Franz Kafkas "Brief an den Vater" stellt für mich einen überaus ergreifenden Text dar, in dem verzweifelte Anschuldigungen mit Passagen teils hochmütiger Überlegenheit in einem steten Wechselspiel stehen. In dem Bestreben, seinem Vater dessen erzieherische Fehltritte bewusst zu machen und vor allem auch vor sich selbst sein eigenes Versagen in bestimmten Lebensbereichen zu rechtfertigen, hat Kafka ein enormes Maß an emotioneller Energie in dieses Dokument fließen lassen. Sein Hass und seine Liebe zu seinem Vater, seine Verachtung und zugleich sein allergrößter Respekt, sein furchtsames Abwenden und dennoch seine persönliche Hingabe und ähnliche Widersprüchlichkeiten lassen diesen Brief die literarische Ebene verlassen, um auf die psychologische überzugreifen. In meiner Arbeit werde ich mich ausschließlich auf jene erzählerischen Passagen konzentrieren, in denen Kafka vorwiegend die seelischen Grausamkeiten seines Vaters schildert, um den Gebrauch der Vergangenheitstempora zu untersuchen. Ich werde vor allem der Frage nachgehen, ob sich anhand der Wahl der Vergangenheitstempora die psychische Einstellung des Schreibers zu den von ihm erzählten persönlichen Konfliktsituationen bestimmen lässt. Demgemäß sollen Parallelen, Gegensätze und Regelmäßigkeiten im Tempusgebrauch aufgedeckt und mit einem psychologischen System in Einklang gebracht werden, um so eine dahingehende Deutung des Gebrauchsweisen der Vergangenheitstempora zu ermöglichen.
Im Anschluss daran werde ich Harald Weinrichs deiktische Tempustheorie und Roland Harwegs Theorie über die Aspektualität von Zeitstufen vorstellen und versuchen, diese auf Kafkas "Brief an den Vater" anzuwenden.
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- I. Einleitung
- II. Präteritum und Perfekt
- III. Das Präteritum
- IV. Das Perfekt
- V. Weinrichs Tempustheorie
- 1) Zusammenfassung
- 2) Anwendung auf Kafkas "Brief an den Vater"
- VI. Harwegs Tempustheorie
- 1) Zusammenfassung
- 2) Anwendung auf Kafkas "Brief an den Vater"
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Seminararbeit analysiert den Gebrauch der Vergangenheitstempora in Franz Kafkas "Brief an den Vater". Sie untersucht die Frage, ob die Wahl der Tempora Aufschluss über die psychische Einstellung des Autors zu den beschriebenen Konfliktsituationen gibt.
- Die Verwendung des Präteritums und Perfekts in Bezug auf die persönliche Überwindung der Konfliktsituationen
- Die Rolle der Tempora in der Darstellung der psychischen Belastung des Autors
- Die Anwendung der deiktischen Tempustheorie von Harald Weinrich auf Kafkas "Brief an den Vater"
- Die Anwendung der Theorie über die Aspektualität von Zeitstufen von Roland Harweg auf Kafkas "Brief an den Vater"
- Die Bedeutung der Tempora für die Interpretation des Textes
Zusammenfassung der Kapitel
Das Vorwort stellt den "Brief an den Vater" als ein ergreifendes Dokument dar, das die emotionalen Konflikte zwischen Kafka und seinem Vater widerspiegelt. Die Einleitung führt den "Brief an den Vater" als ein psychologisches Dokument ein, das die Minderwertigkeitsgefühle des Autors beleuchtet. Das zweite Kapitel behandelt den Gebrauch von Präteritum und Perfekt, die als parallel auftretende Tempora interpretiert werden, wobei ihre Verwendung mit der persönlichen Überwindung der Konfliktsituationen des Autors zum Zeitpunkt des Schreibens zusammenhängt. Das dritte Kapitel widmet sich dem Präteritum, das als das dominierende Erzähltempus im "Brief an den Vater" identifiziert wird.
Schlüsselwörter
Die Arbeit konzentriert sich auf die Vergangenheitstempora, insbesondere Präteritum und Perfekt, und untersucht deren Bedeutung für die Darstellung der psychischen Prozesse in Kafkas "Brief an den Vater". Sie befasst sich mit der deiktischen Tempustheorie von Weinrich und der Theorie über die Aspektualität von Zeitstufen von Harweg, um die Tempora im Kontext des Textes zu analysieren. Die Arbeit beleuchtet die Bedeutung der Tempora für die psychologische und sprachwissenschaftliche Interpretation des "Brief an den Vater".
- Arbeit zitieren
- Mag. phil. Sonja Knotek (Autor:in), 1998, Der Gebrauch der Vergangenheitstempora im "Brief an den Vater" von Franz Kafka, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56277