Als sich im Sommer vergangenen Jahres in der Bevölkerung Widerstand gegen das von der Bundesregierung verabschiedete Reformpaket „Agenda 2010“ zu regen begann, ergriff kein Wissenschaftler oder Schriftsteller das Wort, um öffentlich Stellung zu beziehen. Und das, obwohl sich nach dem für bundesrepublikanische Verhältnisse historischen Reformvorhaben eine breite Protestwelle ankündigte und die Politik schwere Zeiten auf sich zukommen sah. Prominentester Teilnehmer der zu diesem Zweck wieder in Leben gerufenen Montagsdemonstrationen unter dem Motto „Weg mit Hartz IV“ war der frühere Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine.
Nur kurze Zeit später standen durch Umstrukturierungsmaßnahmen bei Opel und Karstadt tausende Arbeitsplätze zur Disposition. Die öffentliche Aufmerksamkeit war groß, doch wiederum schwiegen die Intellektuellen. Zuletzt konnte sich Günter Grass in der „Zeit“ dazu durchringen, der grotesken Kapitalismuskritik des SPD-Vorsitzenden Müntefering beizupflichten. Woher kommt die Scheu der deutschen Intellektuellen vor dem öffentlichen Auftritt? Ist es die Angst, sich durch eindeutige Positionen zu diskreditieren, besteht Unsicherheit darüber, mit welcher Seite man sich solidarisch erklären sollte oder gibt es ganz einfach Berührungsängste? Wer die Bilder von den Demonstrationen kennt, wird es ihnen nicht immer verübeln können.
In Frankreich hingegen hat das öffentliche Engagement des Intellektuellen eine lange Tradition, sie reicht bis in das Ende des 19. Jahrhunderts zurück, als der Schriftsteller Émile Zola in der Dreyfus-Affäre publikumswirksam für den zu unrecht beschuldigten Hauptmann Dreyfus Partei ergriff. Seitdem hat es in Frankreich immer wieder Intellektuelle mit großem öffentlichen Einfluß gegeben, hier seien nur Jean-Paul Sartre und Michel Foucault erwähnt. Doch auch der Soziologe Pierre Bourdieu hat sich bis zu seinem Tod im Jahr 2002 vielfach öffentlich geäußert. Seine Theorien von den diskursprägenden gesellschaftlichen Eliten, sein Habitus-Konzept der erweiterte Kapitalbegriff dienten ihm dabei als Grundlage, um auf die ungleiche Verteilung von Kapital und Wissen in der französischen Gesellschaft aufmerksam zu machen und sich gegen die zunehmende Liberalisierung des Marktes auszusprechen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Bourdieus Konzept von Habitus und Kapital – Eine Anwendung
2.1 Habitus und Kapital in der Soziologie Bourdieus
2.2 Der Habitus des Kleinbürgers bei Arno Schmidt
3. Bourdieus Kollektiv und Schmidts Rückzug
3.1 Zur Tradition des Intellektuellen in Frankreich
3.2 Bourdieus Vision vom kollektiven Intellektuellen
3.3 Schmidt und die Öffentlichkeit
4. Zusammenfassung
Bibliographie
1. Einleitung
Als sich im Sommer vergangenen Jahres in der Bevölkerung Widerstand gegen das von der Bundesregierung verabschiedete Reformpaket „Agenda 2010“ zu regen begann, ergriff kein Wissenschaftler oder Schriftsteller das Wort, um öffentlich Stellung zu beziehen. Und das, obwohl sich nach dem für bundesrepublikanische Verhältnisse historischen Reformvorhaben eine breite Protestwelle ankündigte und die Politik schwere Zeiten auf sich zukommen sah. Prominentester Teilnehmer der zu diesem Zweck wieder in Leben gerufenen Montagsdemonstrationen unter dem Motto „Weg mit Hartz IV“ war der frühere Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine.
Nur kurze Zeit später standen durch Umstrukturierungsmaßnahmen bei Opel und Karstadt tausende Arbeitsplätze zur Disposition. Die öffentliche Aufmerksamkeit war groß, doch wiederum schwiegen die Intellektuellen. Zuletzt konnte sich Günter Grass in der „Zeit“ dazu durchringen, der grotesken Kapitalismuskritik des SPD-Vorsitzenden Müntefering beizupflichten. Woher kommt die Scheu der deutschen Intellektuellen vor dem öffentlichen Auftritt? Ist es die Angst, sich durch eindeutige Positionen zu diskreditieren, besteht Unsicherheit darüber, mit welcher Seite man sich solidarisch erklären sollte oder gibt es ganz einfach Berührungsängste? Wer die Bilder von den Demonstrationen kennt, wird es ihnen nicht immer verübeln können.
