Martyrium zwischen Fanatismus und Heiligkeit

Eine Auseinandersetzung mit dem Martyrium im Anschluss an den Roman "Schweigen" von Shusaku Endo


Magisterarbeit, 2005

130 Seiten, Note: 1.25


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil I: Der traditionelle christliche Martyriumsbegriff
1. Das Martyrium in der Urkirche
1.1 Biblischer Hintergrund
1.2 Entstehung des Märtyrertitels
1.3 Die römischen Christenverfolgungen als Kontext des urchristlichen Martyriums
1.4 Martyriumstheologie
1.5 Märtyrerverehrung
1.6 Die Frage der Lapsi
2. Das Martyrium in der Kirchengeschichte
Exkurs: Soziologische Sicht auf das Martyrium
a) The Martyrological Confrontation
b) The Martyr’s Motive
c) The Martyrological Narrative
d) Kritik an Weiner

Teil II: Shusaku Endo und sein Roman Chinmoku – Schweigen – Ein japanischer Blick auf das Martyrium
1. Shusaku Endo – Leben und Werk
2. Die japanische Christenverfolgung im 17. Jahrhundert – Ursachen und Hintergründe
2.1 Geschichtlicher Überblick über die Christenverfolgungen
2.2 Ursache für die Christenverfolgung
2.3 Martyriumsvorstellungen
3. Der Roman Chinmoku – Schweigen
3.1 Entstehungskontext
3.2 Inhalt
3.3 Analyse
3.3.1 Schwachheit – Stärke
3.3.2 Endos Christologie
3.3.3 Das Martyrium im Kontext von Endos Roman Schweigen

Teil III : Zeitgenössische Ansätze des Martyriumsverständnisses
1. Orte der Reflexion über das Martyrium im 20. Jahrhundert
2. Erweiterungen des Martyriumsbegriffs
2.1 Politische Märtyrer – Märtyrer für das Reich Gottes
2.2 Der fehlende Hass auf den christlichen Glauben: Christen als Opfer von Christen
2.3 Vom individuellen zum kollektiven Martyrium: Das gekreuzigte Volk
2.4 Der gewaltbereite Märtyrer
Exkurs: Kurzer Überblick über islamische Martyriumskonzepte

Teil IV: Grundüberlegungen zu einem aktuellen christlichen Martyriumsverständnis
1. Das Martyrium in einer säkularisierten Gesellschaft
2. Christliches Martyrium in der Nachfolge Jesu
3. Gratwanderungen
3.1 Die Konflikte, die zum Martyrium führen
3.2 Martyrium und Jenseitsvertröstung
3.3 Martyrium und Heldentum
3.4 Die Idealisierung des Leidens

Schlusswort

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Einleitung

Ausgangslage: Die Selbstmordattentate vom 11. September 2001 haben die westliche Welt geschockt. Sie stellen einen vorläufigen Höhepunkt dar in einer langen Reihe von Anschlägen. Während diese bei uns in erster Linie als Terrorattacken wahrgenommen wurden, werden die Attentäter von ihrem Umkreis als Märtyrer[1] verehrt. Seither ist ein alter, schillernder Begriff aus dem Vokabular der Religionen wieder in aller Munde: das Martyrium. Aus eigener Erfahrung erlebe ich, dass viele meiner Zeitgenossen mit dem Martyrium in erster Linie Fanatismus verbinden. Natürlich hängt dies auch mit der Tatsache zusammen, dass das Martyrium vor allem im Zusammenhang mit den Selbstmordanschlägen durch islamistische Fanatiker thematisiert wird, bei denen nicht nur die Attentäter selber, sondern oft auch eine grosse Zahl von unbeteiligten Zivilisten ums Leben kommen. Doch die Skepsis gegenüber dem Martyrium greift wohl noch tiefer. In einer Zeit der postmodernen ‚schwachen Vernunft’ ohne überindividuelle Gewissheiten ist für viele westliche, säkularisierte Menschen die Haltung, dass jemand für eine Idee oder eine religiöse Überzeugung im Ernstfall sein Leben hingibt, zumindest suspekt. Und doch mussten wohl in keinem anderen Jahrhundert so viele Menschen überall auf der Welt wegen ihren Überzeugungen und ihrem Engagement ihr Leben lassen wie im vergangenen. Dazu gehören so grosse religiöse Persönlichkeiten wie Martin Luther King, Dietrich Bonhoeffer, Mahatma Gandhi, Edith Stein oder Oscar Romero, die auch heute noch nicht nur von ihren jeweiligen religiösen Gemeinschaften als Märtyrer verehrt werden. Daneben dürfen aber auch jene wegen ihres Glaubens Verfolgten nicht vergessen werden, die namenlos geblieben sind und weitgehend vergessen wurden. Gerade die christlichen Kirchen haben immer an der speziellen Bedeutung der Märtyrer als Glaubenszeugen festgehalten. Auch in anderen Religionen wie dem Judentum oder dem Islam nimmt das Martyrium (oder ähnliche Phänomene mit anderen Bezeichnungen) einen herausragenden Platz ein. Aber auch scheinbar areligiöse oder sogar antireligiöse Gruppen verehren ihre Märtyrer, man denke nur an die Kommunistin Rosa Luxemburg oder an Che Guevara.

In meiner Arbeit möchte ich mich nicht ausschliesslich, aber doch hauptsächlich auf eine Auseinandersetzung mit dem christlichen Martyrium beschränken. Für die christlichen Kirchen gilt das Martyrium traditionell als die höchste Form der Nachfolge ihres Herrn Jesus Christus. Es betrifft existentielle Fragen des Christseins, ist sozusagen der Ernstfall des christlichen Glaubens. Einen herausragenden Stellenwert nimmt das Martyrium für den christlichen Glauben vor allem deshalb ein, weil es in direkte Beziehung gesetzt wird mit dem Kreuzestod und der Auferstehung Christi. Es ist nicht nur eine Folge des Zeugnisses, sondern selbst Zeugnis und vollendet dadurch die Nachahmung Christi und die Konformität mit ihm. Der Märtyrer wurde dadurch zum Urbild des Heiligen.

Durch die Beschäftigung mit dem Martyrium wurden bei mir viele Fragen aufgeworfen. Die einen betreffen vor allem die Christologie: Inwieweit ist das Martyrium ein Zeugnis für Christus. Welche Kreuzestheologie steht dahinter? Wird da dem Kreuzestod Jesu nicht eine Bedeutung gegeben, die auf eine Verherrlichung des Leidens hinausläuft, was sich auch im bisweilen erhobenen Vorwurf der ‚Martyriumssehnsucht’ widerspiegelt? Muss ein Christ wirklich die Bereitschaft haben, sich im Notfall selbstlos und heroisch für den Glauben an Christus zu opfern? Es stellt sich zudem die Frage, ob das Verhalten des Märtyrers vor dem Martyrium einfach ausgeblendet werden kann. Ist es nicht entscheidend, aus welchem Grund jemand umgebracht wird? Was für eine Bedeutung kann der Tod als Nachfolge Christi überhaupt haben, wenn dabei das vorhergehende Engagement unberücksichtigt bleibt? Oder anders gefragt: Hat der Kreuzestod Jesu allein, isoliert von seiner vorherigen Verkündigung des Reiches Gottes, überhaupt eine Bedeutung? Und: Wie ist das Verhältnis zwischen Jenseitsglauben und Martyrium? Ist ein Martyrium ohne den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod überhaupt denkbar?

Andere Fragen sind eher ethisch-pastoraler Art. Ganz allgemein wird jemand erst zu einem Märtyrer, wenn er als solcher von einer Gemeinschaft anerkannt wird. Das Martyrium ist auch das Produkt einer sozialen Interaktion. Ohne die Kirche oder zumindest einige Gläubige, die ihn als solchen verehren, gibt es keinen christlichen Märtyrer. Jedenfalls wird dieser erst durch die Anerkennung als Märtyrer durch andere Christen in dieser Welt sozial bedeutsam.[2] Dabei besteht auch die Gefahr des Missbrauchs der Märtyrer. Der Märtyrer kann für gewisse Ziele und Ideologien vereinnahmt werden. In der Erhebung zu den Altären werden nicht selten die realen Konflikte, die zum Tod des Märtyrers geführt haben, ausgeblendet. Täter und Opfer sind nicht immer klar zu trennen sind, dies gilt beispielsweise zum Teil für die Märtyrer der Mission. Durch ihr Verhalten haben einzelne Missionare dazu beigetragen, dass sie schliesslich umgebracht wurden. Zudem: was bedeutet die Tatsache, dass Christen auch von Christen verfolgt werden, z.B. in Lateinamerika, wo Christen umgebracht wurden, weil sie sich für die Rechte der Armen eingesetzt haben, aber auch in den Konfessionskriegen, in denen die Opfer wechselseitig zu Märtyrern wurden?

Fragestellung: Durch die Vertiefung ins Gebiet des Martyriums hat sich das Thema immer mehr ausgeweitet. Bei meinem Versuch, einen realistischen Ausgangspunkt für die Behandlung des Themas zu finden, bin ich auf den japanischen Literaten Shusaku Endo (1923-1996) gestossen. Endo gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller Japans im 20. Jahrhundert. Mit 10 Jahren seiner Mutter zuliebe getauft, war sein ganzes Leben geprägt von der Auseinandersetzung mit einem christlichen Glauben, der ihm als fremder Anzug erschien, von dem er sich aber doch nie lösen konnte. Ein grosser Teil seiner Werke ist von dieser Auseinandersetzung bestimmt. Neben der Frage der Inkulturation des westlich geprägten Christentums in Japan sind seine Romane auch geprägt von der Suche nach einer Christologie, die dem leidenden Jesus vor einem triumphierenden Christus den Vorzug gibt. Vor allem in seinem Hauptwerk Schweigen behandelt Endo im Kontext der Missionierung Japans im 16./17. Jahrhundert auch das Thema des Martyriums. Er interessiert sich dabei aber nicht so sehr für jene, die ‚glorreich’ das Martyrium bestehen, sondern für die ‚Verräter’, die Apostaten, die versagen und vom Glauben ‚abfallen’, sei es aus Schwäche oder aus Liebe für die Mitmenschen. Müssen Christen Helden sein? Wer ist Christus für jene Menschen, die keine Helden sind? Der Verräter Judas und der Jesus verleugnende Petrus spielen bei Endo deshalb eine wichtige Rolle. Durch die Fokussierung auf die ‚Gefallenen’ und den Umgang der Kirche mit ihnen möchte ich versuchen, einen etwas ungewöhnlichen Blick auf das Martyrium zu werfen und das Thema auf diese Weise anzugehen.

Aufbau: In einem ersten Teil soll zuerst der traditionelle christliche Martyriumsbegriff der ersten christlichen Jahrhunderte kurz vorgestellt werden. Das Martyriumsverständnis, das sich während den Christenverfolgungen in den Anfängen der Kirche entwickelt hat, ist bis heute massgebend geblieben, auch wenn es sich natürlich im Laufe der Zeit in den verschiedenen Kontexten veränderte. Zudem möchte ich in einem etwas längeren Exkurs die beiden Soziologen Eugene und Anita Weiner einen soziologischen Blick auf das Martyrium im Allgemeinen werfen lassen.

