Rechtliche Grenzen des Reality-TV vor dem Hintergrund der Menschenwürde


Hausarbeit, 2005

47 Seiten, Note: 16 Punkte (1)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Medienwissenschaftliche Einordnung des Untersuchungsgegenstandes „Reality-TV“

III. Rechtsgrundlagen für das Fernsehen
1. Die Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs.1 Satz 2 GG
2. Einfachgesetzliche Umsetzung der Vorgaben des BVerfG

IV. Die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG
1.) Grundrechtscharakter der Menschenwürde
2.) Schutz der Menschenwürde durch den Staat?
3.) Schutzpflicht gegenüber dem Rundfunk?
4.) Erforderliche Maßnahmen zum Schutz der Menschenwürde im Rundfunk
5.) Schutzbereich der Menschenwürde
a) Unantastbarer Höchstwert der Verfassung
b) Positive Bestimmung des Schutzbereichs
c) Negative Bestimmung des Schutzbereichs
6. Menschenwürdeverletzung
a) Gefährdungslage
b) Verletzungsintensität
c) Verletzungszusammenhang

V. Schutz der Menschenwürde durch allgemeine Programmgrundsätze
1. Was sind Programmgrundsätze?
2. Einfachgesetzliche Verankerung der Programmgrundsätze
3. Programmgrundsätze als Schranken der Rundfunkfreiheit?
4. Sind Programmgrundsätze „allgemeine Gesetze“ im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG?
5. Materiell-rechtlicher Inhalt der Programmgrundsätze zum Schutze der Menschenwürde

VI. Mögliche Verletzungen der Menschenwürde durch Reality-TV
1. Unterschiedliche Schutzgüter
2. Teilnehmerschutz
a) Problem der Einwilligung
aa) Zur Disponibilität der Menschenwürde am Beispiel der Diskussion um „Big Brother“
bb) Überschaubarkeit des Einwilligungsinhalts
b) Konkrete Verletzungslagen
aa) Zwang als Voraussetzung für eine subjektive Menschenwürdeverletzung
bb) Unzulässige Kommerzialisierung des Menschen
cc) Kontrollverlust und Verächtlichmachung bzw. Herabwürdigung
dd) Selbstbezichtigung
ee) Gewaltdarstellung
3. Schutz der grundgesetzlichen Werteordnung
4. Rezipientenschutz

VII. Interventionsmöglichkeiten bei Verletzungen der Menschenwürde in Rundfunkprogrammen
1. Verhältnis RSTV und Landesmedien- Rundfunkgesetze
2. Unterschiedliche Kontrollsysteme
a) Öffentlich-rechtlicher Rundfunk
aa) Zuständigkeit
bb) Befugnisse des Rundfunkrates
b) Privater Rundfunk
aa) Zuständigkeit
bb) Befugnisse der Landesmedienanstalten
3. Staatliche Aufsicht über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die Landesmedienanstalten

VIII. Zusammenfassung

IX. Literaturverzeichnis
1. Monographien und Sammelwerke
2. Aufsätze
3. Zeitungsartikel
4. Sonstiges

I. Einleitung

Der Medienwissenschaftler Lothar Mikos konstatiert eine steigende lebensweltliche Orientierung des Fernsehens. Es gewinnen immer stärker solche Formate an Bedeutung, die das Verhalten und die Selbstdarstellung „authentischer“ Personen in den Mittelpunkt stellen. Es lässt sich also ein Trend zu Formen mit einem hohen „Authentizitätsanspruch“ ausmachen.[1] Hickethier hält fest, dass „der Anteil der fiktionalen Unterhaltung zugunsten der nicht fiktionalen Unterhaltung langfristig abnimmt“[2]. Ein Großteil dieser Entwicklung wird bestimmt durch die stetig steigende Anzahl an Formaten, die der Genrefamilie des Reality-TV´s zuzuordnen sind.

