochens/Stosch 1975:37).

Die Funktion des sprachlichen Inputs bei Chomskys Modell ist also lediglich eine auslösende (Trigger-Funktion). Er löst das Festsetzen eines einzelsprachlichen Parameters aus und definiert so die Sprache, die erlernt werden soll sowie die zugehörigen Sprachbauprinzipien. Ein Beispiel für eine solche Parameterfestsetzung ist der sogenannte Pro-drop-Parameter. Sprachen wie das Spanische oder Italienische können grammatikalisch richtige Sätze bilden wie Canta (Er/sie singt), die Subjektposition kann also lexikalisch unbesetzt bleiben. Im Deutschen oder Englischen hingegen ist eine Äußerung wie Singt falsch, da es keine Pro-Drop-Sprachen sind (Fanselow/Felix 1987:139). Die Parameter und Prinzipien, die der sprachliche Input nicht belegt, werden eliminiert bzw. nicht weiter berücksichtigt. Das P+P-Modell arbeitet also nur mit der positiven Evidenz durch den sprachlichen Input.

Für dieses Modell spricht, so Chomsky, das Argument, dass das Erlernen einer Sprache für das Kind unmöglich wäre, wenn nicht irgendeine angeborene Restriktion für die möglichen Strukturen gegeben ist, die das Kind erwerben kann (Prillwitz/Jochens/Stosch 1975:36). Ohne eine angeborene Universalgrammatik müsste das Kind alle möglichen Regeln und Strukturen „durchprobieren“, durch die angeborene Grammatik weiß es, welche Regeln in einer Sprache überhaupt möglich sind und welche nicht. Spracherwerb sei allein durch induktive Generalisierung von grammatischen Regeln aus dem sprachlichen Input nicht möglich, da es erstens grammatikalische Strukturen gibt, die niemals an der Oberfläche von Äußerungen erscheinen, der sprachliche Input zweitens ungrammatikalische und unvollständige Äußerungen enthält und somit nicht dem Spracherwerb dienlich sein kann, er drittens endlich ist, während Kinder nach Vollendung des Spracherwerbs eine unendliche Menge neuer nie gehörter Wortkombinationen produzieren können und das Kind viertens durch sprachlichen Input keine negative Evidenz erfährt, d.h. Mütter korrigieren ungrammatikalische Äußerungen ihres Kindes nicht bzw. nicht konsequent. Dies müssten sie aber tun, da das Kind durch das Ausbleiben einer negativen Rückmeldung die der Äußerung zugrunde liegende grammatikalische Struktur internalisieren würde. Zur Erklärung des Spracherwerbs trotz der eben genannten Mängel des sprachlichen Inputs nimmt Chomsky die angeborene sprachliche Prädisposition des Kindes in Form der Universalgrammatik an.

Chomsky argumentiert weiter, dass trotz unterschiedlicher Umweltbedingungen dennoch die meisten Kinder ihre Sprache regelgerecht erlernen. Dies führt er als Beweis an, dass jedem Kind eine solche Universalgrammatik angeboren sein muss und die Umwelt keine große Rolle beim Erwerbsprozess spiele.

Auf die Kritik Chomskys an der Bedeutung des sprachlichen Inputs werde ich in Kapitel 4 näher eingehen.

2.3. Das interaktionistische Konzept des Spracherwerbs

Der Interaktionismus sieht als wichtigsten Bestandteil des Spracherwerbsprozesses die Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt.

Diese Theorie nimmt keine angeborene Sprachfähigkeit des Kindes an, sondern sieht den Weg zur Sprache begründet in der „kindliche[n] Erfahrung mit einer spezifischen Sprache und mit der sozialen Welt“ (Hennon/Hirsh-Pasek/Golinkoff 2000:42). Die Interaktionisten gehen davon aus, dass das Kind ganz allgemeine und keine sprachspezifischen Lernmechanismen zum Spracherwerb benötigt. Sie argumentieren, dass eben die „Lernvorgänge, durch die das Kind die Umgebung auf Ereignisse analysiert, zwischen Handlungen und Gegenständen, zwischen Handelnden und von einer Handlung Betroffenen unterscheidet, ihm auch den Spracherwerb ermöglichen.“ (Dittmann 2002:64f.).

Die spezifische Sprache ist ein Merkmal der Interaktion zwischen Eltern und Kind in westlichen Kulturkreisen. Eltern bzw. andere Bezugspersonen bieten ihren Kindern einen syntaktisch und semantisch vereinfachten, besonders klar gegliederten sprachlichen Input, der es dem Kind ermöglicht, sprachliche Strukturen induktiv abzuleiten. Durch implizite Korrekturen erhalten Kinder negative Evidenz, was eine Annahme angeborenen sprachlichen Wissens unnötig macht. Diese Annahme wird jedoch von Rosemarie Tracy (1990) widerlegt, worauf ich später noch eingehen werde.

Ebenso erwiesen ist, dass sprachlicher Input für den Spracherwerb relevant ist, es stellt sich jedoch die Frage, wann er auch förderlich ist.

