Der Ödipuskomplex am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns 'Der Sandmann'


Hausarbeit, 2006

21 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Das Motiv der Augen
2.1 Sandmann
2.2 Coppelius
2.3 Coppola
2.4 Olimpia
2.5 Clara

3. Der Ödipuskomplex
3.1 Vaterimago
3.2 Das Unbewusste
3.3 Nathanaels Trauma
3.4 Nathanaels Liebesobjekte

4. Schluss

1. Einleitung

„Ich denke mir mein Ich durch ein Vervielfältigungsglas – alle Gestalten, die sich um mich herum bewegen, sind Ichs, und ich ärgere mich über ihr thun und lassen (...)“[1]

Nicht nur optische Geräte spielen in dem Nachtstück „Der Sandmann“[2], von Dichter, Jurist, Komponist und Karikaturist Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776-1822), eine bedeutende Rolle, sondern auch die Tatsache, dass sich das Ich des Protagonisten Nathanael unmerklich in mehr als einer Figur in der Erzählung wieder findet. Siegmund Freud (1856-1939) hat dazu in seiner Studie „Das Unheimliche“[3] eine Theorie geliefert, die die Erzählung zu „einem hell ausgeleuchteten Szenario [macht], worin psychoanalytische Kategorien mit zwei Beinen agieren.“[4]

Gegenstand dieser Arbeit ist die analytische Sachdarstellung der psychoanalytischen Interpretation von E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ auf der wissenschaftlichen Grundlage von Siegmund Freuds berühmter Interpretation in „Das Unheimliche“. Das Motiv der Augen wird dort in aufschlussreicher Weise gedeutet. Daher werden in dieser Arbeit die Charaktere der Erzählung auf das Augenmotiv hin untersucht. Ausserdem werden relevante Elemente aus der Lehre Freuds erläutert.

Die Darstellung wird ansatzweise erweitert durch den Vergleich zu der Ich-psychologischen Interpretation von Günter Sasse. Seine Interpretation beschäftigt sich mit dem psychologischen bzw. psychopathologischen Gehalt der Erzählung „Der Sandmann“. Sasse versucht dem Wahnsinn des Protagonisten Nathanael auf die Spur zu kommen, wobei er sich stark an den Symptomen orientiert, die sich in Nathanaels Verhalten äussern. Seine Interpretation konzentriert sich im Wesentlichen auf Nathanaels Ich und dessen krankhafter Zersetzung. Die anderen Charaktere der Erzählung kommen bei Sasse als Verkörperungen von Nathanaels Ich nicht direkt in Frage (wohl aber als dessen Projektionsflächen).

Ganz anders bei Freud, der leider keine komplette Interpretation des 'Sandmanns' liefert, sondern lediglich in einer Fussnote essentielle Gedanken zum Grundkonflikt des Protagonisten äussert. Es ist zu vermuten, dass die Brisanz seiner Gedanken, ob ihres - für jene Zeit (1919) - skandalösen Charakters, eine gewisse Scheu bei ihm verursacht haben könnten.

Welche Rolle der Sandmann, Coppelius, Coppola, die Puppe Olimpia und Clara in Bezug auf Nathanael spielen, soll im Folgenden erläutert werden. Dazu werden nun die Figuren auf das Hauptmotiv der Augen untersucht.

2. Das Motiv der Augen

'Die Augen sind das Fenster zur Seele', sagt der Volksmund. Man hat entweder Tomaten auf den Augen oder keine im Kopf. Ein Moment ist wie ein Augenblick. Und durchschauen wir nicht die Dinge, wenn wir sie verstehen? „O dass ihr's begreifen lerntet! Dass euch die Schuppen fielen vom Auge!“ (Friedrich Schiller, Die Räuber, I, I/ Franz Moor)

Das Bild des Auges wird in der deutschen Sprache in zahlreichen Varianten verwendet. Oft repräsentiert es das klare Erkennen der Wahrheit. Auch in der Erzählung „Der Sandmann“ ist es ein zentrales Motiv. Auf fast jeder Seite finden sich Substantive, Adjektive, Verben, die dem Wortfeld des Auges angehören oder in Verbindung damit stehen. Für Freud bildet das Motiv der Augen ein Indiz für die wahren Zustände in Nathanaels Seelenleben.