Diese Art der Fernsehunterhaltung wird seit ihrem ersten Erscheinen auf den bundesdeutschen Bildschirmen in Form von Talk-Shows Anfang der neunziger Jahre von einer heftigen gesellschaftlichen Debatte begleitet. Kritisiert wird an diesen Sendungen vor allem immer wieder, dass Menschen zu Schauobjekten degradiert würden, dass sie Beschimpfungen und Diskriminierungen ausgesetzt würden und dass die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatssphäre aufgehoben würde[3]. Aus rechtlicher Sicht steht bei all diesen Problemen im Mittelpunkt vor allem die Frage nach der Achtung der Menschenwürde. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte der Diskurs sowohl in gesellschaftlicher als auch in juristischer Hinsicht 1999 mit der Einführung des Formats „Big Brother“ durch RTL 2. Verschiedene Rechtswissenschaftler setzten sich in Aufsätzen und Gutachten mit der Frage der medienrechtlichen Zulässigkeit der Sendung auseinander, die mehrheitlich bejaht wurde[4]. Doch die Frage nach den rechtlichen Grenzen, die dem Reality-TV aufgrund der Menschenwürde gesetzt sind, ist angesichts der Programmentwicklung in jüngster Vergangenheit weiterhin von Bedeutung. Zwar ist die einst sehr hitzig geführte Debatte mittlerweile etwas abgekühlt, doch ist beim Entstehen neuer Formate ein ständiges Absenken der Hemmschwelle auf Seiten der Programmveranstalter zu beobachten. Der ehemalige Intendant des ZDF Dieter Stolte sieht in dieser Entwicklung gar die Gefahr einer Veränderung des Menschenbildes durch das Fernsehen[5]. Großes öffentliches Aufsehen erregte 2004 die Dschungel-Show „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“. Der Vorsitzende der SPD-Medienkommission, Kurt Beck, warf der Produktionsfirma ENDEMOL vor, „die Menschenwürde mit Füßen zu treten“ und die „Grenzen bei weitem zu sprengen“[6]. Im Fernsehprogramm der USA ist zu beobachten, dass in Hinblick auf die Menschenwürde auch noch sehr viel problematischere Formate möglich sind.

In dieser Hausarbeit soll gezeigt werden, welche rechtlichen Grenzen dem Reality-TV aufgrund der im Grundgesetz als höchstem Rechtsgut verankerten Menschenwürde gesetzt werden. Es soll dargelegt werden, inwieweit der Gesetzgeber aufgrund von Art.1 Abs.1 GG verpflichtet ist, im Rundfunkbereich zum Schutz der Menschenwürde tätig zu werden. Des Weiteren wird es darum gehen, wie der Staat seine grundgestzlichen Pflichten auf einfachgesetzlicher Ebene umgesetzt hat und welche konkreten Folgen das für die Rundfunkveranstalter hat. Gezeigt werden soll vor allem, wo die Grenze zwischen noch hinnehmbaren Verfehlungen und unzulässigen Menschenwürdeverletzungen liegt: Wie weit kann ein Veranstalter von Rundfunk gehen bis eine Menschenwürdeverletzung vorliegt und was kann wer in diesem Fall gegen ihn unternehmen?

II. Medienwissenschaftliche Einordnung des Untersuchungsgegenstandes „Reality-TV“

In der Medienwissenschaft ist nicht eindeutig und einheitlich geklärt, welche Merkmale das Programmgenre Reality-TV im Einzelnen definieren. Neben dieser Bezeichnung sind auch vereinzelnd andere Begrifflichkeiten wie z.B. Intime Formate[7] oder Affektfernsehen[8] vorgeschlagen worden, die jeweils andere Schwerpunkte setzen.

Auf die einzelnen Unterschiede der verschiedenen Konzeptionen soll nicht weiter eingegangen werden. Vielmehr soll eine allgemeine Definition von Reality-TV an dieser Stelle ausreichen, um den Untersuchungsgegenstand anschaulich zu machen. Denn für die rechtliche Bewertung von Sendungen dieses Genres kommt es nicht auf eine scharfe Definition an, da alle Programmgenres und Formate die Menschenwürde gleichermaßen zu achten haben. Aus rechtlicher Sicht gibt es diesbezüglich für die verschiedenen Sendungsformen keine unterschiedlichen Anforderungen[9]. Reality- TV steht aus einem anderen Grund im Mittelpunkt dieser Arbeit, und zwar deshalb, weil einige Formen dieses Genres in Bezug auf die Menschenwürde als besonders problematisch einzustufen sind und mit ihnen spezifische rechtliche Probleme verbunden sind. Dabei geht es im Wesentlichen um die so genannten „Real-life-daily-soaps“ wie die vieldiskutierte Sendung „Big Brother“ sowie um „Daily Talks“.

