Die Bedeutung von Sprache in Peter Handkes "Wunschloses Unglück"

Eine Analyse der Sprache bezüglich ihrer Auswirkungen auf das Leben der Mutter und Handkes Umgang mit der Sprache als Material


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

28 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

2. Die Schreibmotivation und der Weg zur eigenen Geschichte

3. Der Weg von der Geschichte der Mutter zum Ich des Erzählers und die
Einflüsse der Gesellschaft auf die Entwicklung der Mutter und deren Bezie-
hung zu ihrem Sohn
3.1. Von der Geschichte der Mutter zur Geschichte über den Erzähler
3.2. Die Bedeutung der gesellschaftlichen Einflüsse auf die „Entwicklung“
der Mutter und ihrer „Sprachlosigkeit“
3.2.1 Die Bedeutung der Gesellschaft und die Rolle der Frau innerhalb
dieser Gesellschaft
3.2.2 Die Bedeutung von Sprache für das Leben der Mutter
3.2.3 Die Mutter-Sohn-Beziehung und die Bedeutung von Köperlich-
keit

4. Peter Handke und die Sprache

5. Schluss

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Erzählung „Wunschloses Unglück“[1] von Peter Handke, die Thema dieser Arbeit sein soll, erschien im Jahr 1972. Zeitlich ist dieses Werk somit einzuordnen in die Bewegung der „Neuen Subjektivität“ und „Neuen Innerlichkeit“.[2] Diese literarische Richtung lässt sich in zwei unterschiedliche Phasen einteilen. In der ersten Phase ging es den Autoren wie zum Beispiel Martin Walser darum, politisch engagierte Texte zu publizieren. Bei Peter Handke wie auch bei anderen Autoren (Botho Strauss, Thomas Bernhard) hingegen ging es nicht um eine direkte politische Beeinflussung der Leserschaft. Ihre Werke erscheinen auf den ersten Blick nicht als politisch. Die Besonderheit liegt statt dessen darin, anhand einer einzelnen Person auf die sozialen Lebensumstände, in denen die Menschen leben und unter denen sie oftmals leiden, hinzuweisen. Aus diesem Grund kann man Handkes Erzählung „Wunschloses Unglück“ unter die Begriffe der „Neuen Subjektivität“ und „Neuen Innerlichkeit“ einordnen, muss aber dabei beachten, dass hier der Autor den Weg wählt, über das Leben einer einzelnen Person auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen.

Der folgenden Arbeit liegt eine Dreiteilung zugrunde. In dem ersten Teil soll die Frage bearbeitet werden, aus welcher Motivation heraus Peter Handke das Buch verfasst hat. Dabei soll sowohl auf die vom Erzähler genannten Gründe eingegangen werden, als auch auf möglicherweise nicht auf den ersten Blick erkennbare Motive. In diesem ersten Kapitel soll versucht werden darzustellen, dass der Erzähler die Geschichte der Mutter nutzt, um über sich selbst zu schreiben. In einem zweiten Schritt soll durch eine Analyse verschiedener Textstellen verdeutlicht werden, wie sich aus der vordergründigen Geschichte der Mutter eine Geschichte über den Erzähler entwickelt. Aufgezeigt werden soll, wie sich das Leben der Mutter gestaltet hat und aus welchen Gründen sie sich zu dem Menschen entwickelt hat, der von dem Erzähler beschrieben wird. Hierbei sollen auch die gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse näher betrachtet werden. Ferner soll in diesem Abschnitt der Arbeit die Beziehung zwischen Mutter und Sohn beleuchtet werden, um herauszustellen, inwiefern die Erzählung über die Mutter auch immer ein Erinnern an die Vergangenheit des Erzählers darstellt. In einem letzten Kapitel soll schließlich noch die von Handke verwendete Sprache näher betrachtet werden. In diesem Kontext wird die Frage erörtert, wie sehr der Sprachgebrauch und die Lebensumstände der Mutter sich gegenseitig bedingen. Die vorliegende Arbeit verfolgt somit die Absicht aufzuzeigen, dass Handke durch den bewusst eingesetzten Gebrauch von Sprache Gesellschaftskritik übt aber auch gleichzeitig die Grenzen der Möglichkeiten des Materials Sprache aufzeigt.

