Picassos Kunst bildet einen fast nicht zu durchschauenden Kosmos. Dennoch wurden annähernd alle Abschnitte und Aspekte seines Schaffens schnell in der Literatur besprochen. Doch der auch quantitativ äußerst repräsentative Beitrag zum Thema „Kind in der Kunst“ wurde bis in die fünfziger Jahre verschwiegen. Bilder von Paulo oder Maya sowie von Claude und Paloma wurden nicht behandelt.
Ein größeres Interesse entstand erst in den neunziger Jahren.
Bezeichnend ist, dass es gerade die Portraits der eigenen Kinder sind, die Picasso als „Familiengalerie“ in seinem Atelier bewusst vor dem Blick Außenstehender bewahrte. Seine Kinderportraits und Kindergenres haben den Status eines privaten Familienfotoalbums. Auch die Darstellungen von Françoise und Jaqueline sowie die plastischen Werke fanden sich ausschließlich im Nachlass.1 Diese Tatsache kann zu einem gewissen Grad als Grund für die Nichtbehandlung des Themas in der Literatur angesehen werden.
1 Vgl. Spies, 1995, S. 14f.; Kay, 1966, S. 14.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Forschungsbericht
2. Exkurs: Gedanken zur Bedeutung der Kindheit in der modernen Kunst
3. Rückblick: Picassos Kinderdarstellungen von Paulo und Maya
4. Claude und Paloma als Auslöser für Picassos intensive Auseinandersetzung mit der Kindheit
4.1. Picasso als beobachtender Vater
4.1.1. Beschreibung von „Claude und Paloma beim Zeichnen“
4.1.2. Der quietistische Ausdruck des Kindlichen
4.2. Assemblagen aus Fundstücken und Spielzeug
4.2.1. Beschreibung von „Kleines seilspringendes Mädchen“
4.2.2. Picassos Adaptation einer kindlich schöpferischen Taktik
4.2.3. Beschreibung von „Frau mit Kinderwagen“
4.2.4. Picassos Interesse am Sehen des Kindes
5. Die Inszenierung einer Familie und die Problematik der getrennten Welten
6. Die Frage der nachempfundenen Kindheit Picassos
Literaturverzeichnis
1. Einleitung und Forschungsbericht
Picassos Kunst bildet einen fast nicht zu durchschauenden Kosmos. Dennoch wurden annähernd alle Abschnitte und Aspekte seines Schaffens schnell in der Literatur besprochen. Doch der auch quantitativ äußerst repräsentative Beitrag zum Thema „Kind in der Kunst“ wurde bis in die fünfziger Jahre verschwiegen. Bilder von Paulo oder Maya sowie von Claude und Paloma wurden nicht behandelt.
Erstmals stellte Helen Kay 1966 mit Picassos Welt der Kinder[1] dieses Thema vor. Ein größeres Interesse entstand erst in den neunziger Jahren. Mit Werner Spies` 1994 erschienen Beitrag über Picasso – Die Welt der Kinder[2] und dem 1995 daraus entstandenen Ausstellungskatalog Picassos Welt der Kinder[3] erschienen grundlegende Publikationen zu diesem ansonsten sehr rar behandelten Thema. Dem schloss sich 1995 auch Jonathan Fineberg an. Sein Katalog Im Auge des Kindes[4], greift neben Klee und Kandinsky auch Picasso unter der Thematik der Adaptation der Kinderzeichnung auf. Diesem literarischen Anstoß folgten weitere Ausstellungen zu übergreifenden Themen, meist mit Werner Spies als Beitraggeber. Bei vielen Schriften dieser Jahre fällt die Rezeption Françoise Gilots Leben mit Picasso[5] von 1967 auf. Ihre Beschreibungen umfassen sogar Entstehungsprozesse einiger Plastiken und vermitteln ein detailliertes Bild über die Familienverhältnisse der in dieser Arbeit berücksichtigten Zeitspanne.
Bezeichnend ist, dass es gerade die Portraits der eigenen Kinder sind, die Picasso als „Familiengalerie“ in seinem Atelier bewusst vor dem Blick Außenstehender bewahrte. Seine Kinderportraits und Kindergenres haben den Status eines privaten Familienfotoalbums. Auch die Darstellungen von Françoise und Jaqueline sowie die plastischen Werke fanden sich ausschließlich im Nachlass.[6] Diese Tatsache kann zu einem gewissen Grad als Grund für die Nichtbehandlung des Themas in der Literatur angesehen werden.