Festhalten lässt sich, dass Reality-TV eine Genrefamilie ist, die zahlreiche Genres in sich vereint, darunter z.B. das "Gerichts-TV", "Daily Talks", "Personal Help-Shows", "Casting-Shows“ "Reality Soaps“ und "Docu Soaps“[10].

Kennzeichnend für „Reality-TV“ ist vor allem die Rolle der auftretenden Akteure. Diese sind im Vergleich zu rein fiktionalen Sendungen gekennzeichnet durch ein anderes Referenzverhältnis zur vormedialen Wirklichkeit[11]. So treten die Akteure in der Rolle ihrer selbst auf und es stehen ihre eigenen alltägliche Probleme und Handlungen im Vordergrund. Aufgrund dieser Tatsache wird den Inhalten solcher Sendungen ein hoher Grad an Realitätsnähe zugeschrieben. „Der Authentizitätseindruck entsteht, weil der zugleich inszenierte und gelebte Alltag den Zuschauern bekannt ist, so dass sie sich zu dem Geschehen auf dem Bildschirm in Beziehung setzen können.“[12] Die Konzeption und feste Dramaturgie solcher Sendungen lässt die auftretenden Personen jedoch oftmals in die Nähe zu fiktionalen Figuren rücken. Denn die teilnehmenden Personen übernehmen innerhalb der Show Rollen, deren Funktionen sowie deren Handlungsspielraum genau bestimmt sind. “Die im Saal inszenierten Situationen sind aufgrund allgemeiner Verhaltensregeln und Spielregeln klar definiert, so dass die einzelnen Beteiligten (Moderator/Showmaster, Gäste, Kandidaten) klar eingegrenzte Funktionsrollen haben.”[13] Die Kandidaten werden in eine Situation gebracht, die zur Ausstrahlung im Medium inszeniert wurde. „In ein für die mediale Darbietung arrangiertes soziales Setting wird eine Anzahl von Akteuren gesetzt, das Geschehen wird gefilmt und gesendet.“[14] In dieser Situation müssen die Kandidaten dann gemeinsam mit anderen handeln.

Im Allgemeinen wird ein Format dem „Reality-TV“ zugeordnet, wenn es sich bei den Protagonisten um unprominente, medienunerfahrene „Normalbürger“ handelt, die in der Rolle ihrer selbst agieren und wenn Privatheit und Intimität besonders betroffen sind[15]. Aufgrund dieser Konzeption ist auch das Auflösen der Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatssphäre kennzeichnend für Reality-TV. Des Weiteren hebt vor allem die Sozialwissenschaftlerin Angela Keppler als Charakteristika hervor, dass die Sendungen das alltägliche Leben der Protagonisten verändern und somit konkret auf deren Alltagswirklichkeit Einfluss nehmen[16].

III. Rechtsgrundlagen für das Fernsehen

1. Die Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs.1 Satz 2 GG

Um zu klären, inwieweit die Fernsehsendungen zum Schutze der Menschenwürde beschränkt werden können, muss zunächst bestimmt werden, welchen verfassungsrechtlichen Status der Rundfunk hat.

Das Grundgesetz misst dem Rundfunk einen außerordentlich hohen Stellenwert zu. Zunächst ist festzuhalten, dass das Grundrecht der Rundfunkfreiheit aus Art.5 Abs.1 Satz 2 GG die Veranstaltung von Rundfunk umfassend schützt. Jegliche Kontrolle der Rundfunkkommunikation ist demnach an diesem Grundrecht zu messen. Die rundfunkrechtliche Ordnung der Bundesrepublik wurde maßgeblich von der Auslegung des Art.5. Abs.1 Satz 2 GG durch das BVerfG ausgestaltet. Denn das BVerfG legt das Grundgesetz für die Staatsgewalten verbindlich aus. Sowohl der Gesetzgeber als auch die Fachgerichte haben sich, wenn Sie Regelungen des Grundgesetzes auslegen, an der Rechtsprechung des BVerfG zu orientieren[17].