In Frankreich hingegen hat das öffentliche Engagement des Intellektuellen eine lange Tradition, sie reicht bis in das Ende des 19. Jahrhunderts zurück, als der Schriftsteller Émile Zola in der Dreyfus-Affäre publikumswirksam für den zu unrecht beschuldigten Hauptmann Dreyfus Partei ergriff. Seitdem hat es in Frankreich immer wieder Intellektuelle mit großem öffentlichen Einfluß gegeben, hier seien nur Jean-Paul Sartre und Michel Foucault erwähnt. Doch auch der Soziologe Pierre Bourdieu hat sich bis zu seinem Tod im Jahr 2002 vielfach öffentlich geäußert. Seine Theorien von den diskursprägenden gesellschaftlichen Eliten, sein Habitus-Konzept der erweiterte Kapitalbegriff dienten ihm dabei als Grundlage, um auf die ungleiche Verteilung von Kapital und Wissen in der französischen Gesellschaft aufmerksam zu machen und sich gegen die zunehmende Liberalisierung des Marktes auszusprechen.
Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, zentrale Punkte aus Bourdieus Soziologie (Habitus, Kapital, der kollektive Intellektuelle) auf einige Erzählungen Arno Schmidts anzuwenden, um so vielleicht etwas Ordnung in die Komplexität sowohl der Figuren als auch des Schriftstellers zu bringen. Dabei werde ich zunächst Bourdieus Konzept von Habitus und Kapital vorstellen und anschließend Texte von Schmidt unter dieser Perspektive bearbeiten. Es folgt ein Abriß über die Tradition des Intellektuellen in Frankreich und die Darstellung von Bourdieus Idee des kollektiven Intellektuellen. Auch hier werde ich versuchen, Arno Schmidt mit entsprechendem Blick zu lesen, um die Ergebnisse der einzelnen Abschnitte schließlich noch einmal zusammenzufassen.
2. Bourdieus Konzept von Habitus und Kapital – Eine Anwendung
2.1 Habitus und Kapital in der Soziologie Bourdieus
In dem Aufsatz „Sozialer Raum und symbolische Macht“ legt Pierre Bourdieu (1992) die Prinzipien seiner sozialwissenschaftlichen Forschung dar und beschreibt sie mit dem Begriff „konstruktiver Strukturalismus“ (ebd.: 135). Der „konstruktive Strukturalismus“ geht von der Existenz objektiver sozialer Strukturen aus, deren Auswirkungen auf die Subjekte wiederum zur Festschreibung dieser Strukturen beitragen. Bourdieus Ziel ist es, die einander traditionell entgegengesetzten sozialwissenschaftlichen Ansätze des Objektivismus und des Subjektivismus zueinander in Beziehung zu setzen. Die objektivistische Forschung mit ihrer Beschränkung auf die Empirie, der mechanischen Registrierung von Vorgängen und dem Zurückweisen jeder praktischen Erkenntnis als „vorgängige Begriffe“ oder „Ideologien“ (ebd.: 137) hält Bourdieu für unzureichend. Ebenso wirft er auch dem Subjektivismus für sich genommen vor, als psychologisierender „‚Bericht‘ der von den sozialen Subjekten hervorgebrachten ‚Berichte‘“ (ebd.: 136) die Ursachen bestimmter Wahrnehmungsmuster nicht zu hinterfragen. Bourdieu unternimmt es stattdessen, den Gegensatz von Objektivismus und Subjektivismus aufzuheben und betont die gegenseitige Bedingtheit objektiver sozialer Strukturen und subjektiven Erkennens und Handelns.