Die Gattungen, die Picasso heranzieht, sind abwechslungsreich. Die Skala reicht von der genrehaften Verwendung des Kindes über die mythologische Ausschmückung und das Einzelportrait bis hin zur Darstellung von Mutter und Kind und zum Familienbild. Doch hat sich Picasso mit dem Thema Kindheit nicht kontinuierlich abgegeben. Sein Œuvre behandelt in chronologischem Zusammenhang widersprüchliche Stimmungen wie Zärtlichkeit, Angst, Erlösungsbedürfnis oder Freude. Im Großen und Ganzen kann zwischen „unpersönlichen“ und den hier ausschließlich berücksichtigten eigenen Kindern unterschieden werden.
Im Rahmen des Familienlebens mit Françoise Gilot kommt es in Picassos Kunst zu auffälligen Entwicklungen. Picasso führt mit der Geburt Claudes und Palomas in den 40er und 50er Jahren durch die Präsentation einer scheinbar so nahen Kinderwelt etwas Fernes vor; fremde unverständliche Verhaltensweisen geraten in den Blick. Fasziniert be-obachtet er das wilde, unzivilisierte Gebaren der Kinder. Es treten aufgrund der fremdartigen Gestik neue Bewegungsmotive in sein Werk ein. So besehen könnte diese Auseinandersetzung mit dem Kind auch als Jagd nach einer unbekannten Welt der Formen betrachtet werden.
Nun stellt sich die Frage, inwieweit sich Picassos Auseinandersetzung mit der Kindheit zu dieser Zeit in Form von Beobachten und Übernahme kindlicher Techniken spiegelt. Hierzu soll das Gemälde Claude und Paloma beim Zeichnen sowie die Assemblage Kleines seilspringendes Mädchen behandelt und anhand der Assemblage Frau mit Kinderwagen gezeigt werden, ob sich Picasso einen „kindlichen Blick“ angeeignet hatte.
Doch inwieweit war Picasso nun wirklich Familie und Kindheit verschrieben? Um ein Erfassen des Werks Picassos überhaupt möglich zu machen, wird sich im Folgenden zeigen, dass dies ohne die Berücksichtigung des Menschen Picasso nicht möglich ist. Aus Fotos und Erzählungen Françoise Gilots lässt sich nämlich eher eine inszenierte Familie und anhand einiger seiner Äußerungen die Sehnsucht nach einer zweiten Kindheit vermuten.
2. Exkurs: Gedanken zur Bedeutung der Kindheit in der modernen Kunst
Die Sicht auf das Kind ist zwangsläufig eine erwachsene. Das Kind löst Nähe und Ferne zugleich aus, ist Subjekt und Objekt in einem und vor allem bietet es eine weite Projek- tionsfläche. Das Kind galt lange Zeit lediglich als Symbol für Wahrheit, verkörperte unverdorbene Naivität und Unschuld und indem ihm all die Eigenschaften aufgebürdet
wurden, die der erwachsene Mensch in seinem Lebenszusammenhang vermisst, wurde Kindheit zum Ideal stilisiert.[7] Natürlich haben solche Strategien der Erhöhung den Blick auf die reale, ungeschönte Individualität des Kindes erheblich eingeschränkt.
Erst in den 60er/ 70er Jahren des 20.Jahrhunderts wurde Kritik an dem romantischen Konzept von Kindheit laut. So kritisierte Ariès nämlich die Entfremdung der Kinder durch Familie und Schule aufgrund der separierenden Erwachsenengesellschaft. Die zunehmende Strenge und Disziplin in Schulen und Internaten haben nach Ariès größtenteils trennende und isolierende Auswirkungen auf Kinder in der Erwachsenengesellschaft.[8]
So entwickelte sich im Bereich der Sozialwissenschaften und der Pädagogik ein neues Konzept von Kindheit. Dieses lässt sich mit Schlagworten wie antiautoritäre Erziehung oder Antipädagogik benennen.