Die besondere verfassungsrechtliche Stellung des Rundfunks beruht auf dessen essentieller Bedeutung für den Prozess der individuellen und öffentlichen Meinungsbildung[18]. Die freie Meinungsbildung des Volkes ist eine grundlegende Voraussetzung für eine Demokratie[19]. Wegen dieser wichtigen demokratischen Funktion des Rundfunks bezeichnet das BVerfG den Rundfunk auch als konstitutiv für die Freiheitlich Demokratische Grundordnung[20]. Da im Wesentlichen die Gestaltung des Programms Einfluss auf den Meinungsbildungsprozess hat, ist Rundfunkfreiheit im Kern Programmfreiheit[21]. Das heißt, die Freiheit der Rundfunkanstalten, Programminhalte unbeeinflusst von dritter Seite zu bestimmen[22]. Das Rundfunkprogramm soll frei von staatlichem oder einseitigem gesellschaftlichem Einfluss sein. Der Grundsatz der Staatsfreiheit des Rundfunks folgt aus der Abwehrfunktion der Rundfunkfreiheit, dem Verständnis von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG als Institutsgarantie eines freien Rundfunks aber auch aus dem verfassungsrechtlichen Demokratieprinzip aus Art. 20 GG.

Dass es sich bei Reality-TV um Unterhaltungssendungen handelt, ändert am grundrechtlichen Schutz dieser Sendungen nichts[23]. Vielmehr sind alle Programmsparten gleichermaßen durch die Rundfunkfreiheit geschützt. Das BVerfG hat dies in Bezug auf die Pressefreiheit eindeutig hervorgehoben[24] und dieses Grundrecht ist von seiner Funktion her der Rundfunkfreiheit gleichzusetzen[25]. Auch Unterhaltungssendungen können meinungsbildend sein, indem sie z.B. bestimmte Weltanschauungen und Werte vermitteln. Dies passiert gerade in der oft als belanglos betrachteten Unterhaltung auf suggestive und damit sehr wirkungsvolle Weise.

Das BVerfG hebt aufgrund der demokratischen Funktion des Rundfunks die objektiv-rechtliche Seite der Rundfunkfreiheit besonders hervor und interpretiert die Rundfunkfreiheit nicht als Privileg einzelner, sondern als funktionsbedingtes Recht[26]. Diese ist demnach eine „dienende Freiheit“, die dem Träger des Grundrechtes nicht „zum Zwecke der Persönlichkeitsentfaltung oder der Interessenverfolgung eingeräumt ist“[27], sondern sie dient dem Zweck, die freie und umfassende Meinungsbildung zu gewährleisten[28]. Dazu ist eine gesetzliche Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit nötig, die einen freien Kommunikationsprozess sicherstellt. Es sind „materielle, organisatorische und Verfahrensregelungen erforderlich, die an der Aufgabe der Rundfunkfreiheit orientiert und deshalb geeignet sind zu bewirken, was Art.5 Abs. 1GG gewährleisten soll.“[29] Diese Regelungen dienen also der Sicherung der Rundfunkfreiheit und stellen indessen keinen Grundrechtseingriff dar. Davon zu unterscheiden sind jedoch „Regelungen, welche die Rundfunkfreiheit beschränken“ und daher nur auf der Grundlage des Gesetzesvorbehalts aus Art.5 Abs.2 GG oder in Fällen der Beschränkung der Rundfunkfreiheit unmittelbar durch die Verfassung zulässig sind[30].

2. Einfachgesetzliche Umsetzung der Vorgaben des BVerfG

Dem Erfordernis der Schaffung einer positiven Ordnung für den Rundfunk sind die Bundesländer nachgekommen. Auf Basis der Vorgaben durch das BVerfG haben die Ministerpräsidenten der Länder mit dem Staatsvertrag zur Neuordnung des Rundfunkwesens vom 3.April 1987 die gesetzliche Grundlage für den Rundfunk geschaffen[31]. Der Rundfunkstaatsvertrag (RSTV) wird aufgrund seiner essentiellen Bedeutung auch als Grundgesetz des Rundfunks bezeichnet[32] und wurde in der Zwischenzeit des Öfteren novelliert[33]. Er ist das einzige länderübergreifende Gesetz, das für alle Bereiche des Rundfunks, sowohl für den öffentlich-rechtlichen als auch für den Privaten, grundsätzliche Regelungen schafft. Vor allem sind jedoch die landesrechtlichen Bestimmungen der Mediengesetze (z.B. Hamburgisches Mediengesetz) für den privaten Rundfunk bedeutend und für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk die zwischen einzelnen Ländern geschlossenen Staatsverträge (z.B. Staatsvertrag über den NDR) oder die von einzelnen Ländern erlassenen Rundfunkgesetze (z.B. Gesetz über den Hessischen Rundfunk).