Der umfangreichere zweite Teil soll dann ganz dem Roman Schweigen von Shusaku Endo gewidmet sein. Dieser gibt mir einerseits anhand der Märtyrer der japanischen Christenverfolgungen des 16./17. Jahrhunderts die Möglichkeit, ein historisches Beispiel etwas ausführlicher zu besprechen und auch kritisch zu beleuchten. Andererseits stellt der Roman eine aktuelle Auseinandersetzung eines gläubigen Christen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Martyrium dar. Dabei möchte ich sowohl Leben, Werk und Kontext von Shusaku Endo vorstellen, wie auch anhand seines Romans dessen implizite Christologie und Martyriumsvorstellung aufzeigen.

Der dritte Teil der Arbeit soll dann über Shusaku Endo hinausgehen. In ihm werden andere zeitgenössische theologische Diskussionen zum Martyrium aufgegriffen werden. Das Schwergewicht wird dabei auf der Erweiterung des Martyriumsbegriffs durch die Befreiungstheologie liegen. Dazu gehört aber auch ein Exkurs über das Martyriumsvorstellungen im islamischen Kontext.

Abschliessend soll dann in einem vierten Teil versucht werden, aus den bisherigen Überlegungen heraus einige Ansatzpunkte und Kriterien für ein gegenwärtiges Martyriumsverständnis zu entwickeln. Als Leitlinie soll dabei die Frage dienen, wie heute noch sinnvoll von einem christlichen Martyrium gesprochen werden kann, angesichts dessen, dass dieses oft mit Fanatismus gleichgesetzt wird.

Teil I: Der traditionelle christliche Martyriumsbegriff

Der italienische Kirchenrechtler Prospero Lambertini, der spätere Papst Benedikt XIV (1740-1758), definiert in seinem Werk ‚De Servorum Dei Beatificatione et Beatorum Canonizatione’ das Martyrium angesichts der Verfolgung als „freiwilliges Erleiden oder Ertragen des Todes um des Glaubens an Christus oder einer anderen tugendhaften Handlung willen, die auf Gott zurückzuführen ist“[3]. Er nennt dabei neben anderen Kriterien drei Hauptmerkmale zur Bestimmung des christlichen Martyriums: 1. Die Tatsache des gewaltsamen Todes (martyrium materialiter). 2. Den Glaubens- und Kirchenhass bei den Verfolgern (martyrium formaliter ex parte tyranni). 3. Das Zeugnis des Glaubens auf Seiten des Opfers trotz Lebensbedrohung (martyrium formaliter ex parte victimae).[4] Sowohl die Definition wie diese drei Hauptkriterien sind bis heute für die katholische Heiligsprechung massgebend geblieben, auch wenn sich das konkrete Martyriumsverständnis durch die verschiedenen Verfolgungssituationen und die gesellschaftlichen Entwicklungen und Fragestellungen natürlich immer auch verändert hat. Gerade die Ereignisse und Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben – wie wir noch sehen werden – zu einer grossen Erweiterung des Begriffs geführt.

In diesem ersten Teil soll zuerst einmal ein geraffter Überblick gegeben werden über die Entstehung des christlichen Martyriumsbegriffs in den ersten Jahrhunderten nach Christus. Als neue, aber sich schnell ausbreitende Gemeinschaft stiess die junge christliche Kirche nicht nur auf Gegenliebe, sondern sah sich von Anfang an Ablehnung und Verfolgung ausgesetzt. Die Zeit der Urkirche gilt denn auch als Zeit der Märtyrer. Nicht umsonst räumen Lexikonartikel zum Martyrium den Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte mit Abstand am meisten Platz ein. Die Märtyrer der Urkirche gelten als leuchtende Vorbilder dafür, was es heisst, Christus bis ins Äusserste nachzufolgen. Die Situation der Christenverfolgungen, die zum Glaubenszeugnis zwangen, hatte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Selbstverständnis der Christen. Der Märtyrer wurde zum Prototyp des Heiligen. Das Martyrium beeinflusste wichtige Teile des kirchlichen Lebens, so z.B. die Liturgie (Martyrologien) oder die Busstheologie (Frage der Lapsi, der Abgefallenen). Wohl deshalb existieren über das Martyrium in den ersten christlichen Jahrhunderten unzählige Studien. Trotz ihrer grossen Bedeutung können ihre Ergebnisse hier nicht umfassend wiedergeben werden. Für meine Arbeit beschränke ich mich auf eine Zusammenfassung der wichtigsten Ideen, die auch in der gegenwärtigen Diskussion des Märtyrerbegriffs von Bedeutung sind.[5]

1. Das Martyrium in der Urkirche

1.1 Biblischer Hintergrund

Jesu Verkündigung des Reiches Gottes, sein Tod am Kreuz als letzte Konsequenz seines Lebens und der Glaube an seine Auferstehung sind zentrale Elemente des christlichen Glaubens. Jesus steht damit in einer langen Reihe von biblischen Propheten wie Elija, Jesaja oder Jeremia, die für ihr Zeugnis für das Reich Gottes verfolgt wurden. Die Offenbarung Gottes gerade in einem Menschen, der wegen seines Zeugnisses verfolgt und gekreuzigt wurde und somit nach damaligen Kriterien gescheitert ist, ist das Paradoxon des christlichen Glaubens, das Anstoss erregt und zum unterscheidenden Merkmal von anderen Religionen wurde. Nicht umsonst wurde das Kreuz zum Symbol des Christentums. Zum Christsein gehörte für die Jünger Jesu von Anfang an wesentlich die Möglichkeit, das gleiche Schicksal erleiden zu müssen, wie ihr Herr am Kreuz. Das Neue Testament ist durchzogen von der Erfahrung, dass das öffentliche Bekenntnis zu Christus Ablehnung und Verfolgung mit sich bringen kann. In der Aussendungsrede in Mt 10 prophezeit Jesus seinen Jüngern, dass sie seinetwegen leiden werden. Sie werden um seinetwillen vor Statthalter und Könige geführt werden, um vor ihnen und den Heiden Zeugnis abzulegen (Mt 10,18), um seines Namens willen werden sie von allen gehasst werden (Mt 10,22f/Joh 15,18-21). Wer ein Jünger Jesu sein will, muss bereit sein, sein Kreuz auf sich zu nehmen und ihm nachzufolgen. Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um seinetwillen verliert, wird es gewinnen (Mt 16.24ff). Jenen, die in der Verfolgung standhaft bleiben und sich zu ihm bekennen, verspricht Jesus grossen Lohn. Gerade sie spricht er selig:

Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn so wurden schon vor euch die Propheten verfolgt.“ (Mt 5,10ff)

Bei all diesen kurzen Bibelworten zeigt sich, dass die Bindung an Jesu entscheidend für die Verfolgung ist. Die Jünger werden verfolgt, weil sie für ihn Zeugnis ablegen. In Joh 15,13 spricht Jesus davon, dass es keine grössere Liebe gibt, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. Auch hier ist die Lebenshingabe an eine personale Beziehung geknüpft. Die Nachfolge bezieht sich zuerst einmal nicht auf eine Sache oder Ideologie, sondern auf eine Person, auch wenn dann natürlich mit dieser Person eine konkrete Praxis, nämlich das Eintreten für das Reich Gottes verbunden ist.

Ohne die Verfolgungssituation der ersten Christen als Hintergrund vor Augen zu haben, ist ein adäquates Verständnis der Evangelien nicht möglich. Dies gilt auch für die anderen neutestamentlichen Schriften. Besonders stark ist dies bei der Apokalypse des Johannes oder bei einzelnen Pastoralbriefen wie dem 1. Petrusbrief und dem Hebräerbrief zu spüren[6] – aber auch bei Paulus, der vom Saulus, der die Christen aktiv verfolgte, zum gläubigen und damit angefeindeten Christen wird.[7] Er reflektiert nach seiner Bekehrung in seinen Briefen nicht nur die Leiden und die Verfolgung der Gemeinden, die er zu trösten und ermuntern versucht, sondern auch seine eigenen Erfahrungen von Ablehnung.[8] In 2 Kor unterstreicht er dabei die Leidensgemeinschaft mit Christus:

Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet. Wohin wir auch kommen, immer tragen wir das Todesleiden Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar wird. Denn immer werden wir, obgleich wir leben, um Jesu willen dem Tod ausgeliefert, damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleisch offenbar wird. So erweist an uns der Tod, an euch aber das Leben seine Macht.“ (2 Kor 4,8-12)

Viele Christen wurden wegen ihres Bekenntnisses nicht nur verfolgt, sondern erlitten auch den Tod. Ausser Johannes starben traditionell alle zwölf Apostel den Märtyrertod. Der Evangelist Lukas beschreibt in der Apostelgeschichte – wohl als Beispiel für viele andere – ausführlich das Glaubenszeugnis und die Steinigung des Diakons Stephanus in Jerusalem. Diese bildete den Auftakt einer anfänglich v.a. gegen den hellenistischen Gemeindeteil gerichteten Christenverfolgung. Lukas gestaltet den Prozess und die Hinrichtung des Stephanus nach dem Vorbild der Darstellung des Prozesses und der Kreuzigung Jesu. Er bringt damit zum Ausdruck, dass er als erster Märtyrer in der Nachfolge Jesu dessen Weg gegangen ist.[9] Auch hier zeigt sich einmal mehr das Spezifikum des christlichen Martyriums, das untrennbar mit der Person Jesu Christi und dessen Tod am Kreuz als Folge der Verkündigung des Reiches Gottes verbunden ist.

1.2 Entstehung des Märtyrertitels

Der Begriff ‚martys’ bezeichnet ursprünglich den Zeugen und ‚martyrion’ das Zeugnis für etwas, das man aus persönlicher Erfahrung kennt. Im engeren Sinn wurde ‚martys’ in erster Linie für den Zeugen vor Gericht gebraucht. Im Neuen Testament wird der Begriff hingegen vor allem auf die Apostel angewandt, die für das Leben und Wirken Christi und sein Evangelium Zeugnis ablegen. Mit diesem ist aber noch nicht unbedingt der Tod verbunden. Die Einengung des Martyriums auf das Blutzeugnis für Christus geschieht in den Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte. Der Begriff ‚ martyrein ’ im Sinne des Blutzeugnisses findet sich wahrscheinlich zum ersten Mal im 1. Clemensbrief (erste Hälfte des 2. Jh.), der Begriff ‚martys’ als Blutzeugen erstmals im Bericht über das Martyrium des Polykarps (ca. 175 n. Chr.). In dieser Zeit wird der Märtyrer immer klarer unterschieden vom Confessor, dem Bekenner, der zwar ebenfalls in der Verfolgung für Christus Zeugnis ablegt und oftmals auch grosse Qualen aushalten muss, aber nicht den Märtyrertod erleidet.

Die Entstehung des christlichen Märtyrertitels ist in der Forschung umstritten geblieben. Neben der genuin christlichen Auseinandersetzung mit dem Kreuzestod Jesu wurde er wahrscheinlich auch beeinflusst durch frühjüdische Vorstellungen (z.B. der Makkabäerbücher), die ein Martyrium als Folge der Treue zur Thora im Kontext der Hellenisierung kennen und dieses als Sühne für das ganze Volk Israel deuten. Möglicherweise wurde er aber auch mitgeprägt vom stoisch-platonischen Bild des Philosophen, der im Extremfall auch für das Bezeugen der Wahrheit den Tod in Kauf nimmt. Als viel zitiertes Beispiel gilt vor allem der Tod des Sokrates.[10] Diskutiert wird auch ein Einfluss durch den römisch-hellenistischen Heroenkult der damaligen Zeit.