Die bedeutendste Beziehung zwischen Kunst und Kind besteht nun im 20. Jahrhundert nicht im ikonographischen Vorkommen des Motivs, sondern in der künstlerischen Adaption des kindlichen zeichnerischen Ausdrucks. Die Identifikation mit der kindlichen Anschauungsweise gewinnt im Laufe der Zeit für das Selbstverständnis des Künstlers eine große Bedeutung. Der Kult um die Kinderzeichnung speist sich aus einer Mischung von Trauer über verlorene Paradiese und einer antiakademischen Aufbruchsstimmung, die im Verlernen von stereotypen Kunstfertigkeiten und dem Auffinden von primitiven, einfachen Kunstäußerungen einen Ausweg sucht.[9]
Auch bei Paul Klee, der sogar seine eigenen Kinderbilder wiederentdeckte[10], Wassily Kandinsky, Joan Miró, Jean Dubuffet, Pablo Picasso, später auch bei Jackson Pollock ist diese Art der Rezeption zu finden. Das Kind wurde damit für eine ganze Epoche zum inspirierenden Genius. Für den Künstler ging es darum, den Ausdruck des Paradieses der Kindheit in der kindlichen Malgeste wiederzufinden.[11] Dennoch ist zu bemerken, dass es den Künstlern meist in erster Linie lediglich darum ging, die allgemeinen Merkmale zu erkunden und nutzbar zu machen, die das spezifisch Kindliche ausmachten.[12]
3. Rückblick: Picassos Kinderdarstellungen von Paulo und Maya
Eigenständige Darstellungen von Kindern sind eine Errungenschaft der neueren Zeit. Die Entfaltung des Themas in der Kunst zeigt, dass man es lange bei einem hübschen Motiv beließ oder man das Kind als kleinen Erwachsenen sah. Picasso setzt sich in seinem Frühwerk mit dieser Vorstellung auseinander. Er greift immer wieder auf die Darstellung von klassischen Spielrequisiten wie Puppe und Pferdchen und später auch Spielhandlungen zurück, um seine Modelle als Kinder auszuzeichnen.[13]
Picassos Portraits seines Sohnes Paulo stehen am Übergang aus der Domäne der „unpersönlichen“ Kinder. Nur zögernd nähert sich Picasso der väterlich familiären Intimität. Idealisierte Mutter- Kind- Darstellungen erscheinen nur kurz nach der Geburt Paulos 1921. Danach portraitiert er ihn frontal mit einem Spielzeug oder beim Zeichnen. Doch konkret beobachtete Szenen der Kindheit treten kaum ins Werk. Paulo erscheint viel mehr als steifer Statist in einer ihm durch entsprechende Kostüme auferlegten Rolle.[14]
Um einiges anders stellt er Jahre später seine Tochter Maya dar. Schon von ihrer Geburt 1935 an gibt Picasso Maya malerisch wieder. Picasso wendet sich der kindlichen Gebärdensprache zu und beginnt mit der Beobachtung des kindlichen Verhaltens.
Doch zu einem gewissen Maß beschränkt er sich dabei auch hier auf statische Kompositionen. Immer zeigt Picasso das Kind allein, frontal und ohne Spielkameraden, wie in Maya mit ihrer Puppe von 30. Januar 1938. (Abb. 1). Es ist in seinem Kindsein genauso isoliert wie damals Paulo auf seinen Bildern. Durch den angewandten Stilpluralismus wird das Kindlich-Anmutige der Erscheinung durch einen tiefen Ernst ausbalanciert.
Entscheidend für die Identifikation des Kindes sind Attribute, also Accessoires wie die Garderobe, die Stoffe, die Rüschen, die Bänder im Haar und das Spielzeug. Deshalb braucht er sie nicht wie Paulo in einen Harlekin oder einen Torero zu verwandeln. Der Körper als ganzer, der große Kopf, die großen Hände und Füße, sie bringen zudem den Ausdruck des Kindlichen zustande.
Die Wiedergabe des Kindes bleibt vor dem Zugriff der Variation weitgehend bewahrt. Portraits von Kindern sind meist Einzelbilder deren Realitätsstufe nicht gesteigert werden. So scheint Picasso einer familiären und ästhetischen Kontrolle zu unterliegen. Auch später werden seine Kinder Claude und Paloma nicht im negativen Sinne deformiert. Man kann hier wohl von einer Deformationsscheu sprechen, die allerdings nur seine eigenen Kinder betrifft.[15]
Bis zum Ende der dreißiger Jahre also bleibt das Moment der kindlichen Offenheit Picassos eher latent spürbar; nach Mayas Geburt tritt es jedoch stärker hervor und um 1950 gewinnt es eine herausragende Bedeutung.
4. Claude und Paloma als Auslöser für Picassos intensive Auseinandersetzung mit der Kindheit
Ende der vierziger Jahre bekommt der nun bereits 65 bzw. 67 Jahre alte Picasso mit der um vierzig Jahre jüngeren Françoise zwei neue Kinder, Claude (geb. 1947) und Paloma (geb. 1949). Sie sind in vielen Bildern, Zeichnungen und Graphiken präsent.