Die Zusammenführung der Makro- und Mikroebene unternimmt Bourdieu durch den Begriff des Habitus. Mit dem Habitus als einer Form sozialer Praxis werden bestimmte Schemata der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns beschrieben. Diese sind abhängig von der Position innerhalb des sozialen Raumes, welche wiederum durch die Menge an akkumuliertem ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital festgelegt wird. Die Erweiterung des Kapitalbegriffs um immaterielle Güter ermöglicht Bourdieu die Darstellung komplexerer Anordnungen im sozialen Raum, als ein statisches Klassenschema dies könnte. Der erweiterte Kapitalbegriff weist zugleich auf die Bedeutung von Herkunft, Erziehung und Ausbildung beim Kampf um die Position im sozialen Feld hin.
Danach existiert neben dem ökonomischen Kapital in Form von Geld oder Besitz das kulturelle Kapital. Es kann in drei Zuständen auftreten: in objektiviertem Zustand in Form von Büchern oder Kunstgegenständen; in inkorporiertem Zustand in Form von Bildung und Intellekt; in institutionalisiertem Zustand in Form von Abschlüssen und akademischen Titeln. Soziales Kapital schließlich kann in Form von gesellschaftlichen Kontakten und Netzwerken angesammelt werden. Je größer der Besitz an den Kapitalformen ist, in desto mehr symbolisches Kapital in Form von Anerkennung, Ehre und Autorität kann eingetauscht werden (Bourdieu 1992a:49ff.).
Der Habitus sorgt nicht nur für den sozialen Sinn der Akteure, er impliziert zudem, sowohl den eigenen Platz in der Sozialstruktur als auch den Platz der anderen zu kennen und vor allem anzuerkennen - und das obwohl „...die Dispositionen der Akteure, ihr Habitus, das heißt die mentalen Strukturen, vermittels jene die soziale Welt erfassen, wesentlich das Produkt der Interiorisierung der Strukturen der sozialen Welt sind.“ (Bourdieu 1992: 143f.).
So ist der Habitus nichts anderes als die dem Körper eingeschriebene Sozialstruktur, verinnerlichte und immer wieder reproduzierte Geschichte (Thompson 2000: 185).
Um dem Vorwurf zu entgehen, mit dem Habitus ein zu deterministisches Prinzip sozialer Praxis eingeführt zu haben, macht Bourdieu auf die vielfältigen Formen aufmerksam, in denen der Habitus auftreten kann: „Der Habitus ist aufs engste mit dem Unscharfen und Verschwommenen verbunden. Als eine schöpferische Spontaneität, die sich in der unvorhergesehenen Konfrontation mit unaufhörlich neuen Situationen geltend macht, gehorcht er einer Logik des Unscharfen, Ungefähren, die das normale Verhältnis zur Welt bestimmt.“ (Bourdieu 1992b: 101).
Das Verhalten der Akteure setzt sich demnach aus der Beziehung zwischen dem Habitus und der spezifischen Situation innerhalb des sozialen Raumes zusammen und kann ein dementsprechend großes Spektrum umfassen. In der Betonung der schöpferischen und aktiven Eigenschaften des Habitus vergleicht Bourdieu das Konzept mit der generativen Grammatik Chomskys: der Akteur verfügt über ein festgelegtes und begrenztes Repertoire an Verhaltensformen, kann diese aber abhängig vom sozialen Kontext variieren (Bourdieu 1997: 62).
Das Konzept des Habitus scheint jedoch nicht in erster Linie darauf abzuzielen, eine positive Bestimmung der Verhaltensvarianten vorzunehmen und zu definieren, welche Position im sozialen Raum welche soziale Praxis wahrscheinlich macht. Es soll genauso auch die Grenzen aufzuzeigen, die den Akteuren unterschiedlicher Sozialstrukturen in ihrer Wahrnehmung, ihrem Denken und Handeln gesetzt sind und deren Überschreitung eben aufgrund ihrer absoluten Verinnerlichung so selten ist.