1.3 Die römischen Christenverfolgungen als Kontext des urchristlichen Martyriums

Bis zur Anerkennung als offiziell erlaubte Religion im römischen Reich durch Kaiser Galerius im Toleranzedikt von Nikomedia 311 n. Chr., welches durch die beiden Kaiser Konstantin I. und Licinius im Mailänder Toleranzedikt 313 n. Chr. bestätigt und ausgeweitet wurde, hatte die junge christliche Kirche mehr als 250 Jahre lang immer wieder unter Verfolgungen zu leiden. Die Verfolgungen waren bis in die Mitte des 3. Jh. n. Chr. meist lokal beschränkt und gingen wellenartig vor sich. Die Zahl der Martyrien hielt sich relativ in Grenzen. Die staatlichen Behörden schritten meist nicht von sich aus ein, sondern erst nach Anfeindungen durch die lokale Bevölkerung, die Christen beim Staat anzeigten. Erst als die Christen zahlenmässig ein ernstzunehmender Machtfaktor geworden waren, wurden unter Kaiser Decius und Valerian (um ca. 250 n. Chr.) systematischere Verfolgungsmassnahmen eingeleitet. In dieser Zeit geriet das römische Reich durch grosse soziale und wirtschaftliche Verwerfungen und Angriffe von aussen in Bedrängnis, worauf die Behörden mit einer Verstärkung und Erneuerung des traditionellen römischen Götter- und Kaiserkults als einheitsstiftendes Element im Reich reagierten. Die traditionelle römische Einstellung zur Religion war geprägt von Toleranz gegenüber den zahllosen lokalen Kulten in den eroberten Gebieten des Weltreichs. Auch privat konnte jeder sich jenem Gott und Kult zuwenden, den er bevorzugte. Gleichzeitig war aber jeder dazu verpflichtet, den Gott seiner Heimatstadt und vor allem die Götter Roms zu verehren, deren Gunst für das Wohl des Reiches unerlässlich war. Die Verehrung der römischen Götter und im Speziellen der römische Kaiserkult galten als wichtigstes Integrationselement für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Weltreich. Die einzelnen Kulte benötigten eine staatliche Anerkennung. Um diese zu erhalten, durften sie die öffentliche Ordnung nicht stören. Die christliche Kirche war zwar gegenüber dem Kaiser durchaus loyal eingestellt[11], ihr monotheistischer Glaube verbot ihnen jedoch jegliche Götzen- und Kaiserverehrung, was auch die verlangten Opfer vor dem kaiserlichen Standbild und den Götterstatuen einschloss. In dieser Weigerung sahen die römischen und lokalen Behörden eine Ablehnung der römischen Ordnung und ihrer Götter und eine subversive Gefahr für den Staat. Sie verweigerten der christlichen Kirche die nötige staatliche Anerkennung. Deshalb reichte es bereits aus, ein Christ zu sein, um bestraft werden zu können. Für die Verfolgung der Christen waren also religiöse und politische Gründe untrennbar miteinander verbunden. Der Verstoss gegen die römische Religion mit ihren Göttern und die Beleidigung der kaiserlichen Majestät bildeten eine Einheit. Das römische Verhalten gegenüber der christlichen Kirche unterschied sich damit wesentlich von jenem gegenüber der jüdischen Gemeinschaft, welche den römischen Götter- und Kaiserkult ebenfalls ablehnten, deren religiöser Partikularismus jedoch mehrheitlich geduldet wurde – und dies trotz den zahlreichen jüdischen Aufstandsversuchen gegen die römische Besatzung. Der Kirchenhistoriker Claude Lepelley sieht den Hauptgrund dafür in der Tatsache, dass das Judentum in den Augen der Römer als Religion eines besonderen Volkes galt. Als Volksreligion mit einem hohen Alter und einer „aussergewöhnlichen Originalität der Glaubens- und Lebensformen“[12] wurde das Judentum innerhalb der römischen Religionsordnung anerkannt. Nach Lepelley konnte die Kirche als junge religiöse Gruppierung einen solchen Status nicht erreichen. Sie war dem Vorwurf ausgesetzt, dass ihre Mitglieder – ob Juden oder Heiden – die traditionellen Götter ihrer Völker und Städte verraten hatten und damit die Ordnung destabilisierten. Im Gegensatz zu den Juden, die nur einen beschränkten und unaufdringlichen Proselytismus betrieben, pflegten die Christen unter den Heiden zudem eine intensive Missionstätigkeit, welche mit einer Unterbindung des Götter- und Kaiserkults einherging. Dadurch machten sie sich die Behörden zu Feinden.[13] Neben dem politisch-religiösen Vorgehen der römischen Behörden gegen die Christen darf nicht vergessen werden, dass sich oft auch der Volkszorn pogromartig gegen die Christen entlud. Ähnlich wie später die Juden im christlichen Europa wurden die Christen immer wieder zu Sündenböcken für verschiedenste Übel und Unglücksfälle. Ihnen wurden die schlimmsten Verbrechen angedichtet, darunter auch der Vorwurf des Kannibalismus. Lepelley sieht als Gründe für diesen Volkszorn u.a. die Isolierung, in der sich die Christen begaben, indem sie an vielen öffentlichen Zeremonien, wie Theateraufführungen, blutigen Schauspielen im Amphitheater oder Banketten und Bestattungsfeiern nicht teilnahmen, weil diese mit heidnischen Ritualen und Opferhandlungen durchmischt waren. Zudem führten sie ihre eigenen Rituale, v.a. das Abendmahl, unter Ausschluss der Nicht-Christen durch, was sie in den Augen der Zeitgenossen suspekt machte. Diese befürchteten den Zorn der Götter und die Bestrafung des ganzen Volkes und machten dafür die Christen verantwortlich.[14]

1.4 Martyriumstheologie

Das Martyrium galt in der Urkirche als höchste Form der Nachfolge Christi. Das Christsein beinhaltete in den ersten Jahrhunderten angesichts der Verfolgungen die Bereitschaft zum Märtyrertod. Nur wer für den Herrn Jesus Christus notfalls bis in den Tod Zeugnis ablegte, war ein wahrer Jünger Christi. Zu leiden und sterben wie Christus am Kreuz galt als höchste Form der Einswerdung mit ihm. Der Gekreuzigte leidet mit dem Märtyrer mit, ist im Martyrium gegenwärtig. So kann die heilige Felizitas, die im Gefängnis ein Kind erwartet und wegen ihrer Geburtswehen von den Wächtern verhöhnt wird, in den Martyriumsakten über ihre Passion sagen:

„Jetzt leide ich, was ich leide; dort [beim Martyrium in der Arena] aber wird ein anderer in mir sein, der für mich leidet, weil auch ich für ihn leiden will.“[15]

Für die urchristliche Theologie gab es keine grössere Form der Nachahmung Christi als diese Vereinigung mit Christus im Märtyrertod. Die Märtyrer galten als Sieger über den Satan und als gerechteste und vollkommenste Menschen. In den Augen der Christen damals gab es keinen grösseren Beweis der Gottes- und Nächstenliebe als das Zeugnis für Christus bis ins Martyrium. Diese Verbindung des eigenen Martyriums mit dem Leiden Christi ist ein Charakteristikum der christlichen Martyriumsvorstellungen.[16] Während die Juden im Martyrium sich weigerten, die Gebote der Tora zu übertreten und die ‚Heiligung des göttlichen Namens’ (Qiddush ha-shem) zu verleugnen, war das christliche Martyrium immer auch mit dem Zeugnis für Jesus Christus verbunden. Sein Tod am Kreuz als Folge seines Einsatzes für das Reich Gottes gilt für die Christen als höchster Ausdruck der Liebe und seine Auferstehung vom Tod als Erlösungshandeln Gottes an den Menschen. Es ist deshalb nahe liegend, dass die verfolgten Christen ihr eigenes Leiden mit jenem ihres Herrn in Verbindung setzten und ihr Festhalten am Glaubenszeugnis und ihr Ausharren im Leiden für den vollkommensten Ausdruck der Nachfolge Christi hielten. Dabei wurde das Martyrium nicht einfach nur als Folge des Zeugnisses für Christus verstanden, sondern wurde selbst zum Zeugnis. Es hatte sakramentalen Charakter, indem es Christus vergegenwärtigte. Im eigenen Martyrium bezeugte der Märtyrer das Leiden und den Tod Christi und seine Auferstehung – das neue Leben, das durch Christus den Menschen geschenkt ist.[17] Ohne diese Hoffnung auf die rettende Liebe Gottes ist das Martyrium nur schwer nachvollziehbar.

Die Martyrien wurden in den Märtyrerakten ausführlich beschrieben. In ihnen wird oft in pathetischer Form die Standhaftigkeit der verfolgten Christen vor den Richtern und bei der Hinrichtung dargestellt. Die standhafte Weigerung, ein Opferritual auszuführen und so der Hinrichtung zu entgehen, war in den Augen der Behörden nichts anderes als ein Ausdruck der Halsstarrigkeit der Angeklagten, während dieses Zeugnis für die Christen der höchste Ausdruck ihres Glaubens darstellte. In einigen dieser Märtyrerakten, aber auch in apologetischen und pastoralen Schriften kommt dabei eine ausgesprochene Martyriumsfrömmigkeit, ja sogar Martyriumssehnsucht zum Ausdruck. Bischof Ignatius von Antiochien, der traditionell als Schüler des Apostels Johannes gilt und unter Kaiser Trajan 117 n. Chr. in Rom den Märtyrertod erlitten haben soll, schreibt beispielsweise in seinen Trost- und Lehrbriefen, die er während seiner Gefangenschaft an verschiedene Gemeinden richtete:

„Ich schreibe an alle Kirchen und teile allen mit, dass ich gerne für Gott sterbe, wenn ihr es nicht verhindert. Ich flehe zu euch, dass euer Wohlwollen mir keine Schwierigkeit bereite. Lasst mich eine Speise der wilden Tiere werden; durch sie ist es mir möglich, zu Gott zu kommen. Brotkorn Gottes bin ich, und durch die Zähne der Tiere werde ich gemahlen, damit ich als reines Brot Christi erfunden werde. Lieber schmeichelt den Tieren, damit sie mir zum Grabe werden und nichts von meinem Körper übrig lassen, auf dass ich niemand lästig falle, wenn ich entschlafen bin. Dann werde ich wahrhaft Jesu Christi Jünger sein, wenn die Welt auch meinen Leib nicht mehr sieht. Betet für mich zu Christus, auf dass ich durch diese Werkzeuge als Opfer für Gott erfunden werde.“

„Mir werden nichts nützen die Enden der Erde noch die Königreiche dieser Welt. Für mich ist es besser, durch den Tod zu Christus Jesus zu kommen, als König zu sein über die Grenzen der Erde. Ihn suche ich, der für uns gestorben ist; ihn will ich, der unseretwegen auferstanden ist. Mir steht die Geburt bevor. Verzeihet mir, Brüder; hindert mich nicht, das Leben zu gewinnen, wollet nicht meinen Tod, gönnet mich, da ich Gottes eigen sein will, nicht der Welt und täuschet (mich) nicht mit Irdischem; lasset mich reines Licht empfangen. Wenn ich dort angelangt bin, werde ich ein Mensch sein. Gönnet mir, ein Nachahmer zu sein des Leidens meines Gottes. Wenn ihn jemand in sich hat, so bedenke er, was ich will, und leide mit mir, da er meine Bedrängnis kennt.“[18]