2. Die Schreibmotivation und der Weg zur eigenen Geschichte

Die Frage nach der Schreibmotivation des Autors ist für das Verständnis dieses Werkes von großer Bedeutung. Es kann dadurch geklärt werden, ob es Handke „lediglich“ darum geht die Geschichte einer Frau, die im kleinbürgerlichen Österreich gelebt hat darzustellen, oder ob es noch weitere Motive gegeben hat, die ihn dazu veranlasst haben, den Text zu verfassen.[3]

Handke eröffnet seine Erzählung mit einer vierzeiligen Notiz aus der Kärntner >Volkszeitung<.

„In der Nacht zum Samstag verübte eine 51 jährige Hausfrau aus A. (Gemeinde G.) Selbstmord durch Einnehmen einer Überdosis von Schlaftabletten.“ [WU 9] Anhand dieser kurzen Notiz lässt sich eines der Hauptmotive, warum Handke diesen Text verfasst hat, erkennen.

Handke schreibt hier eine Geschichte, die exemplarisch für viele Lebensgeschichten von Frauen dieser Zeit steht. Er beschreibt eine Frau, die nie die Zeit hatte, sich um sich selbst zu kümmern und somit auch nie den Weg zur eigenen Selbstentfaltung und Emanzipation finden konnte. Sie erscheint als „selten wunschlos und irgendwie glücklich, meistens wunschlos und ein bißchen unglücklich“ [WU 19]. Eine Frau, die durch ihren selbstgewählten Tod zum ersten Mal ein wenig Aufmerksamkeit erregt.[4] Der Erzähler versucht also durch die Geschichte der Mutter einen Gegentext zu der oben zitierten unpersönlichen Notiz zu gestalten. Er ist bemüht die Person der Mutter aus der Anonymität der Sprache herauszulösen. Die Erzählung erscheint somit als „Versuch der Vergegenwärtigung eines individuellen Lebens, das durch die Sprachformel [der Zeitung] verdeckt zu werden droht“[5]. Der Erzähler sieht in dieser beiläufigen Vierzeilen-Notiz eine Verweigerung der Gesellschaft gegenüber dem Anspruch auf ein eigenes Ich. Er ist demzufolge bestrebt, der Figur der Mutter über ihren Tod hinaus eine Identität zu verleihen.

Ein anderes, vom Autor direkt angeführtes Schreibmotiv, findet sich im Anschluss an die Zeitungsannonce. Dort erläutert der Erzähler „[...], und ich möchte mich an die Arbeit machen, bevor das Bedürfnis, über sie zu schreiben, [...] sich in stumpfsinnige Sprachlosigkeit zurückverwandelt“ [WU 9]. Er hofft somit, sich durch den Vorgang des Schreibens von der Sprachlosigkeit, die ihn beim Tod der Mutter befallen hat, befreien zu können. Im Schreiben sucht er den Abstand zu diesen erschreckenden und schockierenden Vorfällen, der ihn aus „Zuständen des Entsetzens und der Sprachlosigkeit befreit“[6]. Der Schreibprozess soll ihm somit dazu dienen, Distanz zwischen sich und dem Tod der Mutter aufzubauen. Aus diesem Grund bezeichnet sich der Erzähler selbst als „Formulierungsmaschine“ [WU 12], wobei dieser Abstand es ihm auch ermöglicht, den Tod seiner Mutter zu einem „Fall“ [WU 12] zu machen. Durch diese Art der speziellen Arbeitsweise kann der Erzähler auch dem Lebenslauf der Mutter die gewünschte Repräsentativität verleihen. Er erweitert die Erzählung somit um „eine soziale, gesellschaftskritische und historische Relevanz, die aus diesem privaten Schicksal eben einen ‚Fall’ machen“[7]. Indem der Erzähler eine „Fallstudie“ vorlegt, kann er seine Mutter aus der Vergessenheit herausreißen und gleichzeitig Aufmerksamkeit für ihr Leben gewinnen.[8]

