Obwohl der Wiener Expressionist und Aktivist Robert Müller (1887-1924) zu den bedeutendsten Autoren seiner Zeit zählt und die Aufmerksamkeit des Literaturhistorikers wie des literarischen Lesers verdient, ist er seltsamerweise heute kaum bekannt, seine Visionen fast vergessen.
Seine zahlreichen Essays sowie exotischen, utopistischen und zeitbezogenen Romane fanden unter Zeitgenossen wie Musil, Th. Mann, K. Kraus, Döblin und Flake weitreichende Beachtung. Zum einen zeichnen sie sich durch eine bemerkenswerte sprachliche Virtuosität aus – die erzähltechnischen Raffinessen, mit denen der Autor operiert, und die Passagenweise faszinierende Sprachgewalt waren nicht nur ihrer Zeit weit voraus, sondern entziehen sich literarischen Vergleichen weithin überhaupt. Zum anderen geben Müllers literarische Werke Aufschluss über eine Epoche, die, geprägt von Krieg und Krisen, Umbruch und Zweifel, viele Menschen in den im Zuge der Industrialisierung neu entstandenen grauen Großstädten in Depressionen stürzte und zahlreiche in den Selbstmord trieb. Auch Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften und in der Philosophie – man denke beispielsweise an Sigmund Freud oder Friedrich Nietzsche – trugen zur allgemeinen Verunsicherung bei, da sich mitunter die Frage stellte, ob man überhaupt noch irgend etwas mit Sicherheit feststellen könne.
Müllers Werke spiegeln die emotionale Zerrüttung, die Sinnkrise jener als "Expressionistisches Jahrzehnt" bekannten Zeit wider und versuchen gleichzeitig, philosophischen Fragen um das Wesen des Menschen und sein Verhältnis zu der Welt, in der er lebt, auf den Grund zu gehen.
Sein bekanntester Roman „Tropen“, der zu den Hauptwerken des Expressionismus gezählt wird, lässt den tragischen Identitätsverlust erkennen, den viele Zeitgenossen empfanden, und vereint zugleich eindrucksvoll die beiden Hauptströmungen des literarischen Expressionismus: jene von Ich-Dissoziation, von der Entzweiung von Ich und Welt geprägten, die Selbstentfremdung des Individuums widerspiegelnde Strömung auf der einen Seite, und auf der anderen jene als „Messianischer Expressionismus“ bekannte Richtung, die prophetisch ein neues Zeitalter ankündigt, das sich aus der Asche des alten erheben wird – den Sturz ins Chaos und den Weg hinaus.
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- I
- 1. An der Oberfläche
- 2. Stil und Sprache
- 3. Authentizitätsansprüche – Fiktion und Wirklichkeit des Vorworts
- II Rückschritte - Der Zerfall des Ich
- 1. Die Tropen als Tropus oder: Der Dschungel in uns
- 2. Ästhetik der Gewalt und der Wille zur Lust
- 3. Identitätsverlust - Ausgelöscht von der Landkarte
- III Die Reise zum Neuen Menschen - Reisen, Rassen, Kulturkritik, die Pace und der neue Mensch
- IV Das Wesen der Wirklichkeit
- 1. Paradoxa, Phantoplasma und die fünfte Dimension
- 2. Spiegelungen und Fiktionsebenen – Die doppelte Person und das doppelte Buch
- 3. Eine Detektivgeschichte – Der detektivische Leser und der schizoide Ich-Erzähler
- V Zusammenfassung und Schlussgedanken
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Magisterarbeit befasst sich mit der fiktionalen Struktur und der philosophischen Entwicklung im Roman "Tropen" von Robert Müller. Die Arbeit zielt darauf ab, die komplexen Ebenen der Fiktion und die Entstehung einer eigenen Philosophie in Müllers Werk aufzuzeigen.
- Die Rolle von Fiktion und Wirklichkeit in "Tropen"
- Der Zerfall des Ich und die Suche nach Identität
- Der Einfluss des Expressionismus und Aktivismus auf Müllers Werk
- Rassenideologie und Kulturkritik im Kontext des frühen 20. Jahrhunderts
- Die Darstellung des "neuen Menschen" in "Tropen"
Zusammenfassung der Kapitel
- Vorwort: Das Vorwort beleuchtet die Bedeutung von Robert Müllers Roman "Tropen" im Kontext des Expressionismus und stellt den Autor und sein Leben vor. Besonderes Augenmerk liegt auf Müllers Engagement im Aktivismus und seiner ambivalenten Haltung zum Ersten Weltkrieg.
- I: An der Oberfläche, Stil und Sprache, Authentizitätsansprüche – Fiktion und Wirklichkeit des Vorworts: Diese Kapitel analysieren die sprachliche Gestaltung des Romans und untersuchen die Beziehung zwischen Fiktion und Realität im Vorwort. Es wird gezeigt, wie Müller die Grenzen zwischen Autor und Erzähler verwischt und die Authentizität seiner Aussagen in Frage stellt.
- II: Rückschritte - Der Zerfall des Ich: Die Kapitel befassen sich mit dem Zerfall des Ich im Roman. Es wird gezeigt, wie die Protagonisten mit den Folgen des Krieges, der gesellschaftlichen Umbrüche und der eigenen Identitätsverlusten kämpfen. Die Tropen als Symbol für den inneren "Dschungel" des menschlichen Bewusstseins stehen im Mittelpunkt der Betrachtung.
- III: Die Reise zum Neuen Menschen - Reisen, Rassen, Kulturkritik, die Pace und der neue Mensch: Dieses Kapitel untersucht die Konzepte des "neuen Menschen" und die Bedeutung von Reisen, Rassen und Kulturkritik in "Tropen". Es wird deutlich, wie Müller auf die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen seiner Zeit reagiert und eine neue Form des Menschseins propagiert.
- IV: Das Wesen der Wirklichkeit: Die Kapitel beschäftigen sich mit den philosophischen Grundfragen des Romans, die sich um die Natur der Wirklichkeit drehen. Müller erforscht Paradoxa, Fiktionsebenen und die "fünfte Dimension" des Bewusstseins, um die komplexen Strukturen der Realität zu analysieren.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit zentralen Themen der expressionistischen Literatur und der philosophischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit im frühen 20. Jahrhundert. Schlüsselwörter sind: Expressionismus, Aktivismus, Fiktionsstruktur, Identität, "neuer Mensch", Rassenideologie, Kulturkritik, Paradoxa, Phantoplasma, "fünfte Dimension", Detektivgeschichte.
- Quote paper
- Marcel Schaefer (Author), 2006, Das Wesen der Wirklichkeit und die Reise zum Menschen - Zur Fiktionsstruktur und zur Entwicklung einer Philosophie in Robert Müllers Roman "Tropen", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55129