Eine solch sehnsüchtige Erwartung des Martyriums dürfte für viele heute ziemlich fremd sein und sie stark an den Fanatismus gegenwärtiger Selbstmordattentäter erinnern – mit dem wesentlichen Unterschied allerdings, dass Ignatius nicht selber aktiv das Martyrium herbeiführte. Auch wenn ein gewisses Unbehagen durchaus berechtigt ist, darf doch nicht vergessen werden, dass solche Schreiben zunächst einmal eine pastorale Funktion hatten. Sie sollten die verfolgten Christen in ihrem Glauben bestärken und trösten. Andererseits waren sie auch gegen abweichende Lehren gerichtet, v.a. gegen gnostische Strömungen, welche die Überzeugung vertraten, Jesus Christus hätte nur zum Schein am Kreuz gelitten, da sie dessen Menschennatur verneinten. Für Ignatius ist hingegen gerade seine eigene Bereitschaft zum Martyrium ein starker Beweis gegen solche Strömungen – denn sonst wäre sein eigenes Leiden sinnlos.[19] Ganz allgemein darf auch nicht vergessen werden, dass solche Texte in einer akuten Verfolgungssituation entstanden, einer Verfolgung, die notabene nicht selbst gewählt war. Die Sehnsucht nach der Vereinigung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus ist eine nachvollziehbare Reaktion auf diese Verfolgung. Denn der christliche Glaube ist davon überzeugt, dass in Christi Tod am Kreuz das neue Leben Wirklichkeit geworden ist. Die Vereinigung mit ihm im Martyrium ist der Eintritt in dieses neue, erlöste Dasein. Neben dieser persönlichen Hoffnung auf die eigene Vereinigung mit Christus, kann Texten, in denen die Martyriumsbereitschaft zum Ausdruck kommt, – je nach Lesart – durchaus auch ein gewisser subversiver Charakter zugesprochen werden, wie der Kirchenhistoriker Theofried Baumeister meines Erachtens richtig sieht:

„Indem man das Martyrium als moralischen Sieg verstand, vertauschte man die Vorzeichen und ergriff Partei für die Schwachen und gegen menschliche Willkür. Wenn die Apokalyptik für die Zukunft die Umkehrung der Unrechtssituation erwartet, so findet eine solche Veränderung entsprechend diesem Denken jeweils schon im Moment des Leidens, das zum Sieg wird, statt.“[20]

Die Einstellung zum Martyrium in der Alten Kirche trägt aus heutiger Sicht durchaus paradoxe Züge: Einerseits war das Martyrium die grausame Folge einer ihr auferlegten Verfolgung, andererseits wurde es zum Ort der Prüfung für die Standhaftigkeit des Glaubens der Christen, zur höchsten Form der Nachfolge Christi und der Einswerdung mit Christus. Die Märtyrer galten als Beweis für die Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens. Nach einem Wort Tertullians ist „das Blut der Märtyrer der Samen der Christen“[21] und damit wichtig für die Glaubwürdigkeit und Ausbreitung der Kirche. Einerseits ermahnte die Kirche die Christen zur Martyriumsbereitschaft angesichts der Verfolgungsgefahr, andererseits musste sie sich auch gegenüber einer übertriebenen Martyriumssehnsucht abgrenzen, zu der eine solche Frömmigkeit führen konnte. Die Kirche hielt klar daran fest, dass das Martyrium nicht gesucht werden durfte.[22] Sie grenzte sich damit ab von radikaleren christlichen Gruppierungen, die sich freiwillig den Behörden stellten und dadurch ihr Martyrium provozierten. Es war auch durchaus erlaubt (wenn auch umstritten), sich dem drohenden Martyrium durch Flucht zu entziehen. Die Kirche trat zudem dem Vorwurf entgegen, sie suche regelrecht das Leiden. Augustinus hat dies im berühmt gewordenen Wort zusammengefasst: „Martyres non facit poena, sed causa[23]. Es ist das Festhalten am Glauben an Christus bis in den Tod, das die Heiligkeit der Märtyrer ausmacht und nicht die Standhaftigkeit im Leiden und Tod an sich. Und trotzdem: Auch wenn es klar verboten war, das Martyrium zu provozieren und zu suchen, konnte die Martyriumsfrömmigkeit durchaus auch den Wunsch und die Sehnsucht danach fördern, der Ehre und Gnade des Martyriums teilhaftig zu werden als innigste Form der Vereinigung mit Christus. Wie stark dieser Wunsch verbreitet war, lässt sich aus den Texten nicht rekonstruieren. Er dürfte aber wohl spätere Frömmigkeitsformen nach dem Ende der Verfolgungen mitgeprägt haben. So wurde nach der Konstantinischen Wende das blutige Martyrium ersetzt durch das so genannte ‚weisse’ Martyrium der Askese und des Mönchtums. Dieses wurde als verinnerlichtes, spirituelles Martyrium verstanden – zum Teil mit dem inneren Verlangen nach dem realen Martyrium. Wie auch beim Blutzeugnis wurde dabei die Gnade und Ehre des weissen Martyriums nur einigen ‚auserwählten’ Christen zuteil.

1.5 Märtyrerverehrung

Die Märtyrer wurden wegen ihrer Standhaftigkeit im Glauben von den anderen Christen hoch verehrt. Eine nicht zu unterschätzende Rolle für ihre Verehrung dürfte auch ihrer Funktion als untergeordnete Mittler bei Gott gespielt haben. Diese Vorstellung lebt von der Gewissheit, dass die in der endgültigen Gemeinschaft mit Christus Lebenden mit ihm weiterwirken. Nach der klassischen Auffassung besass das Martyrium Sühnekraft für begangene Sünden nach der Taufe. Es ist also gleichbedeutend mit dem Abwaschen aller Sünden der Märtyrer.[24] Ihnen wird durch die Reinheit ihrer Seelen sogleich der ewige Lohn zuteil. Beim Jüngsten Gericht haben sie ihren Platz neben Christus und können für andere Christen Fürbitte einlegen.[25] Die Sühnewirkung der Märtyrer konnte zudem in einigen Vorstellungen auch übergehen auf andere Gläubige, so z.B. auf jene, die in der Verfolgung nicht standhaft geblieben waren und geopfert hatten – und dies waren wohl nicht wenige. So ist es nicht erstaunlich, dass die Gräber der Märtyrer nicht nur zu Stätten der Erinnerung sondern auch der Gnade wurden. Viele Gläubige wollten möglichst in der Nähe eines solchen Grabes bestattet werden, in der Hoffnung, der Märtyrer werde bei Gott für sie als Fürsprecher auftreten. Später wurden über den Gräbern Kirchen gebaut, zu denen die Gläubigen pilgerten, um die Märtyrer zu verehren.[26] Ab dem 4. Jahrhundert wurden die Gräber auch geöffnet und die Knochen der Märtyrer an andere Kirchen verteilt, wo sie als Reliquien verehrt wurden.

Durch die Verehrung wurden die Märtyrer zum Prototypen des Heiligen. Aus der Märtyrerverehrung entwickelte sich später die Heiligenverehrung. Diese Verehrung wurde jedoch – zumindest in der Theorie – klar unterschieden von der Anbetung, die allein Christus, dem Sohn Gottes, galt. Dadurch sollte eine Verwechslung mit dem antiken Götter- und Heroenkult, bzw. eine Vergöttlichung der Märtyrer vermieden werden. Der Todestag des Märtyrers wurde als Dies natales, als Geburtstag des Verstorbenen gefeiert. Diese Festtage wurden ab dem 4. Jh. in Kalendarien, den späteren Martyrologien zusammengefasst, welche den Aufbau des liturgischen Kirchenjahres mitprägten.

1.6 Die Frage der Lapsi

Die Zahl der Märtyrer der Christenverfolgungen bis zur Konstantinischen Wende ist in der Forschung umstritten. Sicher ist jedoch, dass die Zahl jener Christen, die sich den Verfolgungen durch Flucht entzogen – was zwar umstritten, aber erlaubt war – oder im Ernstfall die geforderten Opferhandlungen vollzogen, um einiges höher liegt. Letztere galten als Lapsi – als Abgefallene. [27] Apostasie galt in der christlichen Kirche immer als schwere Sünde. Die Frage nach dem Verhalten ihnen gegenüber, führte innerhalb der frühen Kirche deswegen zu harten Auseinandersetzungen. Ursprünglich galt Apostasie als eine jener schweren Sünden, die nicht vergeben werden konnten und die eine Wiederaufnahme in die Gemeinschaft verunmöglichten. Anfangs des 3. Jh. hatte sich aber eine Praxis herausgebildet, die eine Wiederaufnahme nach einer angemessenen Busszeit ermöglichte. Durch die grosse Zahl der Lapsi, die nach dem Abebben der Verfolgungswellen jeweils wieder zurück in die Kirche strömten, entbrannte der Streit aufs Neue. Viele Lapsi liessen sich von Confessoren, die durch ihre Standhaftigkeit in der Verfolgung eine grosse Autorität bei den Gläubigen hatten[28], so genannte Friedensbriefe ausstellen, die als Empfehlung für eine Wiederaufnahme galten. Eine sehr liberale Richtung im Umfeld von Felicissimus und Novatus in Karthago verlangte Mitte des 3. Jh. aufgrund dieser Friedensbriefe eine sofortige Wiederaufnahme in die Kirche. Bischof Cyprian, der selber während den Verfolgungen geflohen war und durchaus ein gewisses Verständnis und Barmherzigkeit für die Lapsi zeigte, widersetzte sich diesem Ansinnen und verlangte eine umfassende Busse. In Rom hingegen kam es zur gleichen Zeit zu einem entgegengesetzten Streit. Dort musste sich Papst Cornelius gegen die rigoristische Haltung des Presbyters Novatian durchsetzen, der eine Wiederaufnahme der Lapsi für grundsätzlich unvereinbar ansah mit der Heiligkeit der Kirche. Schliesslich setzte sich überall eine Mittelposition durch, in der eine Versöhnung mit der Kirche nach einer gewissen Busszeit möglich war. Die einzelne Busspraxis blieb in den verschiedenen Gebieten der Kirche aber unterschiedlich. Meist wurde der Einzelfall gesondert betrachtet. Die Busse hing auch von der Art des Glaubensabfalls ab. So wurde unter den Lapsi z.B. unterschieden zwischen den sacrificati, die vor den Götterstatuen geopfert und den thuruficati, die dem Kaiserstandbild Weihrauch dargebracht hatten. Die libellatici schliesslich hatten nicht selber geopfert. Sie liessen sich aber – meist durch Bestechung – so genannte libelli als Bestätigung dafür ausstellen, dass sie angeblich geopfert hatten. Letztere erhielten meist eine mildere Bestrafung und erhielten nach einer gewissen Busszeit bald einmal die Versöhnung. Bei anderen ging die Strafpraxis zum Teil so weit, dass sie nur unter Todesgefahr wieder aufgenommen wurden. Vermeidung von Verfolgung durch Flucht oder Verstecken galt hingegen als erlaubt und wurde z.B. von Cyprian sogar als eine Art Glaubensbekenntnis betrachtet.[29] Andere hingegen waren kritischer und akzeptierten die Flucht nur, falls diese nicht eine implizite Verleugnung des Glaubens bedeutete.

