Naivität und Reflexivität in Thomas Manns "Buddenbrooks"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

30 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Naivität und Reflexivität in den Buddenbrooks
2.1 Naivität
2.1.1 Konsul Jean Buddenbrook
2.1.2 Tony Buddenbrook
2.1.2.1 Rollenspiel und Pflichterfüllung
2.1.2.2 'Emotionale Intelligenz'
2.2 Reflexivität
2.2.1 Selbstbeobachtung
2.2.1.1 Thomas Buddenbrook
2.2.1.2 Christian Buddenbrook
2.2.1.3 Hanno Buddenbrook
2.2.2 Lebensuntüchtigkeit und Krankheit
2.2.2.1 Thomas
Thomas' Krankheit: Das 'Sisi-Syndrom'
2.2.2.2 Christian
2.2.2.3 Hanno
2.2.3 Formen der Lebensbewältigung
2.2.3.1 Thomas: Der 'Leistungsethiker'
2.2.3.2 Christian: Der Lebemann
2.2.3.3 Hanno: Der Décadent

3. SchluSS

4. Literatur

1. Einleitung

Die Buddenbrooks, Thomas Manns erster Roman, wirft in exemplarischer Weise ein Thema auf, das für das gesamte spätere Œvre des Autors bestimmend bleiben wird: Den Konflikt zwischen Gesellschaft und Individuum, 'Bürger' und 'Künstler', Normalität und Extravaganz, oder eben Naivität und Reflexivität.

Der junge Thomas Mann hatte dieses Dilemma im eigenen Leben erfahren, es sich 'von der Seele geschrieben' und war so in der eigenen Person schon zu einer Synthese von Gegensätzen gelangt, die sich in den Buddenbrooks noch nahezu unvereinbar gegenüberstehen.

Wie die naiven, wie die zur Reflexion fähigen Charaktere gestaltet sind, was sie gemeinsam haben, wie sie sich aber auch voneinander unterscheiden, wie ihre Motive, ihre Stärken, ihre Schwächen aussehen: diesen Fragen versuche ich mich in der vorliegenden Arbeit anzunähern.

2. Naivität und Reflexivität in den Buddenbrooks

2.1 Naivität

2.1.1 Konsul Jean Buddenbrook

Den Konsul in einem entweder-oder-Schema unterzubringen fällt schwer, einerseits, weil er naive und reflexive Anlagen in sich vereint, andererseits weil er für den Leser nicht in dem Maße Leben gewinnt wie die späteren Generationen. Einige wenige Hinweise lassen sich jedoch finden.

Das gestörte Verhältnis zu seinem Halbbruder Gotthold bedrückt den Konsul; es belastet ihn in einer Art, die seinem Vater, einem Mann der einfachen Antworten, noch fremd ist. "Es sollte kein heimlicher Riß durch das Gebäude laufen, das wir mit Gottes gnädiger Hilfe errichtet haben... Eine Familie muß einig sein, muß zusammenhalten, Vater, sonst klopft das Übel an die Tür...".[1] Solche bösen Ahnungen zeugen von einem gewissen Maß an Reflexion.

Mehr noch zeigt aber sein Schuldbewußtsein Tony gegenüber, nachdem Grünlich bankrott ist, daß er nicht gänzlich naiv sein kann (vgl. S. 213). Immerhin überdenkt er seine Motive, Tony zu dieser Eheschließung zu drängen (vgl. S. 216). Außerdem weiß er seine Tochter richtig einzuschätzen, weiß, daß sie, gefragt, ob sie zu ihrem Mann stehen will, nicht antwortet, was sie denkt, sondern das, von dem sie denkt, daß es ihrer Rolle entspricht und daß es von ihr erwartet wird. So fragt er mehrmals nach, nicht ohne den Versuch, Tony zur gewünschten Antwort zu manipulieren - bei dem er sich allerdings ertappt (vgl. S. 214).

Beides, der Manipulationsversuch sowohl als auch die Tatsache, daß er ihn sich bewußt macht, setzen reflektierende Denkprozesse voraus.

Dennoch ist der Konsul alles andere als das Paradebeispiel eines Grüblers. Anders als sein Vater hat er ein inniges Verhältnis zur Religion und ergeht sich aus Anlaß der Geburt seiner jüngsten Tochter Clara in seitenlangen pietistisch-religiösen Schwärmereien und zwingt sich gar zum Weiterschreiben, "als Züchtigung [...] für sein unfrommes Gelüste" aufzuhören (S. 52). Aber auch diese Medaille hat eine zweite Seite; so "[war] der [inzwischen] verstorbene Konsul, mit seiner schwärmerischen Liebe zu Gott und dem Gekreuzigten, der erste seines Geschlechtes gewesen, der unalltägliche, unbürgerliche und differenzierte Gefühle gekannt und gepflegt hatte" (S. 259). Damit markiert er zumindest den Anfang einer Entwicklung zur höchster Reflexivität, ja Dekadenz, die über Thomas und Christian hin zu Hanno ihren Verlauf nehmen wird.

Was aber vielleicht am meisten dafür spricht, den Konsul als eher naiven Charakter zu betrachten, ist, daß er nicht im geringsten ein lebensuntüchtiger Außenseiter, daß er fähig ist, das Geschäft, nicht mehr so erfolgreich zwar wie sein Vater, aber doch ohne von Zweifeln geplagt zu werden, zu führen. Im Umkehrschluß - seine reflektierenden Nachkommen werden auf Grund ihrer Reflexivität dazu nicht mehr in der Lage sein - läßt sich folgern, daß er naiv sein muß. Naivität (man könnte auch sagen: Bürgerlichkeit, Blauäugigkeit) ist für den jungen Thomas Mann unabdingbare Voraussetzung für ein Bestehen im tätigen Leben.

2.1.2 Tony Buddenbrook

2.1.2.1 Rollenspiel und Pflichterfüllung

Wenn es einen zentralen Begriff gibt, auf den sich Tony Buddenbrooks Denken und Handeln zurückführen läßt, dann ist es der der Pflicht. Sich selbst sieht sie immer nur als Teil eines Ganzen, als Rädchen im Getriebe von Firma und Familie, das zu funktionieren hat. Dabei stellen sich ihr, anders als ihrem zur Reflexion fähigen, zur Reflexion verdammten Bruder Thomas keine Selbstzweifel in den Weg; den Druck der Anforderungen und Erwartungen, unter dem er wie auch Christian und Hanno leidet und schließlich zerbricht, empfindet Tony nicht als solchen; zumindest wird er durch ihre Freude an der Pflichterfüllung mehr als aufgewogen.

Von Klein auf empfindet Tony ihre Rolle in der Lübecker Gesellschaft als eine besondere, ausgezeichnete. Zwar pflegt sie als Kind Umgang mit Kleinbürgern, so etwa "den Arbeitern und den Schreibern" (S. 63) ihres Vaters, doch sind beiden Parteien die Verhältnisse in dem Maße gegenwärtig, daß ihre äußerliche Bestätigung schlicht unnötig ist. Sie mischt sich unter das Volk "wie eine kleine Königin [...], die sich das gute Recht vorbehält, freundlich oder grausam zu sein, je nach Geschmack und Laune" (S. 64).

Ganz anders stellt sich die Situation dar, wo es ihr nötig scheint, die Fronten zu klären. Ihre Rivalität mit Julchen Hagenström, die im Kindesalter beginnt (vgl. S. 60 f.), bleibt den ganzen Roman hindurch bestehen, und so wenig sich Tonys Motivationen ändern, so wenig ändert sich ihr psychologisches Grundmuster überhaupt: Unabhängig vom Alter ist und bleibt Tony Buddenbrook ein Kind.

So übermächtig ist Tonys Standesdünkel, so sehr wird sie von ihrem Sinn für Ziemlichkeit und die "Würde der Familie und der Firma" (S. 104) regiert, daß sie ihre eigenen Bedürfnisse völlig hintanstellt, daß sie sie letztlich gar nicht richtig wahrnehmen kann. Ihre übersteigerte Verherrlichung der Familie führt regelrecht zu einer Ent-Individualisierung:

Sie würde mit [...] Ruhe erklärt haben, daß sie leichtsinnig, jähzornig, rachsüchtig sei. Ihr ausgeprägter Familiensinn entfremdete sie nahezu den Begriffen des freien Willens und der Selbstbestimmung und machte, daß sie mit einem beinahe fatalistischen Gleichmut ihre Eigenschaften feststellte und anerkannte... ohne Unterschied und ohne den Versuch, sie zu korrigieren. Sie war, ohne es selbst zu wissen, der Meinung, daß jede Eigenschaft, gleichviel welcher Art, ein Erbstück, eine Familientradition bedeute und folglich etwas Ehrwürdiges sei, wovor man in jedem Falle Respekt haben müsse. (S. 203)