Jerome Bruner, Vertreter der „starken“ Von-außen-nach-Innen-Theorie, geht davon aus, dass sich Sprache und ihre Grammatik durch gemeinsames Handeln entwickeln (in: Ritterfeld 2000). Äußert das Kind etwas oder handelt es, reagiert die Mutter darauf und interpretiert sein Verhalten. So entstehen soziale Routinen, aus denen der Säugling Erwartungen ableiten kann: handelt er auf eine gewisse Weise, wird die Mutter auf die entsprechende Weise reagieren. Die Erfüllung dieser Erwartung prägt sich dem Kind ein, und so lernt es durch das Verhalten der Mutter, was es selbst gemeint hat. Diese so entstandenen Handlungsmuster dienen nach Bruner als Grundlage für die Entwicklung sprachlicher Muster.

Während die nativistische Theorie die soziale Umwelt und ihre spezifischen Verhaltensweisen nicht als essentiell für den Spracherwerb betrachtet, sieht die interaktionistische Theorie hierin die Grundvoraussetzung für den Spracherwerb.

2.4. Neuere Spracherwerbskonzepte

Neben diesen beiden Gruppen haben sich auch noch andere Modelle entwickelt, die aber meist einige Gesichtspunkte der beiden „großen“ Theorien vereinen, so z.B. das Spracherwerbskonzept der sogenannten „Radikalen Mitte“, die in der Mitte der Von-Innen-Nach-Außen- und Von-außen-nach-innen-Theorie steht (Hennon/ Hirsh-Pasek/Golinkoff 2000:46). Sie vereint Ansichten aus beiden Familien in sich, die Bezeichnung „radikal“ erscheint daher etwas fragwürdig.

Die „Radikale Mitte“ geht davon aus, dass der Spracherwerb sich durch das Zusammenspiel biologischer und äußerer Faktoren vollzieht. Dieser Position schließt sich Keller (2000) an, sie postuliert die genetisch angelegte Disposition von Reizverarbeitungsmechanismen, sensorischen Fähigkeiten, einem visuellen Interesse, einer Motivation, Laute zu produzieren, einer Präferenz für die menschliche Stimme sowie einem Mechanismus zum Erkennen von Kontingenzen. Letzterer hilft dem Kind, kausale Relationen zwischen seinem Verhalten und der Reaktion seiner Umwelt zu entdecken und so zu verstehen, was seine eigenen Handlungen bedeuten.

Auch Grimm verneint die Möglichkeit einer angeborenen Universalgrammatik des Kindes, sondern meint vielmehr, dass der Spracherwerb das Ergebnis eines Lernprozesses sei, der auf dem Zusammenwirken von Vorausläuferfähigkeiten, nämlich der sozialen Kognition, der Wahrnehmung und der Kognition beruht.

Hennon/Hirsh-Pasek/Golinkoff (2000:59) zeigen, dass Säuglinge eine Prädisposition besitzen, „bestimmte sprachliche Hinweise im Sprachstrom zu bemerken und das Gehörte aktiv zu analysieren.“ Dieser Prädisposition entsprechen Mütter besonders durch die Verwendung kindgerichteter Sprache.

Die Annahme eines Zusammenspiels von angeborenen kognitiven Fähigkeiten und äußeren Umweltfaktoren könnte somit eine Angeborenheit sprachspezifischer Fähigkeiten (z.B. in Form einer Universalgrammatik) unnötig machen.

3. Zum Begriff des kindgerichteten Sprechens

Chomskys Kritik am sprachlichen Input, besonders sein Argument der „Armut des sprachlichen Stimulus“, führte zur Untersuchung jener Sprache, die Eltern, aber auch andere Personen in unserem Kulturkreis an Säuglinge und kleine Kinder richten. Man versuchte herauszufinden, ob der sprachliche Input, den ein Kind empfängt, wirklich derart ungrammatikalisch und für den Spracherwerb ungebräuchlich ist, wie Chomsky darlegte.

Dabei ist es wichtig, zwischen den Begriffen des sprachlichen Inputs und kindgerichteter Sprache zu unterscheiden. Sprachlicher Input bezeichnet alle sprachlichen Daten, die ein Kind von seiner Umgebung aufnimmt, also sowohl Kommunikation unter Erwachsenen, die das Kind nur mit anhört, als auch zwischen Erwachsenem und Kind. Kindgerichtete Sprache bezeichnet nur jene Sprachdaten, die explizit an das Kind gerichtet wird.

Darüber hinaus bezeichnet kindgerichtete Sprache nach Szagun (1996) aber auch jenes Register, das syntaktisch, semantisch und prosodisch speziell an das Entwicklungsniveau des Kindes angepasst ist.

[...]


[1] Wenn ich im folgenden von kindgerichteter Sprache spreche, meine ich die speziellen Register der Baby-, der stützenden und der lehrenden Sprache, also jene Register mit an den Entwicklungsstand des Kindes angepassten Modifikationen und nicht „Erwachsenensprache“, die Eltern in anderen Kulturen an ein Kind richten.

[2] Der Ausdruck „Mutter“ wird synonym für die Hauptsbezugsperson eines Kindes verwendet. Dabei kann es sich ebenso um den Vater oder andere Bezugspersonen handeln. In der Literatur zur Inputforschung wurde bisher jedoch hauptsächlich die Sprechweise der Mutter untersucht.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Zur Rolle des kindgerichteten Sprechens beim Erstspracherwerb
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
35
Katalognummer
V54686
ISBN (eBook)
9783638498258
ISBN (Buch)
9783638663441
Dateigröße
595 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rolle, Sprechens, Erstspracherwerb
Arbeit zitieren
Bernadette Bideau (Autor:in), 2006, Zur Rolle des kindgerichteten Sprechens beim Erstspracherwerb, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/54686

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