Der vermeintliche Abfall vom Glauben wird im zweiten Teil meiner Arbeit im Roman Schweigen von Shusaku Endo eine entscheidende Rolle spielen. In der kirchlichen Erinnerung wurde praktisch ausschliesslich jenen gedacht, die standhaft ihrem Glauben an Christus bezeugt haben und deshalb zu Märtyrern geworden sind. Solche heroischen Taten wurden als vorbildhaft gepriesen. Dabei geht vergessen, dass die Märtyrer nicht die Einzigen waren, die unter den Verfolgungen gelitten haben und es verschiedene Überlebensstrategien gab. Gerade im Umgang mit jenen, die – aus welchen Gründen auch immer – sich dem Märtyrertod entzogen haben, zeigt sich meines Erachtens vieles über das Martyrium selber.

2. Das Martyrium in der Kirchengeschichte

Hier ist nicht der Ort, einen umfassenden Überblick zu geben über die Entwicklung des Martyriums von der Zeit der Alten Kirche bis heute. Das Märtyrerbild hat sich je nach Kontext im Verlaufe der Zeit gewandelt und den Umständen angepasst. Die Märtyrer der Alten Kirche blieben jedoch die Vorbilder auch für spätere Zeiten. Die ersten Jahrhunderte galten denn auch als ‚Zeit der Märtyrer’. Als die katholische Kirche durch Kaiser Konstantin offiziell anerkannt und kurz darauf sogar zur Staatsreligion wurde, hörten die Verfolgungen auf. An die Stelle der Märtyrer traten andere Formen der Nachahmung Christi, z.B. das Mönchtum, welches aber sinngemäss an die Martyriumsfrömmigkeit anknüpfte. Nach dem Ende der Verfolgungen setzte auch die Martyriumsverehrung richtig ein (siehe dazu oben).

Auch in späterer Zeit starben aber immer wieder Christen für ihren Glauben den Märtyrertod. Märtyrer finden sich v.a. in den Missionen überall auf der Welt. Gerade im Kontext der Verbreitung des christlichen Glaubens zeigt sich aber auch die Problematik des Martyriums. Für die gewaltsamen Konflikte beim Aufeinandertreffen der Kulturen und Religionen waren die christlichen Missionen oft zumindest mitverantwortlich, wie wir im zweiten Teil der Arbeit exemplarisch sehen werden. Ebenfalls nicht unproblematisch sind die Martyrien der innerchristlichen Auseinandersetzungen, z.B. der Reformationskriege. Dabei verehrten beide Konfessionen ihre getöteten Glaubensvertreter wechselseitig als Märtyrer für Christus. Zahlreiche Märtyrer gab es auch in der Zeit der grossen Revolutionen vom Ende des 18. bis anfangs des 20. Jahrhunderts, v.a. in der Französischen Revolution, aber auch in den teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen dem Liberalismus und der katholischen Kirche um einen modernen Staat, in denen in vielen Ländern die Religion aus dem politischen Leben weitgehend zurückgedrängt wurde. Eine sehr grosse Zahl von Märtyrern erlebte schliesslich das 20. Jahrhundert – auch wenn nicht alle christlichen Opfer des Kommunismus und Nationalsozialismus oder jene des Kampfs gegen soziale Ungerechtigkeit und für die Würde des Menschen, die heute gemeinhin als Märtyrer bezeichnet werden, den Kriterien des traditionellen Märtyrerbegriffs genügen. Zu ihnen gehören (im christlichen Bereich) so grosse Gestalten wie Dietrich Bonhoeffer, Edith Stein, Martin Luther King, Oscar Romero oder Maximilian Kolbe. Auf die Formen des heutigen Martyriums werde ich im dritten Teil im Kontext eines aktuellen Martyriumsverständnisses ausführlicher zu sprechen kommen.

Exkurs: Soziologische Sicht auf das Martyrium

Eugene und Anita Weiner: The Martyr’s Conviction

Ich möchte an dieser Stelle nach den theologisch-kirchengeschichtlichen Erläuterungen zum traditionellen christlichen Martyriumsbegriff die beiden Soziologen Eugene und Anita Weiner von der Universität Haifa einen soziologischen Blick auf das Martyrium werfen lassen.[30] Eine solche Sichtweise hat den Vorteil, dass sie den Blickwinkel erweitert, indem sie für einmal die innertheologische Perspektive verlässt und einen Blick ‚von aussen’ auf das Phänomen wirft. Weiner untersuchen in ihrer Analyse anhand des Martyriums die soziale Konstruktion von Glaubensgrundsätzen[31]. Als Quellenmaterial dient ihnen dabei in erster Linie martyrologische Literatur, d.h. Texte die von bzw. über Märtyrer geschrieben wurden. Als Beispiele verwenden Weiner vor allem Texte aus dem christlich-jüdischen und griechischen Kulturraum, ohne jedoch die Gültigkeit ihrer Überlegungen auf diesen zu beschränken. Weiner verstehen den Märtyrer als ‚sozialen Typus’. Dieser in der Soziologie unterschiedlich interpretierte Begriff bezeichnet bei ihnen eine Person mit einem anhaltenden Charakter, der durch soziale Strukturen geprägt ist.[32] Nach idealen Konzepten (z.B. von Simmel[33] ) sind soziale Typen wie z.B. ‚der Fremde’ statisch und vom historischen Kontext losgelöst und verändern sich durch die Zeiten praktisch nicht. Sie sind deshalb auf die meisten Zeiten und sozialen Kontexte anwendbar. Weiner hingegen machen eine Verbindung zu sozialen Prozessen. Sie möchten zeigen, dass soziale Typen einen Ursprung haben und eine Entwicklung und dynamische Veränderungen durchlaufen.[34] Der soziale Typus des Märtyrers war über die Jahrhunderte hinweg alles andere als eine statische Einheit und interagierte stark mit dem spezifischen sozialen Kontext der Zeit. Dieser muss deshalb einbezogen werden, um einen bestimmten Märtyrer verstehen zu können.

Weiner verwenden eine eher restriktive Definition des Märtyrers, die sie aus einem klassischen antik-jüdisch-christlichen Verständnis des Märtyrers gewinnen:

„The martyr will be seen as a member of a suppressed group who, when given the opportunity to renounce aspects of his or her group’s code, willingly submits to suffering and death rather than forsake a conviction.“[35]

Diese Definition schliesst sowohl aktive Märtyrer mit ein, die bewusst wählen, für ihre Überzeugungen zu leiden, als auch passive Märtyrer, die das Leiden passiv akzeptieren. Bei einigen sind die Glaubensüberzeugungen klar ausgesprochen, bei anderen nicht.

Der Märtyrer als eigenständiger sozialer Typus wurde von den Soziologen meist nur sekundär behandelt.[36] Hingegen wurde das Thema häufig durch die Sozialpsychologie, Psychologie und die Kulturelle Anthropologie untersucht. Dabei wurde das Martyrium nicht selten als pathologischer Ausdruck eines inner-psychischen Prozesses betrachtet. Weiner interessieren sich allerdings nicht so sehr für das Innenleben der Märtyrer, sondern für die sozialen Faktoren, die zum Martyrium beitragen. Sie untersuchen deshalb in erster Linie drei Elemente, die zum Idealtyp des Märtyrers gehören:

a) The Martyrological Confrontation: Die Konfliktsituation zwischen Verfolger und Märtyrer (vgl. Weiner, 51-64).
b) The Martyr’s Motive: Die Bereitschaft des Märtyrers zur Selbstopferung für seine Überzeugungen (vgl. Weiner, 65-86).
c) The Martyrological Narrative: Die Erinnerung an den Märtyrer durch Martyrologien (vgl. Weiner, 87-130).

Diese drei Elemente sollen im Folgenden etwas weiter ausgeführt werden.

a) The Martyrological Confrontation

Grundfragen des Menschseins nach dem Ziel des Lebens, dem besten Lebensweg, nach Sinn und Ursache von Glück und Unglück sind nicht nur individuelle Fragen sondern vor allem jene einer Gesellschaft. Kulturen und Religionen haben darauf verschiedene Antworten gegeben. Diese geben dem Leben eine Bedeutung, sind aber immer zerbrechlich. Sie sind abhängig von der menschlichen Zustimmung. Etablierte Werte werden durch ritualisierte Zeremonien verstärkt. Bei nicht-etablierten oder hinterfragten Werten braucht es mehr, um plausibel zu sein. Eine Möglichkeit, Zweifel zu zerstreuen, ist ihre Bindung an das menschliche Leben. Um die Bedeutung des herausgeforderten Lebenskonzepts zu verdeutlichen, kann man entweder jene töten, die diese in Frage stellen, oder sein eigenes Leben oder jenes einer geliebten Person dafür opfern. Es ist jedoch oft eine Illusion zu glauben, durch das Umbringen des Herausforderers könne jeglicher Zweifel für immer getilgt werden, denn es entstehen wieder andere Herausforderer. Durch den eigenen Tod stirbt hingegen die Möglichkeit des Zweifels:

„Once a believer has been sacrified for a belief there is no longer a way to challenge or to doubt that belief. Dying for one’s belief, strangely enough, ensures the continuity of one’s convictions, and more humanely than through killing.”[37]

Durch seinen Tod macht der Märtyrer das, woran er glaubt, glaubwürdig. Zumindest zwingt er die Anderen, ihre Aufmerksamkeit auf seine Sache zu lenken, denn immerhin ist diese überzeugend und wahr genug, um für sie zu sterben. Die einzige Gefahr lauert in einer möglichen Neubeurteilung durch die Geschichte. Dem versuchen Martyrologien und rituelle Wächter gegen die Desakralisierung entgegenzuwirken.

Für ein Martyrium ist die Konfrontation zwischen zwei Gruppen oder Individuen notwendig. Dabei steht auf der einen Seite eine non-konformistische Person oder Gruppe mit abweichenden Überzeugungen und Interessen und auf der anderen Seite eine dominante Person oder Gruppe.

Märtyrer entstehen nur in bestimmten historischen Umständen. Das Martyrium spielt vor allem dann eine Rolle, wenn sich eine Gruppe neu bildet (formative situation[38] ), nach einer Phase der Schwäche wieder neu formiert (reformative situation), die Existenz der Gruppe in Gefahr ist (degenerative situation) oder eine partikuläre Gruppe versucht, über die gesamte Bevölkerung eine Hegemonie auszubreiten (the Zero-sum competitive situation). In all diesen Situationen ist Gruppendisziplin notwendig.

