Als in Gustave Flauberts Roman ”Madame Bovary” die Heldin gestorben ist, kommt es zu einer denkwürdigen Szene: Ein Priester und der lokale Apotheker Homais wachen über Nacht am Bett der Toten. Der Priester betet immer wieder, während der Bürger Homais, der seine Töchter nach Stücken von Voltaire genannt hat, ganz im Geist aufgeklärter Hygiene desinfizierendes Chlor im Haus verbreitet. Hin und wieder entspinnen sich zwischen den beiden heftige Diskussionen um Religion und Kirche. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war also zumindest in Frankreich die Entgegensetzung von Priester und aufgeklärt-rationalem Bürger schon gängig genug, um zur Karikatur zu werden.
Die These vom Bürgertum als Säkularisierungsmacht hat sich in Grundzügen bis ins 20. Jahrhundert gehalten. Jedoch wurden die wenigsten Bürger im 18. Jahrhundert einfach Atheisten. Schon Bernhard Groethuysen erkannte, dass die Bürger die Religion nicht einfach aus ihrem Leben verbannten, dass sie aber einen Weg fanden, große Teiles ihres Lebens unabhängig von religiösen Wahrheiten zu organisieren.
Diese Entwicklung ist nicht nur im engen Rahmen einer Geschichte des Bürgertums interessant, denn zahlreiche Elemente der bürgerlichen Lebensweise haben sich während des 19. und 20. Jahrhunderts auch in anderen Schichten verbreitet. Die besondere Wertschätzung von Bildung innerhalb des Bürgertums, verbunden mit dem Anspruch, eine für alle Menschen erstrebenswerte Lebensweise entwickelt zu haben, gehören zu den Ursachen dieser “Verbürgerlicherung”. Gerade die Elementarschulen auf dem Land wurden dabei im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zum Ziel einer von bürgerlichen Werten durchdrungenen Aufklärungs- und Bildungsbewegung, die in der Erziehung das entscheidende Mittel zu einer besseren Gesellschaft sah. In dieser Arbeit soll untersucht werden, wie sich Religion und bürgerliche Werte in den Schulbüchern, die diese Be-wegung hinterlassen hat, zueinander verhalten.
Zunächst werde ich dabei auf die historiographische Kategorie des Bürgertums näher eingehen. Dann wird es um das Elementarschulwesen der frühen Neuzeit, um dessen Erneuerung im späten 18. Jahrhundert, sowie um einen der wichtigsten Bildungsreformer dieser Zeit, Friedrich Eberhard von Rochow, gehen.
Im zweiten Teil sollen schließlich einige Schulbücher des 18. Jahrhunderts auf ihre Beziehung zu bestimmten Schlüsselbegriffen bürgerlicher Kultur, nämlich “Religion”, “Moral”, “Bildung” und “Arbeit” untersucht werden.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Bürgertum als historiographische Kategorie
- Sozialgeschichtliche Entwicklung
- Bürgerliche Kultur
- Bürgerliche Religiosität
- Schulen und Schulreform im 18. Jahrhundert
- Elementarschulen im 18. Jahrhundert
- Rochows Musterschule und der "Kinderfreund"
- Inhaltliche Aspekte des ”Kinderfreund” und anderer Lesebücher
- Religion und Frömmigkeit
- Moral und Lebensführung
- Wissen und Bildung
- Arbeit
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit untersucht die Interaktion zwischen Religion und bürgerlichen Werten in Schulbüchern des späten 18. Jahrhunderts. Sie beleuchtet, wie die Aufklärungs- und Bildungsbewegung, die in der Erziehung eine bessere Gesellschaft sah, bürgerliche Werte in die Elementarschulen einbrachte.
- Die Entwicklung des Bürgertums als historiographische Kategorie
- Die Bedeutung von Schulen und Schulreform im 18. Jahrhundert
- Die Analyse von Schulbüchern hinsichtlich ihrer Darstellung von Religion, Moral, Bildung und Arbeit
- Der Einfluss von Friedrich Eberhard von Rochow und seinem Werk "Kinderfreund" auf die Bildung
- Die Relevanz von Schulbüchern als Spiegelbild kollektiver Normen und Wertvorstellungen
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Diese Einleitung stellt den Kontext der Arbeit vor und beleuchtet die These vom Bürgertum als Säkularisierungsmacht. Sie führt den "Kinderfreund" von Friedrich Eberhard von Rochow als zentrales Beispiel ein und erklärt die Methodik der Untersuchung.
- Bürgertum als historiographische Kategorie: Dieses Kapitel befasst sich mit dem Begriff des Bürgertums und seiner Entwicklung, insbesondere der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung sowie der kulturellen Bedeutung.
- Schulen und Schulreform im 18. Jahrhundert: Dieses Kapitel beschreibt das Elementarschulwesen der frühen Neuzeit und die Erneuerung im späten 18. Jahrhundert. Es konzentriert sich auf Friedrich Eberhard von Rochow und seinen Beitrag zur Bildungsreform.
- Inhaltliche Aspekte des ”Kinderfreund” und anderer Lesebücher: Dieses Kapitel untersucht die Darstellung von Religion, Moral, Bildung und Arbeit in Schulbüchern des 18. Jahrhunderts. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Rochows "Kinderfreund".
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit den Schlüsselbegriffen Bürgertum, Säkularisierung, Bildung, Religion, Moral, Arbeit und Schulbücher. Sie beleuchtet die Rolle von Friedrich Eberhard von Rochow und seinem "Kinderfreund" im Kontext der Schulreform im 18. Jahrhundert. Die Analyse fokussiert auf die Verbindung von bürgerlichen Werten und Religion in den untersuchten Schulbüchern.
- Arbeit zitieren
- Moritz Deutschmann (Autor:in), 2006, Säkularisierung und bürgerliche Tugenden in Schulbüchern des späten 18. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/54784