Die Kinder werden nun nicht mehr an ihren Attributen als solche erkannt, sondern sie werden immer öfter ins Spiel vertieft dargestellt und so charakterisiert. Vor allem in den Kompositionen, die Claude und Paloma zusammen zeigen, ist nichts Wohlerzogenes zu spüren. In jenen Bildern kriechen Claude und Paloma auf allen vieren auf dem Boden herum und werden bei ihren ersten Schritten verfolgt. (Abb.2+3). Das Sujet belegt, dass Picasso die Momentaufnahme einer brutalen, überraschenden Motorik zu diesem Zeitpunkt fasziniert.
[...]
[1] Helen Kay: Picassos Welt der Kinder. Mit einer Einführung von Daniel- Henry Kahnweiler, München/ Zürich 1966.
[2] Werner Spies: Picasso. Die Welt der Kinder, München/ New York 1994.
[3] Werner Spies (Hg.): Picassos Welt der Kinder. Mit Beiträgen von Doris Krystof/ Sigrid Metken sowie Erinnerungen von Maya Picasso. Ausstellungskatalog anlässlich der Ausstellungen in der Kunstsammlung Nordrhein- Westfalen, Düsseldorf 9.9. bis 3.12.1995 und der Staatsgalerie Stuttgart 16.12.1995 bis 10.3.1996, München / New York 1995.
[4] Jonathan Fineberg, Helmut Friedel/ Josef Helfenstein (Hg.): Mit dem Auge des Kindes. Kinderzeichnung und moderne Kunst, erschienen anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Lembachhaus, Kunstbau, München, vom 31. Mai bis 20. August 1995 und im Kunstmuseum Bern vom 7. September bis 26. November 1995.
[5] Françoise Gilot/ Carlton Lake: Leben mit Picasso, Stuttgart/ Hamburg 1967.
[6] Vgl. Spies, 1995, S. 14f.; Kay, 1966, S. 14.
[7] Vgl. Fineberg, 1995, S. 18.
[8] Vgl. Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit, Mit einem Vorwort von Hartmut von Hentig, 4. Auflage, München/ Wien 1977, S. 97, 100, 215f., 457, 561f.
[9] Vgl. Fineberg, 1995, S. 32, 147, 218f., 233.; George Boas: The Cult of Childhood, London 1966 (= E.H. Gombrich (Hg.), Studies of the Warburg Institute, Band 29.), S. 68f, 70f., 76.
[10] Vgl. Fineberg, 1995, S. 11.
[11] Vgl. Eckart Liebau: Das Kind als Künstler, in: Johannes Bilstein (Hg.)/ Eckart Liebau (Hg.)/ Matthias Winzen (Hg.): Mutter, Kind, Vater. Bilder aus Kunst und Wissenschaft, Gesamtband mit drei modifizierten Teilkatalogen für die Trinitätskirche Köln, Kunsthalle Nürnberg und das Haus am Waldsee in Berlin, Köln 2000, S.109, 112f. ; Boas, 1966, S. 90ff.; Fineberg, 1995, S. 220.
[12] Vgl. Fineberg, 1995, S. 60.
[13] Vgl. Michael Parmentier : Ursprungsnähe und Zukunftsbezug, in: Johannes Bilstein (Hg.)/ Eckart Liebau (Hg.)/ Matthias Winzen (Hg.): Mutter, Kind, Vater. Bilder aus Kunst und Wissenschaft, Gesamtband mit drei modifizierten Teilkatalogen für die Trinitätskirche Köln, Kunsthalle Nürnberg und das Haus am Waldsee in Berlin, Köln 2000, S. 102. Zudem: Sigrid Metken: Kinderspielzeug – von Picasso gemalt und gemacht, in: Spies, 1995, S. 231.
14 Vgl. Maya Picasso: Erinnerungen – Kinderbilder, in: Spies, 1995, S. 57; 60.
[15] Vgl. zu den deformierten Gemälden unpersönlicher Kinder und der Scheu vor der Abwandlung seiner eigenen Kinder: Spies, 1995, S.43ff.
- Arbeit zitieren
- M.A. Saskia Dams (Autor:in), 2002, Picasso als beobachtender Vater, die Inszenierung einer Familie und seine nachempfundene Kindheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/5502
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