Bourdieu zufolge wird die Stellung im sozialen Raum durch die Besitzmenge an symbolischem Kapital festgelegt. Die Inhaber ausreichend symbolischen Kapitals nehmen eine zentrale und beherrschende Position im sozialen Raum ein und werden zu Trägern der legitimen Kultur, zu einer „Konstitutionsmacht“ (Bourdieu 1992: 152). Mit der ihnen verliehenen Autorität ist es den Inhabern symbolischen Kapitals möglich, zur Definitionsmacht „in bezug auf Geschlecht, Natur, Region, Alter und Sozialstatus“ (ebd.) zu werden und über die Aufrechterhaltung oder Veränderung bestehender gesellschaftlicher Phänomene zu entscheiden. Diesem „semantischen Deutungsmonopol“ (Kraemer 2002:135) haben alternative Konstruktionen, wenn es sie denn überhaupt gibt, wenig entgegenzusetzen. Bourdieu geht davon aus, daß die von den Herrschenden im sozialen Raum ausgehende symbolische Macht derart umfassend wirkt, daß die im unteren sozialen Raum angesiedelten Akteure die Welt als selbstverständlich wahrnehmen und akzeptieren. Die symbolische Macht setzt die Gefolgschaft der Beherrschten voraus und kann nur wirken, wenn sie als solche nicht erkannt wird: „Symbolische Macht ist eine, die Anerkennung voraussetzt, das heißt das Verkennen der über sie ausgeübten Gewalt.“ (Bourdieu 1992c: 181).
Um zur vollen Geltung zu kommen, benötigt die symbolische Macht neben der Autorität symbolischen Kapitals ein großes Maß an Übereinstimmung zwischen der von ihr vorgeschlagenen Betrachtung der Wirklichkeit und den realen Verhältnissen. Durch die Objektivierung der realen Verhältnisse erzielt die symbolische Macht einen „Theorie-Effekt“, sie kann „Dinge mit Wörtern schaffen“ (Bourdieu 1992: 153). Demzufolge existieren im sozialen Raum Gruppen, denen es aufgrund ihrer Autorität obliegt, auf die Wirklichkeit Einfluß zu nehmen, indem sie das Monopol über die Benennung der Wirklichkeit innehaben. Diese Form, „Tatsachen zu schaffen“, also mit dem Gesagten auch gleichzeitig für dessen Herbeiführung zu sorgen, bezeichnet Bourdieu als „performativen Diskurs“ (1990: 98).
Mit der Feststellung, daß es möglich ist, die Welt allein durch Benennung zu gestalten, kommt der Sprache eine zentrale Rolle zu. Bourdieu fordert die Sozialwissenschaften dazu auf, den Beitrag zu untersuchen, den die Wörter zur Konstruktion des Sozialen leisten und nach den Bedingungen zu fragen, unter denen die Kenntnis der diskursbestimmenden Sprache im sozialen Raum verteilt wird. Bourdieu nimmt an, daß ein Großteil der sozialen Akteure von der Kenntnis um die legitime Sprache ausgeschlossen bleibt. Als eine Sub-Kategorie des Habitus (Thompson 2000: 186) steht die Sprache in Verbindung mit den restlichen inkorporierten Verhaltensregeln, die das Auftreten der Akteure bestimmen. Die Teilnahme am herrschenden Diskurs unterliegt jedoch einer Reihe von Vorschriften, die „die Form der öffentlichen Autoritätsäußerung regeln, die Etikette der Zeremonien, [den] Code der Gesten und die offizielle Abfolge der Riten.“ (Bourdieu 1990: 79). Mithilfe der „liturgischen Bedingungen“ (ebd.) erzeugen der autorisierte Sprecher und die legitime Sprache eine Aura um sich, die sie immer wieder in ihrer Autorität bestätigt. Den habituellen Beschränkungen unterworfen, können Angehörige der unteren sozialen Positionen nichts zum herrschenden Diskurs beitragen: „In Wirklichkeit ist der Sprachgebrauch...von der sozialen Position des Sprechers abhängig, die über seine Zugangsmöglichkeiten zur Sprache der Institution, zum offiziellen, orthodoxen, legitimen Wort entscheidet.“ (ebd.: 75). Die Auswirkungen der an Kapitalformen armen sozialen Milieus führen dazu, die Autorität der legitimen Sprecher und ihrer Sprache anzuerkennen und sie per Delegation von Verantwortung zu Vertretern dieser Milieus zu machen: „Je ärmer, vor allem kulturell und bildungsmäßig ärmer Menschen dastehen, um so stärker sind sie gezwungen und geneigt, sich Bevollmächtigten zu überantworten, um politisch zu Wort zu kommen.“ (Bourdieu 1992c: 177).
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- Arbeit zitieren
- Wolf Hansen (Autor:in), 2005, "Heidediener, Blattanbeter, Windverehrer!" Arno Schmidt und die Soziologie Pierre Bourdieus., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56433
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