Dass er versucht, sich schreibend seiner Mutter zu erinnern, ist der letzte vom Erzähler selbst angeführte Beweggrund für das Verfassen der Erzählung. Er ist bemüht, durch den Schreibprozess eine Art Trauerarbeit zu leisten und somit diese Phase seines Lebens, in der er sich mit seiner Mutter auseinandersetzt, abzuschließen. Er benutzt also eine „literarische Formgebung als altbewährtes Mittel der Trauerarbeit“[9]. Im Text heißt es dazu:

„Indem ich sie beschreibe, fange ich schon an, mich an sie zu erinnern, als an eine abgeschlossene Periode meines Lebens, und die Anstrengung, mich zu erinnern und zu formulieren, beansprucht mich so, daß mir die kurzen Tagträume der letzten Wochen schon fremd geworden sind.“ [WU 11]

Hier wird somit der therapeutische Aspekt der Schreibarbeit sichtbar. Zum einen benutz der Erzähler die Sprache dazu, sich von der erstickenden Sprachlosigkeit zu befreien und zum anderen, um die Schreckensmomente und das Entsetzen, welche durch den Selbstmord der Mutter hervorgerufen wurden, zu überwinden.[10]

Betrachtet man nun die genannten Schreibmotivationen, so kommt man zu dem Ergebnis, dass sich der Erzähler tatsächlich „nur“ auf die Geschichte der Mutter konzentrieren will. Er will ihr nachträglich eine Identität geben und gleichzeitig seine Trauer aufarbeiten. Wenn man den Text aber genauer untersucht, so wird sehr bald deutlich, dass sich noch weitere Motive hinter denjenigen, die vom Erzähler angeführten werden, verbergen.

Untersucht man die Erzählung als Ganzes, so wird dem Leser deutlich, dass der Erzähler auch aus dem Bedürfnis heraus schreibt, über sich selbst zu schreiben. Da die ersten bildenden Bewusstseinseindrücke des Ich-Erzählers durch dieselbe Lebenssphäre beeinflusst wurden, wie die der Mutter, ist es ihm möglich, über seine Mutter schreibend auch über sich selbst zu schreiben.[11] Die Erzählung bietet ihm somit auch einen Zugang zu seiner eigenen Vergangenheit im proletarisch-bäuerlichen Österreich.

Indem der Erzähler die Lebensgeschichte seiner Mutter darzustellen versucht und ihrer Geschichte sowohl Arbeit als auch Interesse entgegenbringt, erweckt er den Eindruck, dass er durch die Erinnerung an die Person und deren Lebensumstände Versäumtes nachzuholen versucht. Man könnte sagen, der Ich-Erzähler schreibt sich an die Person der Mutter heran. Da er somit die Persönlichkeit der Mutter im Nachhinein zu verstehen und zu entdecken sucht, scheint er sich mit der Toten nachträglich zu solidarisieren[12]. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint dem aufmerksamen Leser „Wunschloses Unglück“ als ein Versuch, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. Dem Leser wird der Eindruck vermittelt, dass sich der Erzähler durch die Darstellung der Lebensgeschichte der Mutter ihr annähern will, um etwas aufzubauen, was ihm sein Leben lang nicht gelungen ist.

Somit wird deutlich, dass der Erzähler das Leben der Mutter nicht nur deshalb schriftlich behandelt, um es aufzuarbeiten, sondern auch, um sich mit seinem eigenen Selbst, seiner eigenen Vergangenheit auseinander zusetzen. Die eigentliche Schreibmotivation, die dazu geführt hat, die Erzählung zu entwickeln, lässt sich somit in zwei Kategorien zusammenfassen „the original ‘authentic’ impulse (Handke’s need to write about his mother) is complicated by another, equally authentic impulse (his need to write about himself through his mother) [...]“[13].

Somit lässt sich als Fazit festhalten, dass der Erzähler, der sich hier zu Wort meldet, auf keinen Fall aus beliebigen Gründen spricht, auch wenn er dies im Text so angibt: „Natürlich sind alle diese Begründungen ganz beliebige und durch andere, gleich beliebige, ersetzbar.“ [WU 12] Vielmehr ist erkennbar, dass der Ich-Erzähler sehr spezielle Gründe, die für ihn von großer Bedeutung sind, hat, um den Text zu verfassen. Folglich ist offensichtlich, dass der Erzähler nicht aus „irgendwelchen“ Gründen schreibt, und dass die eingangs angegebenen wohl nicht seine wirklichen sind.[14] Die ursprüngliche Schreibmotivation scheint also zu einem großen Teil darin zu liegen, die Geschichte der Mutter zu nutzen, um über sich selbst zu schreiben.