Weiner zählen mehrere Aspekte auf, mit denen der Märtyrer zur Gruppenbildung und ihrem Überleben beiträgt[39]:

- Kollektiver Enthusiasmus in einer Gesellschaft existiert meist nur in Krisenzeiten. Es braucht oft viel, um Menschen aus ihren angestammten Lebensweisen aufzuschrecken und sie zur Bildung neuer Gruppen zu bewegen. Ein dramatisches Mittel dazu ist das Martyrium. Für die Rekrutierung von neuen Mitgliedern ist es notwendig, dass die Gruppe öffentliche Aufmerksamkeit erhält.
- Das Martyrium hat zwei wichtige Effekte: Die etablierten Werte der Gesellschaft werden herausgefordert und die eigenen Werte werden dadurch plausibler und überzeugender gemacht. Dabei werden die Ziele der Gruppe durch die Märtyrer oft schlagwortartig auf den Punkt gebracht.
- Der Märtyrer zeigt, dass Widerstand gegen den Widersacher möglich ist. Die Legitimität der Herrschenden wird dadurch in Frage gestellt. Das Martyrium kann auch zu einer Demoralisierung des Verfolgers führen. Gerade durch die brutale Gewaltanwendung kann die Autorität des Unterdrückers untergraben und sein Ansehen vergiftet werden, während der verfolgten Minderheit durch ihre Standhaftigkeit Bewunderung entgegengebracht wird.
- Der Märtyrer bleibt auch nach seinem Tod Massstab für die Loyalität zur Gruppe. Der Kampf gegen die falsche Autorität wird so zu einer Art moralischen Imperativs für alle Anderen. Wer sich nicht wehrt, macht sich an der Gruppe schuldig. Das Martyrium ist der ideale Beweis für die eigene Überzeugung. Gerade zu Beginn von Gruppenbildungen setzt das Martyrium Standards für die Mitgliedschaft in der Gruppe. Neumitglieder werden so von Anfang an darauf vorbereitet, allenfalls einen hohen Preis für die Mitgliedschaft zu bezahlen.
- Nach Weiner ist mit dem Martyrium in der Regel eine Transzendentalisierung und Sakralisierung der Sache verbunden:

„Martyrs and their convictions are intrinsically religious phenomena because they evoke awe and devotion in the group. They are humanly finite, but are tied to transcendent and eternal aspirations and pretensions.“[40]

Paradoxerweise wird durch das Martyrium von einzelnen Gruppenmitgliedern oft die Gruppe als Ganze gestärkt. Dies geschieht zwar nicht unbedingt quantitativ, denn die ‚Schwächeren’ fallen angesichts der Todesgefahr oft von der Gruppe ab. Die Übriggebliebenen hingegen werden gestärkt. Sie vertreten die Gruppe resoluter und haben eine grössere Bereitschaft, für deren Überzeugungen notfalls zu sterben. Die Folge davon kann eine Zunahme von Kompromisslosigkeit und Extremismus innerhalb der Gruppe sein. Die Gruppe wird dadurch für den Verfolger gefährlicher, was dessen verstärkte Opposition hervorruft. Dies wiederum produziert neue Märtyrer. Dieser Prozess ist aber nicht endlos. Irgendwann wird der Konflikt auf die eine oder andere Seite entschieden.

b) The Martyr’s Motive

Weiner interessieren sich nicht so sehr für die inner-psychologische Martyriumsbereitschaft der Märtyrer, sondern für die Motive als Teil der sozialen Interaktion. Es geht ihnen nicht darum, was die tatsächlichen Motive sind, sondern was der Märtyrer über seine Motive sagt. Sie fragen danach, wie soziale Akteure ihrem Handeln Bedeutungen zumessen und wie sie durch ihre Motive andere beeinflussen, aber auch wie Gruppen auf die Motivation ihrer Mitglieder einwirken.

Oft aber nicht immer findet eine Interaktion zwischen der Selbstproklamation des Märtyrers und der Proklamierung des Martyriums durch die Gruppe statt. Es gibt Fälle, in denen der Getötete von der Gruppe zum Märtyrer erhoben wird, während der Getötete dies selber ablehnt oder zumindest indifferent bleibt. In anderen Fällen besteht zwar eine grosse Martyriumsbereitschaft seitens des Verfolgten, er wird jedoch trotzdem von der Gruppe nicht als Märtyrer anerkannt oder erst lange nach seinem Tod. Das klassische Martyrium besteht jedoch in der Übereinstimmung zwischen der Selbstproklamation des Märtyrers und dessen Anerkennung durch die Gruppe. Vor allem in diesem Fall spielt die soziale Interaktion mit der Gruppe eine grosse Rolle. Die Unterstützung, die Vorbereitung, der Druck der anderen Gruppenmitglieder und das Beispiel von bereits verehrten Märtyrern, die den gleichen Weg gegangen sind, tragen dazu bei, dass die Verfolgten an ihrer Martyriumsbereitschaft auch unter grösstem Druck festhalten. Die soziale Anerkennung des Märtyrers hängt von der Unterstützung der Gruppe ab. Gerade im Martyrium kann sich exemplarisch die Macht der Gruppe zeigen. Eine erfolgreiche Sozialisierung befähigt den Märtyrer dazu, seine Sache konstant aufrechtzuerhalten. Es scheint, dass Individuen dazu motiviert werden können, die fundamentalsten Lebensimpulse zu übergehen. Zumindest in gewissen Fällen ist für Weiner die soziale Kontrolle im Martyrium unbegrenzt.

Mit welchen Mitteln sozialisieren nun aber Gruppen ihre Mitglieder, damit sie zum Martyrium bereit sind und dieses in der Not auch aufrechterhalten? Weiner illustrieren dies anhand des frühchristlichen Martyriums: Oft wird der Lohn im Jenseits als Hauptgrund angegeben, weshalb sich so viele Christen zu Märtyrern machen liessen. Nach Weiner ist das Versprechen auf ein ewiges Leben aber nur ein Faktor unter vielen. Denn weshalb sollte das Leben im Jenseits stark genug sein, um das Leben hier auf Erden aufzugeben? Die Bereitschaft zum Martyrium wurde nach Weiner bei den frühen Christen vielmehr zu einer Grundbedingung für eine Aufnahme in die Gruppe. Damit sollte die Solidarität mit der Gruppe garantiert werden. Die symbolische Einstudierung der Martyriumsbereitschaft war ein Hauptmittel, um die Gruppe lebendig zu behalten. Sie wurde zum Massstab, an dem die Gruppenkonformität gemessen wurde.

Weiner zählen wiederum am Beispiel der Verfolgung der frühen Christen verschiedene Formen der Stärkung und Beeinflussung der Martyriumsbereitschaft auf[41]:

1. Die gründliche Visualisierung

Der Märtyrer lernte während des Martyriums keine Situationen kennen, die er nicht schon vorher kannte. Alle Stufen des Prozesses, die zum Martyrium führten, wurden durch Visualisierung vorweggenommen und eingeübt: Verhaftung, Haft, physische Entbehrungen, Untersuchung mit Drohungen durch den Magistraten, Überzeugungsversuche, Angebote von Belohnung im Falle des Widerrufs, Loyalitätstests in Form von Riten, Folter und verschiedene Formen der Hinrichtungen. Diese Vorbereitung auf die möglichen Leiden mag einige eingeschüchtert und zum Verlassen der Kirche bewogen haben. Bei den Motivierten bewirkte dies aber eher eine Stärkung der Martyriumsbereitschaft.

2. Die Beschreibung von erfolgreichen Martyrien

Die Verbreitung von Berichten über glorreiche Martyrien von einzelnen Christen dürfte einen wichtigen Beitrag geleistet haben zur Motivierung jener, die sich durch Visualisierung auf das Martyrium vorbereiteten. Solche Martyrologien, die auch Teil der Liturgie waren, zeigten ihnen konkrete Beispiele von nachzuahmendem Verhalten.

3. Betonung der Anerkennung des Märtyrers

Entscheidend war nicht nur das Versprechen auf ein Weiterleben im Jenseits sondern auch die Gewissheit, im Diesseits einen festen Platz in der Erinnerung der Überlebenden und der Liturgie der Kirche zu erhalten. Zum Teil war es möglich, die Märtyrer im Gefängnis zu besuchen, ihnen Essen zu bringen. Dabei wurde ihnen Mut zugesprochen. Es gab auch Zelebrationen, um den kommenden Test zu dramatisieren. Beachtung und Anerkennung kann die Martyriumsbereitschaft stärken. Kollektiver Enthusiasmus führt nicht selten zur Bereitschaft, Dinge zu tun, die man auf sich allein gestellt wohl nie ausführen würde. Das Martyrium war zuerst einmal eine lokale Angelegenheit. Die Gewissheit, beobachtet zu werden, trug dazu bei, dass der Drang zu widerrufen abnahm. Ein Apostate hätte ja genau mit jenen weiter zusammenleben müssen, deren Erwartungen er enttäuscht hatte.

4. Prädisposition zum Martyrium

Nicht jeder, der sich für eine Sache engagiert, ist auch bereit, für sie zu sterben. Dies ist erst dann der Fall, wenn die Person mit der Sache eins wird. Weiner beschreiben diesen psychischen Vorgang folgendermassen:

„To deny a belief is not necessarily to deny oneself, but to deny a conviction is to die a little. There are convictions that grow and develop. As they do so they begin to crowd out what was once an independent person. The cause takes over. It becomes an all for the person, and it is difficult to distinguish the person from the conviction. It is at that point that a need for self-transcendence develops. What is left of an independent self becomes a hindrance. There is need to prove that the cause is all. Such proof is provided through expungement of the corporeal self. It is only when the individual becomes superfluous that the cause becomes all. This is the generative moment when the cause creates martyrs.”[42]

Dieser psychische Prozess ist tendenziell eher möglich bei Menschen, die eine allgemeine psychische Prädisposition zur Selbstopferung haben. Die Führer einer Gruppe haben deshalb ein Interesse daran, Personen zu finden, die besonders gute Bedingungen mitbringen, für die Sache der Gruppe zu sterben.

c) The Martyrological Narrative

Nicht alle Opfer von Verfolgung werden zu Märtyrern. Dies geschieht erst dann, wenn er oder sie von einer Gruppe als Märtyrer anerkannt wird. Martyrien werden erst sozial bedeutsam, wenn sich jemand an die Märtyrer erinnert. Das Geschehen muss in ein Ereignis von sozialer Bedeutung verwandelt werden. Erst dadurch wird der Märtyrer unsterblich. In diesen sozialen Prozess sind zahlreiche soziale Akteure involviert, vom einfachen Gläubigen bis zur Elite der Gruppe. Formen der sozialen Anerkennung sind beispielsweise die offizielle Verleihung des Märtyrertitels, die Konstruktion eines Monuments, die Stiftung eines Rituals aufgrund des Martyriums (z.B. Grab- oder Reliquienverehrung) oder sogar die Bildung einer neuen sozialen Bewegung oder Religion, die aufgrund des Martyriums entsteht.

