So alt der Medeastoff auch ist, er übt bis in die Gegenwart eine Faszination auf Autoren und Rezipienten aus. Dabei fällt auf, daß die Sichtweisen auf die Figur der Medea und damit die Themen, die in den Stoff hineingearbeitet werden, durchaus unterschiedlich, teilweise sogar widersprüchlich sind.
Die vorliegende Arbeit versucht, ausgehend vom Urmythos, soweit dieser sich als rekonstruierbar erweist, die Entwicklung dieser Themen und Sichtweisen bis in die Gegenwart an einigen exemplarisch erscheinenden Beispielen aufzuzeigen. Hierbei wird eine Auswahl getroffen, die zum einen der rezeptionshistorischen Bedeutsamkeit geschuldet ist. Es scheint eingängig, wenn beispielsweise die Behandlung des Stoffes durch Seneca der Arbeit des Franzosen de La Péruse von 1556 vorgezogen wird. Zum andern aber versucht die Auswahl der Texte eine bestimmte Tendenz in der Bearbeitung aufzuzeigen, nämlich die Entfernung vom Urmythos in der antiken, die Wiederannäherung an ihn in der modernen Literatur, die mit der größtmöglichen Umwertung der Medeafigur einhergeht. Im Zusammenhang mit dieser Betrachtung wird die Frage zu erörtern sein, inwieweit die Veränderung, die Euripides vorgenommen hat, den Stoff erweitert und seine Problematik verschärft, bzw. inwieweit sie ihm einen Aspekt von Tiefe nimmt, ihn verflacht und damit verharmlost.
Natürlich sind alle Bearbeitungen des Stoffes ein Spiegel der Zeit, in der sie entstanden. Aber es wird an einigen Stellen notwendig sein, gerade dieser Lesart als einem allzu oberflächlichen Erklärungsmodell entgegenzutreten. Stattdessen befleißigt sich die vorliegende Arbeit einer vorwiegend werkimmanenten Betrachtungsweise, die schon allein wegen ihres Inhalts angemessen erscheint. Es sind, bei allem Zeitbezug, noch immer Gestaltungen eines Mythos, mit denen wir uns beschäftigen. Der Mythos aber ist zeitlos und dunkel und ein Teil seiner Faszination wird in diesem Dunkel, aller Interpretation und Analyse zum Trotz, immer verbleiben.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Der ursprüngliche Mythos
- Die Prägung des Stoffes - Euripides
- Der Dichter und sein Werk
- Die Schuldfrage
- Weiblicher Zorn und männliche Schwäche
- Das Verhältnis zum griechischen Eherecht
- Die Bedeutung des Kindsmords
- Mythenrezeption im Mythos
- Medea als Furie - Ovid und Seneca
- Ovid
- Seneca
- Ausdeutung
- Die Psychologisierung des Dramas – Franz Grillparzer
- Der Gastfreund
- Die Argonauten
- Medea
- Das Moment der Fremdheit
- Die Motivation zum Kindsmord
- Das goldene Vlieẞ
- Der Konflikt zwischen Staat und Individuum – Christa Wolf
- Miẞverständnisse bei der Rezeption
- Das Opferungsmotiv
- Die Entscheidung des Einzelnen
- Schluß
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit analysiert die Rezeption des Medeamythos in der Literatur, indem sie die Entwicklung des Themas und der Sichtweisen auf die Figur der Medea von ihren Ursprüngen bis zur Gegenwart an einigen exemplarischen Beispielen beleuchtet. Sie fokussiert sich auf die Veränderungen, die der Stoff im Laufe der Rezeptionsgeschichte durchmacht, insbesondere die Entfernung von dem ursprünglichen Mythos, die durch Euripides' Bearbeitung eingeleitet wird, und die anschließende Annäherung an diesen, die in der Neuzeit mit Grillparzer wieder auftritt.
- Die Entwicklung des Medeamythos von seinen Ursprüngen bis zur Gegenwart
- Die Rolle der Figur der Medea in verschiedenen literarischen Interpretationen
- Die Veränderungen des Themas und der Sichtweisen auf Medea im Laufe der Zeit
- Der Einfluss von kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten auf die Interpretation des Mythos
- Die Frage nach der Bedeutung und dem Einfluss des Euripides'schen Werkes auf die Rezeptionsgeschichte des Medeamythos
Zusammenfassung der Kapitel
- Die Einleitung liefert einen Überblick über den Medeastoff und seine Faszination für Autoren und Rezipienten. Sie stellt die These auf, dass sich eine zunehmende Entfernung vom ursprünglichen Mythos feststellen lässt, beginnend mit Euripides' Bearbeitung. Die Arbeit zielt darauf ab, die Entwicklung des Themas und der Sichtweisen bis zur Gegenwart anhand ausgewählter Beispiele zu zeigen.
- Das Kapitel über den ursprünglichen Mythos beschreibt die Entstehung des Stoffes in der mündlichen Tradition des griechischen Volkes und untersucht seine möglichen realen Anlässe. Es wird auf die Rolle von Fremdheit, kulturellen Konflikten und Entwurzelung im Mythos eingegangen.
- Das Kapitel über Euripides' Bearbeitung des Stoffes analysiert die Schuldfrage, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, das Eherecht und die Bedeutung des Kindsmords im Werk. Es wird die Frage gestellt, inwiefern Euripides dem Stoff einen Aspekt von Tiefe nimmt oder ihn verflacht.
- Das Kapitel über Ovid und Seneca untersucht die Darstellung der Medea als Furie und die Ausdeutung ihrer Handlung in der römischen Literatur. Es wird auf die Unterschiede in der Interpretation des Stoffes durch die beiden Autoren eingegangen.
- Das Kapitel über Grillparzers Bearbeitung des Stoffes konzentriert sich auf die Psychologisierung des Dramas und die Darstellung der Medeafigur in seinen Werken. Es wird auf die Themen Fremdheit, Motivation zum Kindsmord und das goldene Vlieẞ eingegangen.
- Das Kapitel über Christa Wolfs Bearbeitung des Stoffes beleuchtet den Konflikt zwischen Staat und Individuum und die Frage nach der Opferung im Kontext der Rezeptionsgeschichte des Medeamythos.
Schlüsselwörter
Der Medeamythos, Euripides, Seneca, Ovid, Grillparzer, Christa Wolf, Fremdheit, kulturelle Konflikte, Entwurzelung, Schuldfrage, Kindsmord, Psychologisierung, Opferungsmotiv, Konflikt zwischen Staat und Individuum.
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- Magister Artium Norbert Krüßmann (Author), 2003, Die Odyssee des Medeastoffes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56498