3. Der Weg von der Geschichte der Mutter zum Ich des Erzählers und die Einflüsse der Gesellschaft auf die Entwicklung der Mutter und deren Beziehung zu ihrem Sohn

In diesem zweiten Teil der Arbeit soll nun dargestellt werden, wie sich die Geschichte der Mutter zu einer Geschichte über den Sohn entwickelt und wie die Mutter zu der Frau werden konnte, die schließlich den Entschluss gefasst hat, sich umzubringen. In diesem Kontext sollen dann ebenfalls gesellschaftliche Muster und Lebensumstände durchleuchtet werden, die scheinbar gleichzeitig Einfluss auf die eigene Wahrnehmung und das Verhalten in sozialen Beziehungen, wie auch auf das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn, ausüben. Da diese verschiedenen Aspekte jeweils eng miteinander verwoben sind, soll so vorgegangen werden, dass zunächst lediglich dargestellt wird, auf welche Weise der Übergang von der Geschichte der Mutter zu der des Sohnes stattfindet. Im nächsten Schritt werden dann Aspekte wie gesellschaftliche Lebensumstände, die Geschlechterrollen, die Körperlichkeit u.a. thematisiert. Abschließen soll dieser Teil mit der Untersuchung der Mutter-Sohn-Beziehung und mit den Folgen die aus ihr resultieren.

3.1 Von der Geschichte der Mutter zur Geschichte über den Erzähler

Wie schon im ersten Teil der Arbeit erwähnt wurde, nutzt der Erzähler die Geschichte der Mutter, um über sich selbst zu schreiben. Wie dies im Verlauf des Textes deutlich gemacht wird, soll nun im Folgenden gezeigt werden.

Der Ich-Erzähler beginnt die Erzählung über die Mutter mit einem Satz, in dem Anfang und Ende zugleich ausgedrückt werden: „Es begann also damit, daß meine Mutter vor über fünfzig Jahren im gleichen Ort geboren wurde, in dem sie dann auch gestorben ist.“ [WU 13] Dieser Satz vermittelt dem Leser direkt den Eindruck von Stagnation. Der Ich-Erzähler eröffnet somit einen Blick auf das proletarisch-kleinbäuerliche Österreich. Dieses Österreich stellt aber nicht nur die Lebenswelt der Mutter dar, sondern auch die Umgebung in der der Ich-Erzähler aufgewachsen ist und sozialisiert wurde. Diese Gegend ist somit der Ort, der die Vergangenheit des Erzählers bestimmt.[15] An dieser Stelle wird schon deutlich, dass die beiden Geschichten sehr eng miteinander verflochten sind, auch wenn der Ich-Erzähler versucht, möglichst viel Distanz zwischen sich und der Person der Mutter aufzubauen. Es ist schon dargestellt worden, dass der Erzähler sich mit der Mutter im Nachhinein solidarisieren möchte. Er nutzt also die gemeinsame Geschichte, um sich an sie heranzuschreiben. Die Erzählung erscheint aber nicht als eine durchgehende, in der die gesamte Lebenszeit der Mutter chronologisch nachempfunden wird. Vielmehr erhält der Leser den Eindruck, dass der Erzähler einzelne Episoden aus dem Leben seiner Mutter aneinander reiht. So heißt es im Text: „[...] unter all den nichtssagenden Lebensdaten die nach einer Veröffentlichung schreienden herauszufinden.“ [WU 40] Aus diesem Grund könnte man die Erzählung „Wunschloses Unglück“ als „eine literarische Kollage bezeichnen“[16], die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die wesentlichen und interessanten Lebensabschnitte der Mutter darzustellen. Die Frage, die sich nun aber stellt, ist, nach welchem Schema oder nach welchem Grad der Wichtigkeit der Erzähler die einzelnen Episoden ausgesucht und anschließend „gedeutet“ hat? Hier muss davon ausgegangen werden, dass die eigenen Belange des Sohnes die Auswahl beträchtlich mitbestimmt haben. So kann man sagen, dass „die psychische Konstitution des Sohnes/Ich-Erzählers entscheidenden Anteil an der ‘Deutung’ der Mutter hat. Es ist zu erwarten, daß er vor allem das an ihr sieht, was mit seinen Problemen zu tun hat“[17]. Für die Erzählung bedeutet das dementsprechend, dass die Bearbeitung des Lebens der Mutter auch immer zugleich für den Erzähler den Versuch darstellt, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen. Um „Wunschloses Unglück“ also in seiner Vielschichtigkeit verstehen zu können, ist es wichtig zu sehen, dass der Erzähler nicht nur die Vergangenheit der Mutter, sondern auch die eigene Vergangenheitsgeschichte im biografischen Umfeld seiner Mutter aufarbeitet.[18] Man kann sagen „die Authentizität ihres Lebensschicksals [wird] zum poetischen Filter seines eigenen, sich an den Widerständen der Wirklichkeit allmählich artikulierenden und leidenden Ichs [...]“[19].