Die Selbstaufgabe zugunsten der Erfüllung familiärer und gesellschaftlicher Erwartungen tritt besonders deutlich hervor in ihrer ersten Hochzeit. Zwar fühlt sie sich von Bendix Grünlich von Beginn an abgestoßen (vgl. S. 96 ff.), doch schwerer wiegt, daß sie sich in ihrer Rolle als Umworbene zu gefallen beginnt; "die Wichtigkeit ihrer Stellung fing an, sie mit Wohlgefallen zu erfüllen" (S. 104). Nicht sich selbst erforscht sie - die Möglichkeit dazu ist ihr nicht gegeben -, sondern sie richtet ihr Leben nach vorgegebenen Schemata aus. "Wie sollte man sich dabei benehmen?" (ebd.) - diese Sorge ist charakteristisch für ihre Einstellung zum Leben. Das macht sie natürlich leicht manipulierbar. Einmal in eine Rolle gedrängt, reflektiert sie nicht mehr, ob sie diese überhaupt spielen will; die Mechanismen der Pflichterfüllung setzen ganz automatisch ein.

Solche Schemata[2] hat Tony dermaßen verinnerlicht, daß es sie verunsichert und aus der Fassung bringt, wenn die Realität einen anderen Verlauf nimmt, so daß Grünlich sie allein durch seine in ihren Augen unstatthafte Beharrlichkeit verunsichern und so Zeit gewinnen kann. "Sie hatte sich so eine Werbung nicht vorgestellt. Sie hatte geglaubt, man brauche nur zu sagen: 'Ihr Antrag ehrt mich, aber ich kann ihn nicht annehmen', damit alles erledigt sei..." (S. 109).

Tony tappt also in die Falle ihrer eigenen Naivität. Statt sich ihren Weg selbst zu suchen, geht sie den, der sich ihr bietet, weil andere ihn für sie wählen. Statt eine eigene Meinung zu vertreten, gibt sie entweder Abgeschmacktheiten von sich, mit denen sie ihrer Position als vom Leben gebeutelte Frau gerecht zu werden meint - "Man hat doch immerhin das Leben kennen gelernt, weißt du! Man ist doch keine Gans mehr!" (S. 239), oder sie versucht sich mit fremden Federn zu schmücken; mehrfach greift sie dazu auf Morten Schwarzkopf zurück, dessen Äußerungen sie versatzstückartig wiedergibt. "Sie betonte wiederholt die Freiheit und Gleichheit aller Menschen, verwarf kurzer Hand jede Rangordnung der Stände, ließ harte Worte gegen Privilegien und Willkür fallen und verlangte ausdrücklich, daß dem Verdienste seine Krone werde" (S. 670).

Trotz der Einfachheit ihres Charakters aber, trotz der Schlichtheit ihrer Motive (Ehre, Würde, Standesdünkel, Pflichtgefühl, Eifersucht): Tony lebt. Und sie überlebt die Intelligenten, die Differenzierten. Was also macht sie richtig?

2.1.2.2 'Emotionale Intelligenz'

Zwar besteht zwischen Tonys und Thomas' Motiven eine weitgehende Übereinstimmung - beider grundlegender Antrieb ist die "Pflicht unserem Namen gegenüber" (S. 341), doch gibt es einen deutlichen Unterschied. Tony übernimmt die ihr vorbestimmte Rolle gänzlich unreflektiert, und sie kämpft, im Gegensatz zu Thomas, der dies ständig tut, nur ein einziges Mal gegen sich selbst. Doch ihre Abneigung gegen Grünlich ist schnell bezwungen. Thomas dagegen hat

[...]


[1] Thomas Mann: Buddenbrooks: Verfall einer Familie. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag, 1989, S. 48. Alle Textzitate sind dieser Ausgabe entnommen. Im folgenden werde ich im Text in Klammern auf die entsprechenden Seitenzahlen verweisen.

[2] Ein Linguist würde sagen: Frames.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Naivität und Reflexivität in Thomas Manns "Buddenbrooks"
Hochschule
Universität Trier  (Neuere Deutsche Literatur)
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
30
Katalognummer
V5546
ISBN (eBook)
9783638133906
ISBN (Buch)
9783638686662
Dateigröße
592 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Naivität, Reflexivität, Thomas, Manns, Buddenbrooks
Arbeit zitieren
Dietrich Arlart (Autor:in), 2000, Naivität und Reflexivität in Thomas Manns "Buddenbrooks", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/5546

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