IV. Die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG

1.) Grundrechtscharakter der Menschenwürde

Vereinzelt wird in der Literatur die Auffassung vertreten, die Menschenwürde begründe kein subjektives Recht, sondern sei ein rein objektives Rechtsgut[34]. Zum einen wird diese Ansicht mit dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 begründet, der nur von den nachfolgenden Grundrechten spricht. Außerdem wird angeführt, dass der Rechtsgehalt der Menschenwürde nicht von Fall zu Fall ermittelt werden dürfe, sondern einen statischen Charakter habe, der die Grundlage des Menschen überhaupt, also sein Wesen, erfasse und zum rechtlichen Grundprinzip erhebe. Diese Ansicht soll hier jedoch nicht näher dargestellt werden, denn das BVerfG versteht die Menschenwürde eindeutig als subjektives Recht[35]. Auch die herrschende Auffassung in der Literatur bejaht die Grundrechtsqualität der Menschenwürde[36].

2.) Schutz der Menschenwürde durch den Staat?

Fraglich ist, inwieweit dem Staat eine Schutzpflicht durch Art.1 Abs.1 auferlegt wird. In diesem Fall geht es nicht darum, den Grundrechtsträger vor Eingriffen des Staates zu schützen, sondern darum, inwieweit sich der Staat bei Grundrechtsverletzungen durch Dritte schützend vor das Grundrechtssubjekt stellen muss. Das BVerfG hat ausgeführt, dass sich aus dem GG eine Pflicht für den Staat ergibt, zum Schutze des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit tätig zu werden[37]. Begründet hat das Gericht diese Tatsache mit der objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte. Demnach sind die Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte zu verstehen, sondern begründen auch eine objektiv-rechtliche Werteordnung[38], die den Staat verpflichte, die durch die Grundrechte gewährleistete Freiheit aktiv zu schützen. „Die Schutzpflicht des Staates ist Bestandteil des Grundrechtssystems.“[39] Dabei muss die Schutzpflicht des Staates umso weitreichender sein, desto höher das Schutzgut im grundrechtlichen Wertesystem einzuordnen ist. Da die Menschenwürde als höchstes Schutzgut des Grundgesetzes bewertet wird, gilt die Schutzpflicht für dieses Rechtsgut in hohem Maße. Die besondere Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde wird allerdings auch schon anhand des Wortlautes von Art.1 Abs. 1 GG deutlich. Dieser besagt nämlich, dass der Staat die Menschenwürde nicht nur zu achten, sondern auch zu schützen hat.

Diese Objektive Dimension erweitert die subjektive Dimension durch einen Schutzauftrag an die öffentliche Gewalt, der Staat darf also Verletzungen der Würde des Menschen nicht tatenlos zusehen[40].

3.) Schutzpflicht gegenüber dem Rundfunk?