2.1 Der Sandmann

Für Nathanael ist der Sandmann die „Schreckgestalt seiner Kinderjahre“[5]. Die Begegnung mit ihm wird, nach Günter Sasse, zum „Keim seiner psychischen Erkrankung“[6]. Freud hingegen sieht das Ereignis der Begegnung mit dem Sandmann als weniger ausschlaggebend, hinsichtlich einer Erkrankung. Er setzt den, in der Psyche eines jeden Kindes, sich bildenden Ödipuskomplex schon voraus. Nathanaels Geschichte unterscheidet sich nur insofern von der anderer „Menschenkinder“[7], als das sie einen psycho-neurotischen Verlauf annimmt, der zugegebenermaßen krankhafte Züge annimmt. Die Begegnung mit dem Sandmann steht bei Freud aber nicht in einem Ursache-Wirkungszusammenhang (erst Begegnung, dann Krankheit), sondern repräsentiert ein Moment in dem theoretischen Gebilde des Ödipuskomplexes, von dem Nathanael betroffen ist.

Mit dem Ruf „zu Bette! Zu Bette! Der Sandmann kommt, (...)“ wurde Nathanael ins Bett geschickt. Es war ihm verboten den Sandmann zu sehen . Am Anfang der Erzählung wird also ein Wahrnehmungsverbot (bzw. Sehverbot) gegen das offensichtlich Vorhandene und akustisch Unüberhörbare verhängt, dass untermalt wird durch ein bedrohliches Ammenmärchen über den Sandmann, der

„den Kindern (...) Händevoll Sand in die Augen [streut], dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die (...) haben krumme Schnäbel, (...), damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.“[8].

So wird die Vorstellung vom Sandmann in bedrohlicher Weise greifbar. Nathanaels Schreckensgefühle erklären sich damit, aber sie steigern sich auch, so Sasse:

„(...), indem [das Ammenmärchen] einerseits das Wahrnehmungsverbot mit dem Augenraub in Verbindung bringt und andererseits imaginäre Bilder hervorruft, die die visuelle Leerstelle der Angstphantasien vom Sandmann füllen (...)“[9]

Gleichzeitig war er aber dem Widerspruch ausgesetzt, der Sandmann existiere gar nicht („Es gibt keinen Sandmann, mein liebes Kind“[10]) und sein Name wolle nur heissen, sie (die Kinder) seien schläfrig und könnten die Augen nicht offen halten, als hätte man ihnen Sand hineingestreut.[11] Es geht also eine „familiäre(...) Tabuisierung des Unbekannten“[12] von statten, die später, folgt man Sasses Ausführungen, zu Nathanaels kommunikativer Isolation führt. Er verweist darauf, dass sich schon zu Beginn der Erzählung „Kommunikationsstörungen andeuten, über die sich Nathanaels Lebens- und Liebesgeschichte zusammenschliessen.“[13] Beispielsweise richtet Nathanael den bestürzten Bericht über Coppelius’ Rückkehr nicht an seine geliebte Clara, sondern an ihren Bruder. Nicht ohne Grund, denn Clara empfindet Nathanaels Probleme als irrational:

„Gerade heraus will ich es dir nur gestehen, dass, wie ich meine, alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon du sprichst, nur in deinem Innern vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl keinen Anteil hatte.“[14]

Freud erwähnt nichts in seinem Bericht über kommunikative Störungen. Später erst wird von Entfremdung und Narzissmus die Rede sein, denen Freud vermutlich auch Kommunikationsstörungen impliziert hätte.

2.2 Coppelius

Eines Nachts entdeckt Nathanael aus einem Versteck die wahre Identität des vermeintlichen Sandmannes. Es ist der Sonntagsbesucher Coppelius, eine grässliche Gestalt mit „buschigten grauen Augenbrauen, unter denen ein paar grünliche Katzenaugen stechend hervorfunkeln“[15]. Als dieser und Nathanaels Vater mit ihren alchimistischen Versuchen beginnen, scheint es dem Nathanael in seinem Versteck „als würden Menschengesichter ringsumher sichtbar, aber ohne Augen – scheussliche, tiefe schwarze Höhlen statt ihrer.“[16] Kurz darauf verlangt der Coppelius nach solchen, in dem er dröhnt „Augen her, Augen her!“[17] Und als er den kleinen Nathanael entdeckt, auf den Herd geworfen und in seiner Gewalt hat, flüstert er „Nun haben wir Augen – Augen – ein paar schön Kinderaugen.“[18] Coppelius will dem Kind „glutrote Körner aus der Flamme“[19] in die Augen streuen. Doch der Vater bittet die Augen des Jungen frei: „Meister! Meister! Lass meinem Nathanael die Augen – lass sie ihm!“[20]. Coppelius lässt ab von Nathanael mit den Worten: „Mag denn der Junge die Augen behalten und sein Pensum flennen in der Welt;“[21]. Letzteres wird für Nathanael zur schmerzhaften Realität, denn der Vater kommt zu Tode bei einem späteren alchimistischen Experiment mit Coppelius, das in einer Explosion endet.