Am Text selbst äußert sich dies Vorgehen folgendermaßen: „[...] doch diese Geschichte hat es nun wirklich mit Namenlosen zu tun, mit sprachlosen Schrecksekunden. Sie handelt von Momenten, in denen das Bewußtsein vor Grausen einen Ruck macht; von Schreckzuständen, so kurz, daß die Sprache für sie immer zu spät kommt; [...].“ [WU 42] Hier wird deutlich, dass vor allem das „Namenlose“ und die „sprachlosen Schrecksekunden“ nicht nur ein Teil der Lebensgeschichte der Mutter darstellen, sondern zugleich auch dem vergangenen Leben des Erzählers angehören.[20] „In der mitgeteilten Geschichte entdeckt er die Spuren einer vergessenen eigenen; in der Lebensbeschreibung der Mutter erinnert er sich auch an sein Herkommen.“[21] Die Erzählung stellt also zum einen die Zustände einer verhinderten Ichwerdung der Mutter dar und zum anderen den Versuch einer „nachgeholten anderen Ichwerdung, der des schreibenden Subjekts“[22]. Dieser „nachgeholten Ichwerdung“ zugrunde liegende Motivation, ist, dass der Erzähler durch das bewusste Zurückholen der Vergangenheit, durch Erinnerung, eine Klärung herbeiführen will, die ihm bei der Gestaltung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensmöglichkeiten behilflich sein soll.[23] Auf Grund dieser Bemühung verliert der Ich-Erzähler immer mehr an Distanz gegenüber der Person der Mutter, wodurch es zu einer Wende innerhalb der Erzählhaltung kommt. Zu Beginn der Erzählung gebraucht der Ich-Erzähler das unpersönliche „man“, um über das Leben seiner Mutter zu berichten. „Man überraschte einander mit dem Notwendigen, mit Unterwäsche, Strümpfen, Taschentüchern, und sagte, daß man sich gerade das auch gewünscht hätte! Auf diese Weise spielte man bei fast allem, außer beim Essen, den Beschenkten;“ [WU 49]. Im weiteren Verlauf der Erzählung hingegen scheint der Erzähler sich gedrängt zu fühlen, dass „man“ aufzugeben und stattdessen zum „sie“ überzugehen. „Das, was sie immer mehr beschäftigte, je weniger sie bloß wirtschaften mußte, kam in dem, was ihr vom sozialistischen System übermittelt wurde, nicht vor. [...] Allmählich kein >man< mehr; nur noch >sie<.“ [WU 62] Der Erzähler scheint unter den vorgegebenen Zwängen durch die Gesellschaft doch die Rudimente einer sich herausbildenden Identität seiner Mutter zu entdecken und gleichzeitig damit auch die Grundlagen seines eigenen Ichs erkennen zu können.[24] Mit diesem grammatischen Wechsel der Erzählperspektive korrespondiert aber gleichzeitig auch noch ein anderer Sachverhalt. Der Erzähler spricht mit zunehmendem Maße immer mehr von sich selbst. Es lässt sich somit festhalten, dass mit der Verwendung des Personalpronomens „sie“ auch ein starkes Auftreten des „ich“ des Erzählers einhergeht. „Seit dieser Zeit erst nahm ich meine Mutter richtig wahr.“ [WU 67] Die Distanz zwischen Mutter und Sohn scheint also immer mehr zu schwinden. „Sein Schreiben gerät zu einem Sich-Einträumen in die Erfahrungen der Mutter.“[25] Besonders auf den letzten Seiten der Erzählung lässt sich eine zunehmende Subjektivität des Ich-Erzählers feststellen. In kurzen, auseinanderfasernden Sätzen teilt der Ich-Erzähler dem Leser seine Gedanken oder Gefühle mit. „Tagsüber habe ich oft das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich mache Türen auf und schaue nach. Jedes Geräusch empfinde ich zunächst als einen Anschlag auf mich.“ [WU 85] Deutlich wird, dass die Figur der Mutter immer mehr hinter die eigene Person des Ich-Erzählers zurücktritt.[26]