Zu diesem Prozess gehört auch die Dramatisierung des Lebens des Märtyrers, die Schaffung eines Mythos. Es braucht dazu eine Literatur, die Martyrologie, die geschaffen wurde, um die Erinnerung an die Märtyrer aufrechtzuerhalten. Es ist nicht zwingend, dass dies bereits in der Epoche des Märtyrers geschieht. Auch ein späteres Verfassen ist möglich, ja sogar ‚erfundene’ Märtyrer sind denkbar. Martyrologien brauchen sich nicht mit dem historischen Geschehen zu decken. In ihnen kann von einer Überzeugung gesprochen werden, die der Märtyrer in Wirklichkeit gar nie hatte. Gerade in den Martyrologien liegt ein grosses Manipulationspotential für partikuläre Interessen. Martyrologien können durch die Glorifizierung des Märtyrers zum Ansporn für andere Gruppenmitglieder werden. Sie sind oft eindringlicher als abstrakte Glaubenssätze. Die Gruppe hat schon deswegen ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Erinnerung an die Märtyrer, weil allenfalls in der Zukunft weitere Märtyrer benötigt werden.

d) Kritik an Weiner

Ein soziologischer Blick auf religiöse Phänomene hat nicht selten ihre Entmythologisierung und Desakralisierung zur Folge. Die Phänomene werden aus himmlischen Höhen auf die Erde zurückgeholt, da sie die Religionssoziologie in erster Linie als Teil einer sozialen Interaktion versteht. So möchten die Überlegungen von Weiner aufzeigen, inwiefern das Martyrium ein soziales Konstrukt ist. Für Weiner ist die soziologische Perspektive auf das Martyrium durchaus nicht die einzig mögliche. Erwähnung findet daneben v.a. die psychologische Erforschung der inneren Motivation der Märtyrer, wobei das Martyrium dabei nicht selten als pathologischer Ausdruck von inner-psychischen Problemen betrachtet wird. Beide Perspektiven – die soziologische wie die psychologische – haben ihre Berechtigung und können helfen, das Phänomen des Martyriums besser zu verstehen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass beide Ansätze perspektivisch sind und damit einen begrenzten Blickwinkel haben. So können sie schon per definitionem nichts über die Wirklichkeit einer vertikalen, transzendentalen Dimension aussagen. Von ihrem methodischen Ansatz her kann z.B. die Soziologie gar nicht anders, als religiöse Handlungen und Glaubenszeugnisse als Ausdruck sozialer Interaktion zu verstehen. Die Wirklichkeit Gottes, die allenfalls hinter diesen religiösen Phänomen steht, ist ausserhalb ihrer Reichweite. Diese fällt in den Bereich des Glaubens. Die Soziologie kann allein die sozialen Zusammenhänge untersuchen, die hinter religiösen Ritualen und Vorstellungen und dem, wie die Menschen über diesen Gott reden, zum Ausdruck kommen. Das Aufzeigen dieser sozialen Interaktion hat durchaus seine Berechtigung. Nur dürfen psychologische und soziologische Ansätze genauso wenig wie die Theologie den Anspruch erheben, die Wirklichkeit als Ganze erklären zu können. Sie sind auch nicht völlig voraussetzungslos und wertfrei. Gerade psychologische Erklärungen, wonach die Bereitschaft zum Martyrium ausschliesslich pathologische Ursachen hat, setzen ein bestimmtes Menschenbild voraus, wobei oft schon von vornherein feststeht, dass die Hingabe seines eigenen Lebens für etwas oder jemanden psychisch abnormal ist.[43] Es soll damit nicht bestritten werden, dass die Bereitschaft zum Martyrium nicht auch unter einem psychopathologischen Blickwinkel betrachtet werden muss. Gerade die Bereitschaft zur Selbstopferung wirft durchaus Fragen nach einer masochistischen Seite der Religion auf. Doch allgemein zu schliessen, alle Märtyrer seien Psychotiker, scheint doch mehr als verfehlt zu sein. Gerade die Lebenszeugnisse und Schriften grosser religiöser Märtyrer des 20. Jahrhunderts wie Dietrich Bonhoeffer oder Martin Luther King zeigen Menschen von grosser menschlicher Tiefe, die das Leben geliebt haben. Es ist wahr, dass in Berichten über Märtyrer zum Teil auch von ekstatischen Erfahrungen, Visionen und Auditionen berichtet wird. Der Theologe Peter Gerlitz versteht diese als eine Art von Psychose angesichts der Qualen und Folterungen, die sie in den Tagen vor ihrem Martyrium zu erleiden haben und die Entrückung als Mittel, um diese Qualen durchzustehen. Zurecht weist er aber darauf hin:

„Man wird dem Phänomen religionswissenschaftlich nicht gerecht, wenn man aus dieser mentalen Disponiertheit des Märtyrers nur auf dessen psychopathologische Struktur schliessen wollte, ohne die religiöse Breitenwirkung zu berücksichtigen. Die grossen Bewegungen, die das Märtyrertum in der Religionsgeschichte ausgelöst haben, sind nicht mit medizinischen oder psychiatrischen Massstäben zu messen“[44]

Ebenfalls zu eng scheint mir auch, das Martyrium rein soziologisch erklären zu wollen, wie Weiner dies tun. Sie räumen zwar ein, dass frühere soziologische Theorien, wonach menschliches Verhalten praktisch ausschliesslich durch soziale Kräfte bestimmt wird, heute überholt sind und die Sozialisierung der Menschen durch die Gesellschaft im Unbewussten und in der sich laufend ändernden Welt ihre Grenzen findet. Diese Begrenzung der sozialen Determiniertheit scheint für Weiner im Falle des Martyriums hingegen nicht zu gelten:

„It does seem to confirm that social control has no limits when a person is willing to die rather than disappoint the group. Martyrdom is a test of the limits of pain, suffering, patience, courage, loneliness, endurance and sacrifice that individuals are willing, indeed choose, to endure, with the aid of the group. (…) Consequently, if instinctual drives towards self preservation can be overcome by social influences at specific times and places, then how can it be claimed that unconscious forces ultimately determine behaviour? It seems that the alleged limits of group socialisation are not very limiting with regard to martyrdom.”[45]

Eine solche Verallgemeinerung scheint mir ungerechtfertigt. Es mag durchaus sein, dass einige Märtyrer wirklich praktisch ausschliesslich Produkte einer sozialen Gruppe sind. Gerade bei palästinensischen oder islamistischen Selbstmordattentätern ist ein solcher Verdacht nicht von der Hand zu weisen. Doch können andere als Märtyrer verehrte Persönlichkeiten wie z.B. Oscar Romero sicher nicht restlos als Produkt einer sozialen Gruppe verstanden werden. Gerade bei solchen grossen Gestalten zeigt sich deutlich, dass derselbe Begriff des Märtyrers eben auf sehr unterschiedliche Phänomene angewandt wird. Menschen wie Bonhoeffer und Romero zeichnen sich meines Erachtens durch eine grosse Eigenständigkeit und Freiheit aus, die oft den Erwartungen einer Gruppe widersprechen. Auch wenn sich kein Individuum der Beeinflussung durch die Anderen entziehen kann, ja erst durch die Anderen überhaupt konstituiert wird, geht das Individuum doch nie völlig im Anderen auf, ja findet im Martyrium bisweilen vielleicht sogar den höchsten Ausdruck seiner Freiheit.

Trotz dieser Einwände zeigen die Überlegungen von Weiner deutlich, dass das Martyrium ein soziales Geschehen ist, das nicht auf das Schicksal und den Willen des einzelnen Märtyrers beschränkt bleibt. Es handelt sich nicht einfach nur um eine persönliche Angelegenheit zwischen dem verfolgten Gläubigen und seinem Gott. Auch wenn die Bereitschaft, für seinen Glauben und seinen Einsatz für das Reich Gottes im Ernstfall sein Leben hinzugeben, nicht einfach nur auf soziale Kräfte zurückgeführt werden kann, so wird der Märtyrer als sozialer Typus erst zu diesem durch eine soziale Gruppe, die ihn als solchen proklamiert und sich an ihn erinnert. Die Einbettung des Märtyrers in seine Gruppe ist zuerst einmal etwas ganz Normales, schliesslich war er ja ein Teil von ihr. Weiner machen aber zu recht auf die Gefahr aufmerksam, dass sowohl die Bereitschaft zum Martyrium wie auch die Erinnerung an die Märtyrer für irgendwelche (Gruppen-) Interessen instrumentalisiert werden können, die zum Teil nur bedingt deren eigenen Absichten entsprechen.

[...]


[1] Um der Lesbarkeit willen erlaube ich mir, ausser dort, wo es sich explizit um eine Frau handelt, in meiner Arbeit nur die männliche Form des Märtyrers zu verwenden. Ich bin mir bewusst, dass eine solche Sprachregelung der Sichtbarkeit der zahlreichen Märtyrerinnen, die seit je her mehr der Gefahr des Vergessens ausgesetzt waren als die Märtyrer, nicht unbedingt förderlich ist.

[2] Natürlich gibt es auch den Fall, dass jemand nicht zum Märtyrer erhoben wird und in Vergessenheit gerät, obwohl er eigentlich ‚in Deo’ ein Märtyrer ist. Die Kirche hat nie den Anspruch erhoben, alle heiligmässigen Menschen heilig gesprochen zu haben.

[3] Vgl. III 11,1: „martyrium esse voluntariam mortis perpessionem seu tolerantiam propter fidem Christi, vel alium virtutis actum in Deum relatum.“ Zitiert nach Butterweck, “Martyriumssucht” in der Alten Kirche, 1.

[4] Vgl. Moll, Die katholischen deutschen Martyrer des 20. Jahrhunderts, XI und Maier: Politische Martyrer, in: Stimmen der Zeit 222 (2004), 297.

[5] Ausführliche kirchengeschichtliche Darstellungen bieten u.a. Baumeister, Die Anfänge der Theologie des Martyriums, 1980; Baus, Von der Urgemeinde zur frühchristlichen Grosskirche, 1985; Brox (Hg.), Die Geschichte des Christentums, Band I und Band II, 1996; Brox, Zeuge und Märtyrer, 1961; Butterweck, “Martyriumssucht” in der Alten Kirche? 1995; Campenhausen, Die Idee des Martyriums in der Alten Kirche, 21964. Konsultierte Lexikonartikel: Albrecht, Art. Märtyrer, in: EKL III, 300f.; Albrecht, Art. Märtyrerakten, in: EKL III, 301f.; Barceló u.a., Art. Christenverfolgungen, in: RGG II, 246-254; Beinhauer-Köhler u.a., Art. Märtyrer, in: RGG V, 861-878; Brox, Art. Zeugnis, in: HThG, 905-911; Freudenberger u.a., Art. Christenverfolgungen, in: TRE VIII, 23-62; Frutaz/Beckmann, Art. Martyrer, in: LThK2 VII, 127-133; Gerlitz u.a., Art. Martyrium, in: TRE XXII, 197-220; Hamman: Art. Martyrerakten, in: LThK2 VII, 133f.; Jossua, Art. Zeugnis, in: NHThG V; Kantzenbach/Lilienfeld/Prien, Art. Christenverfolgungen, in: EKL I, 670-679; Klausner, Art. Martyrdom, in: The Encylopedia of Religion, 230-238; Luz u.a., Art. Nachfolge Jesu, in: TRE XXIII, 678-710; Neuhäusler/Rahner, Art. Martyrium, in: LThK2 VII, 134-138; Sim/Köpf/Ulrich, Art. Nachfolge Christi, in: RGG VI, 3-11; Sode, Art. Martyrologien, in: RGG V, 878; Stieger, Art. Martyrologien, in: LThK2 VII, 138-140; Vetter/Hagemann/Balic, Art. Martyrium, in: Lexikon religiöser Grundbegriffe, 671-673; Waldmann, Art. Märtyrer, in: WdC, 765f.; Wischmeyer, Art. Märtyrerakten, in: RGG V, 873-875; Wischmeyer, Art. Märtyrerverehrung, in: RGG V, 875f. Konsultierte Internetartikel: Hassat, Art. Martyr, in: New Advent. Catholic Encyclopedia, http://www.newadvent.org; Bridge, Art. Acts of the Martyrs, in: New Advent. Catholic Encyclopedia, http://www.newadvent.org; Delehaye, Art. Martyrology, in: New Advent. Catholic Encyclopedia, http://www.newadvent.org.

[6] Vgl. z.B. 1 Petr 4,12-19; Hebr 10,32-34; Apk 12,10f.

[7] Vgl. Apg. 8,3; 22,1-21.

[8] Vgl. z.B. Röm 8,35; 1 Kor 4,9-13; 2 Kor 1,3-11; 2 Thess 1,4; 2 Tim 3,10-12;

[9] Stephanus gilt deshalb als einer der Erzmärtyrer des Christentums, was auch seine grosse Verehrung und seinen besonderen Platz im Kirchenjahr am zweiten Weihnachtstag erklärt.

[10] Vgl. Butterweck, „Martyriumssucht“ in der Alten Kirche? v.a. 8-89.

[11] Paulus verlangte von den Christen, dass sie die römischen Staatsorgane achteten (vgl. Röm 13,1-7). Auch christliche Apologeten argumentierten gegenüber den römischen Behörden immer wieder mit der Loyalität der Christen gegenüber dem Römischen Reich.

[12] Lepelley: Die Christen und das Römische Reich, in: Brox (Hg.), Die Geschichte des Christentums, Band I, 238.

[13] Vgl. dazu: Ebd., 237-240.

[14] Ebd. 248-251.

[15] Die Passion der Heiligen Perpetua und Felizitas, in: Hagemeyer/Hürtgen (Hg.), Ich bin Christ. Frühchristliche Martyrerakten, 104.

[16] Allenfalls findet sich eine islamische Parallele in der schiitischen Leidensmystik als Folge des Martyriums von Imam Hussein, dem Enkel Mohammeds, in der Schlacht bei Kerbala (im heutigen Irak) 680 n.Chr.

[17] Weckel, Um des Lebens willen, 60-62.

[18] Ignatius von Antiochien, Brief an die Römer, aus den Kapiteln 4 u. 6, in: Fischer, u.a. (Hg.), Schriften des Urchristentums, Teil I, 186. Vgl. auch den Rest des Briefes. Eine ähnliche Martyriumssehnsucht kommt in den Märtyrerakten über die Passion der Heiligen Perpetua und Felizitas in Bezug auf die Geburtswehen der Felizitas zum Ausdruck: „Was nun Felizitas betrifft, so wurde auch ihr die Gnade des Herrn zuteil, nämlich so: Da sie schon im achten Monat schwanger war (sie war nämlich als Schwangere festgenommen worden), quälte sie, als der Tag der Schauspiele herannahte, die große Sorge, ihr Martyrium könne wegen ihrer Schwangerschaft verschoben werden. Es ist nämlich nicht erlaubt, Schwangere hinzurichten. Deshalb fürchtete sie, dass sie vielleicht erst später mit anderen, etwa mit Verbrechern, ihr heiliges und unschuldiges Blut vergießen würde. Aber auch ihre Mitmartyrer sorgten sich sehr, weil sie eine so gute Gefährtin, obwohl sie doch eigentlich ihre Begleiterin sein sollte, allein auf dem Wege der gleichen Hoffnung zurücklassen mussten. In einmütigem Seufzen sandten sie daher zwei Tage vor dem Spiel gemeinsam ihr Gebet zum Herrn, und sofort nach dem Gebet wurde Felizitas von den Wehen ergriffen.“ Aus: Passion der Heiligen Perpetua und Felizitas, in: Hagemeyer/Hürtgen (Hg.), Ich bin Christ. Frühchristliche Martyrerakten, 114.

[19] Vgl. Ignatius von Antiochien, Brief an die Trallianer, Kap. 10/11, in: Fischer, u.a. (Hg.), Schriften des Urchristentums, Teil I, 190. Eine vertiefte Untersuchung des Vorwurfs der Martyriumssucht in der Alten Kirche findet sich bei Butterweck, „Martyriumssucht“ in der Alten Kirche, 1995. In ihrer Arbeit befasst sie sich v.a. mit den verschiedenen literarischen Gattungen, in denen eine Martyriumsbereitschaft zum Ausdruck kommt. Sie stellt dabei fest, dass gerade Texte wie jener von Ignatius nur unter der Voraussetzung der Apologetik gegenüber dem Staat und gleichzeitig gegenüber häretischen Gruppen zu verstehen sind. Zudem folgen die Texte literarisch und stilistisch festgelegten Formen der damaligen Zeit. Indem die Verfasser für ihre Argumentation anerkannte Topoi der damaligen Zeit verwenden, hoffen sie, als ernstzunehmende Gesprächspartner anerkannt zu werden. Sehr oft wird dabei auf die Argumente aus der Apologie des Sokrates zurückgegriffen oder im Fall des Römerbriefs von Ignatius auch auf das 4. Makkabäerbuch Bezug genommen. Vgl. dazu ebd., 23-35.

[20] Baumeister, Märtyrer und Verfolgte im frühen Christentum, 171. Zitiert nach: Weckel, Um des Lebens willen, 1998, 63.

[21] Tertullian, Apologeticum 50,13, in: Dekkers, Corpus Christianorum series latina, Band 1,171.

[22] Die Gemeinde von Smyrna erklärt z.B. in den Märtyrerakten des Polykarp unmissverständlich: „Deswegen, Brüder loben wir die, die sich selbst stellen, nicht; denn das Evangelium lehrt nicht so!“ Polmart, 4,1, in: Buschmann (Hg.), Das Martyrium des Polykarp, 27.

[23] Augustinus, Ps. 34 Sermo 2,13, in: PL, 36, 340.

[24] Deshalb ist beim Heiligsprechungsprozess der Märtyrer im Gegensatz zu den übrigen Heiligen kein Nachweis eines tugendhaften Lebens nötig.

[25] Vgl. Frutaz, Art. Martyrer. III Verehrung, in: LThK2 VII, 129-131.

[26] Vgl. als wohl bedeutendstes Beispiel den Petersdom über dem Petrusgrab in Rom. Die Zahl und Bedeutung der Märtyrer Roms trug überdies zur zentralen kirchlichen Bedeutung der Stadt bei.

[27] Vgl. zur Frage der Lapsi: Piétri/Gottlieb, Christenverfolgungen zwischen Decius und Diokletian, in: Brox (Hg.), Die Geschichte des Christentums, Band II, 162-166; Baus, Von der Urgemeinde zur frühchristlichen Grosskirche, 373-380 sowie Kirsch, Art. Lapsi, in: New Advent, Catholic Encyclopedia, www.newadvent.org.

[28] Die Autorität der Confessoren wegen ihrer Standhaftigkeit im Glauben geriet immer wieder in Konflikt mit der Autorität der Bischöfe.

[29] Vgl. Cyprian, De lapsis 2-3, zitiert nach: Slusser, Art. Martyrium III/1, in: TRE XXII, 209.

[30] Weiner, The Martyr’s Conviction, 1990 stellt die Hauptgrundlage dieses Exkurses dar.

[31] Weiner benützen dabei den Ausdruck ‚Convictions’, den sie von ‚Attitudes’ und ‚Beliefs’ abgrenzen. Im Vergleich zu blossen Einstellungen und Überzeugungen werden ‚Convictions’ über eine längere Zeit durchgehalten. Sie sind konstitutiv für die Identität einer Person oder einer Gemeinschaft und haben für sie eine umfassende Bedeutung.

[32] “We perceive martyrs as a social type with a persistent character, located within a structured community of believers rather than as an actor who assures a social role with the characteristic detachement that accompanies the role concept.” Ebd., 8.

[33] Vgl. dazu ebd., 27-29.

[34] Eine guten Überblick über die verschiedenen Interpretationen des Begriffs ‚sozialer Typus’ gibt der Artikel: Almog, Oz: The Problem of Social Type. A Review, 1998.

[35] Weiner, The Martyr’s Conviction, 10.

[36] Weiner erwähnen z.B. Max Weber im Zusammenhang mit der Behandlung der Theodizee oder Robert Merton, der den Märtyrer als Beispiel für einen historisch bedeutsamen Nonkonformisten vorstellt (vgl. Weiner, 17). Interessant scheinen mir auch die Überlegungen von Emile Durkheim zu sein, der den Märtyrer in seiner Studie über den Selbstmord behandelt. Durkheim unterscheidet dabei verschiedene Suizidformen. Neben dem egoistischen Suizid (als Folge von übermässiger Vereinzelung), dem fatalistischen Suizid (als Folge eines zu grossen Normenzwangs und einer gesellschaftlichen Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse) und dem anomischen Suizid (als Folge von Normverlust und Regellosigkeit in Zeiten von grossen wirtschaftlichen und politischen Veränderungen) kennt Durkheim auch den altruistischen Suizid. Dieser ist eine Folge eines Mangels an Individualität und übermässiger Integration in ein Kollektiv. Der Einzelne ordnet sich praktisch vollständig einem Kollektiv unter und definiert sich über dieses, was bis zum Opfer seines eigenen Lebens führen kann. In diese Kategorie fällt auch der Märtyrer. Vgl. dazu: Durkheim, Der Selbstmord, 1999. Eine neuere Arbeit zu diesem Thema, die auch die Studie von Durkheim aufgreift und diskutiert, stammt vom Soziologen Klaus Feldmann, Suizid und die Soziologie vom Sterben und Tod, 1998; oder: ebd., Suizid, sozialwissenschaftliche Theorien, wissenssoziologische und ideologiekritische Überlegungen, 2001. Als Beispiel für eine der wenigen soziologischen Arbeiten, die das Martyrium als Hauptgegenstand haben, nennen Weiner die (allerdings bereits etwas alte) Studie „The Martyrs. A Study of Social Control, 1931“ von Donald W. Riddle und Arbeiten von Orrin Klapp wie „Symbolic Leaders: Public Dramas and Public Men, 1974“ (vgl. Weiner, 17). Ein anderer möglicher soziologischer Ansatz als Ausgangspunkt zur Behandlung des Martyriums wären auch die Arbeiten von René Girard, der sich vor allem mit der Opferproblematik und der Gewalt in den Religionen auseinandersetzt. Vgl. z.B. Girard, Das Ende der Gewalt, 1983 und Girard, Das Heilige und die Gewalt, 1992. Ein guter religionssoziologischer Überblick gibt auch der Lexikonartikel „Martyrdom“ von Samuel Klausner aus „The Encyclopedia of religion“ IX, 230-238.

[37] Weiner, The Martyr’s Conviction, 52.

[38] Vgl. dazu ebd., 78f. Eine ähnliche Analyse findet sich bei Klausner, Art. Martyrdom, in: The Encylopedia of Religion, 230-238.

[39] Vgl. dazu Weiner, The Martyr’s Conviction, 55-64.

[40] Ebd., 61.

[41] Vgl. dazu ebd., 79-86.

[42] Ebd., 86.

[43] Vgl. die Ausführungen von Weiner über die verschiedenen psychologischen Theorien bezüglich des Martyriums. Praktisch alle diskutierten Ansätze betrachten das Martyrium dabei als pathologisch. (Weiner, The Martyr’s Conviction, 18-26.

[44] Gerlitz, Martyrium I, in: TRE XXII, 202.

[45] Weiner, The Martyr’s Conviction, 75.

Ende der Leseprobe aus 130 Seiten

Details

Titel
Martyrium zwischen Fanatismus und Heiligkeit
Untertitel
Eine Auseinandersetzung mit dem Martyrium im Anschluss an den Roman "Schweigen" von Shusaku Endo
Hochschule
Université de Fribourg - Universität Freiburg (Schweiz)  (Theologische Fakultät)
Note
1.25
Autor
Jahr
2005
Seiten
130
Katalognummer
V55666
ISBN (eBook)
9783638505550
ISBN (Buch)
9783656526636
Dateigröße
1063 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schweiz/Note: 5.75
Schlagworte
Martyrium, Fanatismus, Heiligkeit, Eine, Auseinandersetzung, Martyrium, Anschluss, Roman, Schweigen, Shusaku, Endo
Arbeit zitieren
Roger Husistein (Autor:in), 2005, Martyrium zwischen Fanatismus und Heiligkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55666

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