Die Schutzpflicht des Staates erscheint jedoch aufgrund der verfassungsrechtlich hohen Gewichtung der Rundfunkfreiheit und dessen immanentem Grundsatz der Staatsfreiheit des Rundfunks nicht unproblematisch. Denn die staatliche Wahrnehmung der Schutzpflicht bedeutet vor allem staatliches Eingreifen, wenn die Menschenwürde durch Dritte, also z.B. Fernsehveranstalter, verletzt wird[41]. Das BVerfG hat jedoch in seinen Fernsehurteilen immer wieder hervorgehoben, dass Rundfunkfreiheit vor allem Staatsfreiheit des Rundfunks bedeute. Wie bereits oben dargelegt wurde, stützt sich die Auslegung von Art. 5 Abs.1 Satz 2 GG vor allem auf die grundlegende Funktion des Fernsehens zur Bildung der öffentlichen Meinung und der Kern des Grundsatzes der Staatsfreiheit des Rundfunks liegt wiederum in der Programmfreiheit. Ein staatliches Eingreifen zum Schutze der Menschenwürde würde aber genau diesen Bereich besonders betreffen, da sich die Gefahrenlagen für die Menschenwürde primär auf Programmebene befinden. Die Schutzpflicht des Staates tangiert also den innersten Kern der Rundfunkfreiheit und ist mithin als besonders problematisch anzusehen. Die Menschenwürde wiederum ist „unantastbar“ und nicht mit anderen Grundrechten abwägungsfähig. Der Staat darf keine Räume zulassen, in denen die Menschenwürde zur Disposition steht. Mithin gilt die Schutzpflicht auch gegenüber dem Rundfunk[42].

Es ist allerdings im Einzelfall immer sehr genau zu prüfen, ob unter Berücksichtigung der Gesamtumstände überhaupt eine Beeinträchtigung der Menschenwürde vorliegt. In diesem Bewertungsprozess ist dann besonders die Rundfunkfreiheit zu berücksichtigen[43].

4.) Erforderliche Schutzmaßnahmen zum Schutz der Menschenwürde im Rundfunk

Nachdem eine Schutzpflicht des Staates bejaht wurde, stellt sich die Frage, welche konkreten Schutzmaßnahmen der Staat zum Schutze der Menschenwürde zu ergreifen hat. Dabei wird der Verwaltung und dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt[44]. Grenzen werden allerdings durch das Über- und Untermaßverbot gesetzt. Einerseits dürfen Verletzungen der Menschenwürde nicht tatenlos hingenommen werden, andererseits sind zu starke Eingriffe in die Programmfreiheit, z.B. durch präventive Kontrolle, in Hinblick auf die Rundfunkfreiheit äußerst fragwürdig[45].

Die Landesgesetzgeber haben mit der Verankerung von verbindlichen Programmgrundsätzen im Rundfunksstaatsvertrag und in den Landesmedien- und Rundfunkgesetzen die Beachtung der Menschenwürde auf einfachgesetzlicher Ebene normiert.

5.) Schutzbereich der Menschenwürde

a) Unantastbarer Höchstwert des Grundgesetzes

Die Menschenwürde ist der Höchstwert und das Fundament der Verfassung[46], was sich systematisch schon aus seiner Stellung als erstes Grundrecht des Grundgesetzes, der strikten Formulierung, dem Nebeneinander von Antastungsverbot und Schutzpflicht und dem Verzicht auf jegliche Grundrechtsschranke ergibt[47]. Der hohe Rang dieses Grundrechts wird zusätzlich auch durch Art. 79 Abs. 3 GG bestätigt, der Art.1 Abs. 1 als einziges Grundrecht in die Ewigkeitsklausel mit einbezieht. Das BVerfG hat mehrfach darauf hingewiesen, dass der Menschenwürde als höchstem Verfassungsgut eine eigene Substanz zukommt, die sich nicht nur im Kernbestand der in Art.2 bis Art.19 GG geschützten Freiheiten erschöpft[48].

Den Begriff der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG tatbestandlich zu bestimmen und den Schutzbereich dieses Grundrechtes sicher zu umschreiben ist aufgrund seiner Unbestimmtheit aber auch wegen seiner kräftigen außerrechtlichen Wurzeln[49] ein sehr schwieriges und komplexes Unterfangen. Die Bestimmung des Schutzbereiches wird zusätzlich dadurch erschwert, dass die Menschenwürde nicht mit anderen Grundrechten abwägungsfähig ist. Schon die Formulierung aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG „unantastbar“ schließt einen Gesetzesvorbehalt aus[50]. Als oberster Wert der Verfassung, kann die Menschenwürde weder durch Grundrechte noch durch verfassungsimmanente Schranken beeinträchtigt werden. Dies hat auch das BVerfG betont[51]. Bei der Ermittlung des Schutzbereiches ist deshalb besondere Vorsicht geboten, sollen nicht andere Freiheitsrechte in bedenklicher Weise beschnitten werden[52].