Als Nathanael aus darauf folgendem „Todesschlaf“ erwacht, fragt er die Mutter, ob der Sandmann noch da sei. Ohne es zu merken bestätigt sie ihm, dass dieser tatsächlich existiert, in dem sie auf das Kind eingeht: „Nein, mein liebes Kind, der ist lange, lange fort, der tut dir keinen Schaden!“[22] Die Vorstellung vom schrecklichen Sandmann und die Gestalt des wirklich schrecklichen Coppelius ergänzen sich also zu einem Bild.

[...]


[1] Hoffmann, E.T.A.: Tagebücher, Nach der Ausgabe Hans von Müllers mit Erläuterungen herausgegeben von Friedrich Schnapp. München: Winkler, 1971. S.107

[2] Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann, Stuttgart, Philipp Reclam jun., 1991; erste handschriftliche Fassung: „d. 16. Novbr. 1815 Nachts 1 Uhr“ (ebd., S.59)

[3] Freud, Siegmund: Das Unheimliche; in Psychoanalytische Studien an Werken der Dichtung und Kunst, Leipzig, 1924, S. 99

[4] Safranski, Rüdiger, E.T.A.Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten, Frankfurt a. M., 1987, S.412

[5] Freud, Siegmund: Das Unheimliche; in Psychoanalytische Studien an Werken der Dichtung und Kunst, Leipzig, 1924, S. 110

[6] Sasse, Günter: Der Sandmann. Kommunikative Isolation und narzisstische Selbstverfallenheit; in Interpretationen. E.T.A. Hoffmann. Romane und Erzählungen: Stuttgart, Philipp Reclam jun., 2004, S.97

[7] Freud, Siegmund: Gesammelte Werke, Band II/III, London – Frankfurt a. M., 1940 – 1968 , S.267

[8] Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann, Stuttgart, Philipp Reclam jun., 1991, S.5

[9] Sasse, Günter: Der Sandmann. Kommunikative Isolation und narzisstische Selbstverfallenheit; in Interpretationen. E.T.A. Hoffmann. Romane und Erzählungen: Stuttgart, Philipp Reclam jun., 2004, S.103

[10] Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann, Stuttgart, Philipp Reclam jun., 1991, S.4

[11] Vgl. ebd., S.4

[12] Sasse, Günter: Der Sandmann. Kommunikative Isolation und narzisstische Selbstverfallenheit; in Interpretationen. E.T.A. Hoffmann. Romane und Erzählungen: Stuttgart, Philipp Reclam jun., 2004, S.102

[13] Ebd., S. 97

[14] Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann, Stuttgart, Philipp Reclam jun., 1991, S.13

[15] Ebd., S.7

[16] Ebd., S.9

[17] Ebd., S.9

[18] Ebd., S.9

[19] Ebd., S.9

[20] Ebd., S.9

[21] Ebd., S.9

[22] Ebd., S.9

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Der Ödipuskomplex am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns 'Der Sandmann'
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)  (Fakultät für Kulturwissenschaften)
Veranstaltung
Einführung in die Literaturtheorie und literaturwissenschaftliche Textanalyse
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
21
Katalognummer
V56069
ISBN (eBook)
9783638508636
ISBN (Buch)
9783640203819
Dateigröße
536 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Grundzüge des Ödipuskomplexes bei Freud in Hinsicht auf Nathanael...
Schlagworte
Beispiel, Hoffmanns, Sandmann, Einführung, Literaturtheorie, Textanalyse
Arbeit zitieren
Nora Gielke (Autor:in), 2006, Der Ödipuskomplex am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns 'Der Sandmann', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56069

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Der Ödipuskomplex am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns 'Der Sandmann'



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden