Leseprobe
Inhalt
1. Die Problematik konkreter Ethik
2. Grundlagen einer "neuen" Ethik
2.1. Grenzen der traditionellen Ethik
2.2. Vergessene Dimensionen des Menschseins
2.3. Tiefenpsychologie und neue Ethik
3. Ethik in der Wirtschaft
3.1. Das System der Wirtschaft
3.2. Das Schattenreich des Wirtschaftssystems
4. Perspektiven unternehmerischer Verantwortung
4.1. Der Fall "Manville"
4.1.1. Die Situation
4.1.2. Ethische Beurteilungsmöglichkeiten
4.2. Konzepte für ethisches Verhalten in der Wirtschaft
4.2.1. Der rigoristische Ansatz
4.2.2. Der real-idealistische Ansatz
4.2.3. Der situativ-opportunistische Ansatz
4.2.4. Der instrumentalistische Ansatz
4.2.5. Der ökonomistische Ansatz
4.3. Was leistet eine Unternehmensethik?
Konkrete Ethik in der Wirtschaft - Perspektiven unternehmerischer Verantwortung
1. Die Problematik konkreter Ethik
Nicht zuletzt wegen der zunehmenden Gefährlichkeit des Lebens in der heutigen Wohlstandsgesellschaft ist das Wort "Ethik" in aller Munde. Traditionell soll Ethik das Auskommen der Menschen miteinander regulieren helfen. Man erhofft sich von ihr Orientierungsweisen für ein verändertes Verhalten und Handeln. Besonders laut wird der Ruf nach Ethik für bestimmte Bereiche des menschlichen Verhaltens und Handelns wie Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Hier soll Ethik konkret wirksam werden.
Andererseits macht man der konkreten Ethik ihr mangelnder Einfluß gerne zum Vorwurf. Hinweise dafür gibt es genügend. Die Verwicklungen von Industrieunternehmen im Golf-Krieg sind beispielhaft. Der ganze Konflikt in der Region war von Anfang an für viele Industriezweige ein Spiel mit hohem Risiko und geringer ethischer Reflexion, aber mit großen finanziellen Gewinnchancen. Die Unternehmen wie die Regierungen hätten die Konsequenzen solchen Handelns anhand folgender moralischer Regel in der Bibel ablesen können: "Gib dem Guten, nicht aber dem Bösen, unterstütze den Demütigen, gib nicht dem Hochmütigen! Rüste ihn nicht mit Kampfwaffen aus, sonst greift er dich selbst mit ihnen an. Doppeltes Übel trifft dich [in der Zeit der Not] für all das Gute, das du ihm getan hast."[1] Bereits im 1. Jhdt. v. Chr. wußte man also um mögliche Aus- und Rückwirkungen bestimmten Verhaltens und stellte deshalb entsprechende Regeln auf. Nichtsdestoweniger wurden und werden sie mißachtet.
Die Befolgung solcher Regeln ist heute noch schwieriger geworden. Die immer komplexer werdende Struktur der modernen Lebenswelt, die große Reichweite menschlicher Verfügungsgewalt und die Vernetzheit ihrer Folgelasten verringern die Aussicht auf eine eindeutige Zuweisung von Verantwortlichkeiten. So scheint es nur zu legitim, sich einem ethischen Einfluß zu entziehen.
Dies rührt daher, daß sich die Lebenswelt des heutigen Menschen in unterschiedliche Systembereiche wie Wissenschaft, Wirtschaft, Recht und Politik funktional ausdifferenziert hat[2]. Deshalb ist der Mensch kaum noch als einzelner und ganzes ansprechbar. Zumeist in eines der Bereiche eingebunden, deren Systemzwängen unterworfen und nur für die von ihm geforderte Funktion verantwortlich. Andererseits trägt er daneben Verantwortung als Familienvater, Mitglied der Gesellschaft oder einer Religionsgemeinschaft. Die Anforderungen sind unterschiedlich, ja können sich aus ethischer Sicht sogar widersprechen. So ist er als Wissenschaftler nur für seine Theorien verantwortlich oder als Unternehmer nur für den Fortbestand seines Unternehmens und sonst nichts, während er als Familienvater sehr wohl um das Überleben seiner Kinder besorgt ist. Kurz: die Verantwortung des modernen Menschen ist mehrfach gespalten.[3]
Wie weit soll und kann nun Ethik reichen? Ist eine Ethik allein für die Gesamtheit unseres Verhaltens ausreichend? Sind für die unterschiedlichen Verantwortungsbereiche jeweils Spezialethiken oder konkrete Moralen erforderlich? Besteht dann nicht die Gefahr miteinander konkurrierender oder gar sich gegenseitig lähmender Ethiken? Oder soll die Ethik grundlegende Prinzipien für das Handeln festlegen und jeweils situationsbezogen spezifizieren? Kann dann eine allgemeine Ethik die unterschiedlichen Verantwortungsbereiche koordinieren?
Diese Fragen sind für eine Darlegung konkreter Ethik von großer Bedeutung. Der Autor verwirft die Möglichkeit konkurrierender Spezialethiken, plädiert statt dessen für eine allgemeine Ethik mit möglichst großer Reichweite als Voraussetzung jeglicher konkreten Ethik. Die allgemeine Ethik formuliert und begründet ethische Werte bzw. Normen - wie z. B. "Überleben der Menschheit", "menschenwürdiges Leben", "Erhaltung der Gesundheit", " Ehrfurcht vor dem Leben". Die konkrete Ethik sucht nun solche ethischen Werte mit oder gegen diejenigen Werte durchzusetzen, die jeweils das konkrete Handeln oder Verhalten bestimmen. Beispielsweise stellt sich Wirtschaftsethik den ökonomischen Werten, Wissenschaftsethik den Werten, die die Wissenschaften leiten, Erziehungsethik den pädagogischen Werten etc.
Bevor wir nun auf die konkrete Ethik der Wirtschaft und die Perspektiven unternehmerischer Verantwortung eingehen können, muß gemäß o. g. Voraussetzung zunächst die hier zugrundegelegte allgemeine Ethik dargelegt werden. Denn je nach ihrer Konzeption wird sie von unterschiedlichem Einfluß auf die konkreten Situationen bzw. Handlungsbereiche sein. Sodann müssen einige Systemgesetzlichkeiten der Wirtschaft vorgestellt und daraufhin geprüft werden, ob und inwieweit sie für einen ethischen Einfluß offen sind. Ohne diese Offenheit wäre die Ethik auf das Wirtschaftsystem nicht anwendbar, mithin die Diskussion um eine konkrete Wirtschaftsethik überflüssig. Zuletzt sollen mögliche Positionen einer Unternehmensethik, mithin Perspektiven unternehmerischer Verantwortung diskutiert werden.
2. Grundlagen einer "neuen" Ethik
2.1. Grenzen der traditionellen Ethik
Die Reichweite und Wirksamkeit der traditionellen Ethik wird vielfach in Frage gestellt. In der Tat ist sie nicht in der Lage, das ethische Bewußtsein des Menschen an seine auf Wissenschaft und Technik beruhende Verfügungsgewalt anzugleichen, die über Raum und Zeit hinweg die Lebensgrundlagen selbst bedroht. Sie ist auf die Nahsphäre des menschlichen Handelns eingestellt und berücksichtigt nicht, daß Mensch und Natur eine Überlebenseinheit sind.
Es gibt nun verschiedene Ansätze für eine neue Ethik, diese Mängel der traditionellen Ethikkonzeptionen beheben zu wollen. So überwindet die Ethik von Albert Schweitzer den Anthropozentrismus und stellt "Ehrfurcht vor dem Leben" in ihr Zentrum.[4] Hans Jonas berücksichtigt in seiner Ethik, daß Mensch und Natur eine Überlebenseinheit sind, und möchte mit ihrer Hilfe insbesondere künftigen Generationen ein "gutes" Leben sichern[5].
Der Einfluß solcher Ethikentwürfe wird offenbar größer. Selbst im Wirtschaftsgeschehen tendiert man zumindest verbal in diese Richtung, wenn man die vielen Reden von Topmanagern und Publikationen in Managementzeitschriften zur Kenntnis nimmt. Der gute Wille ist vielfach sicherlich vorhanden. Dennoch scheinen die Auswirkungen auf die Praxis noch gering zu sein. Es sind gewiß noch nicht alle Mängel der traditionellen Ethikkonzeptionen beseitigt.
[...]
[1] Jesus Sirach 12, 4-5.
[2] Vgl. z. B. Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation - Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gerfährdungen einstellen? Opladen 1986, (3. Aufl.) 1990.
[3] Zur "Theorie der mehrfach gespaltenen Verantwortung" vgl. Otto-Peter Obermeier: "Wissenschaft und Verantwortung", in: Der Mensch und die Wissenschaften vom Menschen - Die Beiträge des XII. dt. Kongresses für Philosophie. Innsbruck 1983, S. 247.
[4] Albert Schweitzer: Kultur und Ethik, 1923, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, München 1974, S. 95-420. Vgl. Mathias Schüz: "Ehrfurcht vor dem Leben in der industriellen Welt - Albert Schweitzers Ethik angesichts der verschärften Risikosituation von heute", in: Albert Schweitzer heute - Brennpunkte seines Denkens (hrsg. v. Claus Günzler et al.). Tübingen 1990, S. 125-153.
[5] Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung - Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 1979.