b) Positive Bestimmung des Schutzbereichs

In der Literatur wird häufig versucht, den Begriff der Menschenwürde positiv zu bestimmen. Dabei nimmt der Ansatz von Dürig eine herausragende Stellung ein. Er versucht die Menschenwürde über das in Art.1 Abs. 1 Satz 1 GG verankerte Menschenbild zu definieren: demnach ist „jeder Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und seine Umwelt zu gestalten.“[53]. Diese Umschreibung Dürigs ist allerdings wie der Würdebegriff selbst sehr unbestimmt. Wollte man eine positive Bestimmung des Schutzbereiches enger fassen und damit juristisch greifbarer machen, so bürgt dieses die Gefahr, ein detailliertes Menschenbild festzuschreiben, was gerade in Bezug auf die Menschenwürde äußerst problematisch ist[54]. Denn die wichtigste Erkenntnis aus Dürigs positivem Bestimmungsversuch besteht gerade darin, dass er den unzertrennbaren Zusammenhang der Menschenwürde mit der Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung und -identifikation zum Ausdruck bringt[55]. Dieser Aspekt wurde auch vom BVerfG immer wieder betont[56]. Dass Art. 1 Abs. 1 GG ein bestimmtes Menschenbild beinhaltet, kann zwar nicht abgestritten werden[57], dieses beschränkt sich aber auf den Aspekt der freien Selbstbestimmung des Menschen und dessen personalen Eigenwert[58]. Die Würde des Menschen besteht gerade in dem Recht des Einzelnen, sich selbst zu entfalten, in der Potenz sein Leben selbst zu bestimmen.[59]

[...]


[1] Vgl. Mikos, Lothar: Big Brother als performatives Realitätsfernsehen. In: Weber, Frank: Inszenierte Banalität zur Prime Time, Münster 2000, S. 168.

[2] Hickethier, Knut: Genre oder Format? Veränderungen in den Fernsehprogrammformen der Unterhaltung und Fiktion. In: Joachim von Gottberg/Lothar Mikos/Dieter Wiedemann (Hrsg.): Mattscheibe oder Bildschirm. Ästhetik des Fernsehens. Berlin 1999, S. 211.

[3] Vgl. z.B. Bericht der Dokumentationsstelle Talkshows für die Gesamtkonferenz der LMAen vom 23.03.1999, im Internet veröffentlicht unter: www.alm.de:

[4] Vgl z.B. Gersdorf, Hubertus: Medienrechtliche Zulässigkeit des TV-Formats „Big Brother“. Rostock 2000; Dörr, Dieter: Big Brother und die Menschenwürde. Frankfurt am Main 2000.

[5] Vgl. Stolte, Dieter: Wie das Fernsehen das Menschenbild verändert. München 2004.

[6] Vgl. Welche Menschenwürde denn? In: TZ München vom 3.2.2004.

[7] Vgl. Fromm, Bettina: Privatgespräche vor Millionen. Fernsehauftritte aus psychologischer und soziologischer Perspektive. Konstanz 1999, S. 19.

[8] Vgl. Bente, Gary/ Fromm, Bettina Affektfernsehen. Motive, Angebotsweisen und Wirkungen. Opladen 1997.

[9] Der RSTV, die Landesmedien- und Rundfunkgesetze unterscheiden bei den Programmgrundsätzen zum Schutze der Menschenwürde nicht nach unterschiedlichen Formaten oder Genres.

[10] Klaus, Elisabeth / Lücke, Stephanie: Reality TV - Definition und Merkmale einer erfolgreichen Genrefamilie am Beispiel von Reality Soap und Docu Soap. M&K 2/2003, S.9.

[11] Zur näheren Unterscheidung zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Medientexten: Hickethier; Knut: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart 2004, S. 133.

[12] Mikos, Lothar: Big Brother als performatives Realitätsfernsehen. In: Weber, Frank: Inszenierte Banalität zur Prime Time, Münster 2000, S. 166.

[13] Mikos (1993), S.56.

[14] Müller, Eggo: Television Goes Reality. Familienserien, Individualisierung, Fernsehen des Verhaltens. In: Montage/AV, 4, 1, 1995, S.85.

[15] Vgl. Klass, Nadine: Rechtliche Grenzen des Realitätsfernsehens. Tübingen 2004, S. 9.

[16] Vgl. Keppler, Angela: Wirklicher als die Wirklichkeit. Das neue Realitätsprinzip der Fernsehunterhaltung. Frankfurt am Main 1994, S.9.

[17] Vgl. Dörr (2000), S. 25.

[18] Vgl Ricker, Reinhart; Schiwy, Peter: Rundfunkverfassungsrecht. München 1997., S.83.

[19] Vgl. Hesse, Albrecht: Rundfunkrecht. München 2003, S.61.

[20] BVerfGE 73, 118 (157).

[21] BVerfGE 59, 231 (258).

[22] Vgl. Jarass, Hans D.: Die Freiheit des Rundfunks vom Staat. Berlin 1981, S.31., BVerfGE 90, 60 (87).

[23] Dies hat auch Gersdorf in seinem Gutachten zur Reality- Show „Big Brother“ festgestellt: Vgl. Gersdorf (2000), S.10.

[24] BVerfGE 97, 228 (257).

[25] Vgl. Gersdorf (2000), S.10/11.

[26] Vgl. Ricker/Schiwy (1997), S.86.

[27] BVerfGE 87, 181 ff.

[28] BVerfGE 57, 295ff.

[29] BVerfGE 73, 118.

[30] BVerfGE 78, 118 (166).

[31] Vgl. Harstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner: Rundfunkstaatsvertrag Kommentar 1, Teil B3, S. 1.

[32] Vgl. Ebd.

[33] Zuletzt durch den 7. Rundfunkänderungsvertrag, der zum 01.04.2004 in Kraft getreten ist.

[34] Vgl. Dürig (1959), S. 259ff..

[35] BVerfGE 30, 173 (194).

[36] Vgl. z.B. Pieroth/Schlink: Grundrechte; Schmidt, Rolf: Grundrechte. Grasberg bei Bremen 2004, S.117.

[37] BVerfGE 39, 1 (41).

[38] BVerfGE 7, 198 (205); 49, 89 (141 f.).

[39] Dörr (2000), S. 41.

[40] Vgl. Di Fabio (2000), S. 19/20.

[41] Vgl. Dörr (2000), S. 43.

[42] Vgl. Ebd., S. 44.

[43] Vgl. Ebd., S. 45.

[44] BVerfGE 88, 203 (254).

[45] Vgl. Dörr (2000), S. 45.

[46] BVerfGE 93, S. 266, 293.

[47] Vgl. Künig, in: v. Münch/ Künig: GG 1, 1992, Art.1 Rdnr. 4.

[48] BVerfGE 6, 41; 12, 53; 87,209 (228).

[49] Vgl. Di Fabio (2000), S. 19.

[50] Vgl. Schmidt (2004), S.118.

[51] BVerfGE 93, 266 (293).

[52] Vgl. Di Fabio (2000), S. 19.

[53] Dürig, In: Maunz-Dürig. Grundgesetz Kommentar, Art. 1 Abs.1, Rdnr. 18.

[54] Vgl. Dörr (2000), S. 32.

[55] Vgl. Dörr (2000), S. 32.

[56] BVerfGE 96, 375 (399).

[57] Vgl. Becker, Ulrich: „Das Menschenbild des Grundgesetzes“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 1996, S. 47 ff.

[58] Vgl. Dörr (2000), S. 32/33.

[59] Vgl. Schmitt Glaeser (2000), S. 398.

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Details

Titel
Rechtliche Grenzen des Reality-TV vor dem Hintergrund der Menschenwürde
Hochschule
Universität Hamburg  (Fakultät für Rechtswissenschaft)
Veranstaltung
Medien- und Kommunikationsverfassungsrecht
Note
16 Punkte (1)
Autor
Jahr
2005
Seiten
47
Katalognummer
V55293
ISBN (eBook)
9783638502894
ISBN (Buch)
9783656809487
Dateigröße
637 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rechtliche, Grenzen, Reality-TV, Hintergrund, Menschenwürde, Medien-, Kommunikationsverfassungsrecht
Arbeit zitieren
Johan-Till Broer (Autor:in), 2005, Rechtliche Grenzen des Reality-TV vor dem Hintergrund der Menschenwürde, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55293

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