[...]


[1] Handke, Peter: Wunschloses Unglück. Bonn 2001 ST 3287. [im Folgenden abgekürzt mit WU)

[2] Vgl. Banner, Wilfried (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München, 1994. S. 625. „>Neue Innerlichkeit<, Wiederentdeckung des Ichs und >Neue Subjektivität< sind die Signalwörter, die über der literarischen Entwicklung der siebziger Jahre stehen.“

[3] An dieser Stelle drängt sich die Frage nach Fiktion und Authentizität des Werkes auf. Ein großer Teil der wissenschaftlichen Literatur geht davon aus, dass Handke hier das Leben seiner eigenen Mutter verarbeitet. So erläutert Peter Pütz: „Wunschloses Unglück (1972) basiert auf der Biographie seiner Mutter, so daß der Autor diesmal einen Tatsachenbericht zugrunde legt, gegen dessen andrängende Macht des Faktischen er sich dichterisch zu behaupten sucht.“(Pütz, Peter: Peter Handke. Suhrkamp Taschenbuch 854. Frankfurt am Main 1982. S. 49.) Dieser Ansicht schließt sich die vorliegende Arbeit nicht an, da es zwar erhebliche Parallelen zwischen dem Leben Peter Handkes und dem vorliegenden Werk gibt, es aber dennoch nicht als autobiographisches Werk eindeutig zu klassifizieren ist. Die Arbeit folgt somit der These, dass „Wunschloses Unglück“ als fiktives Werk anzusehen ist und stützt sich dabei auf eine Aussage von Oliver Sill in Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre, in der er sich mit der Klassifizierung von Autobiographien auseinandersetzt. „Wie läßt sich nun eine echte Autobiographie als Text von einem möglichen fiktionalen Werk [...] unterschieden? [...] Es sind allein der wirkliche Name des Autobiographen auf dem Einband und die textimmanente Erklärung, in welcher dieser die Identität von Autor, Erzähler und Person zusichert und garantiert.“

[4] Vgl. Kann, Irene: Schuld und Zeit: literarische Handlung in theologischer Sicht; Thomas Mann – Robert Musil– Peter Hanke. Paderborn; München; Wien; Zürich: Schöningh, 1992. S. 184. [im Folgenden abgekürzt mit: Kann, Irene: Schuld und Zeit]

[5] Renner, Rolf Günter: Peter Handke. Stuttgart: Metzler 1985. S. 85.

[6] Kann, Irene: Schuld und Zeit. S. 185.

[7] Sergooris, Gunther: Peter Hanke und die Sprache. Bonn: Bouvier 1979. S. 72.

[8] Vgl. Kann, Irene: Schuld und Zeit. S. 185.

[9] Ebd. S. 185.

[10] Vgl. Sergooris, Gunther: Peter Handke und die Sprache. Bonn: Bouvier 1979. S. 67.

[11] Vgl. Nägele, Rainer; Voris, Renate: Peter Handke. München 1978. S. 59.

[12] Vgl. Kann, Irene: Schuld und Zeit. S. 202.

[13] Paver, Chloe E.M.: ’Die verkörperte Scham’: The Body in Handke’s Wunschloses Unglück. In: The Modern Language Review. Band 94. Exeter 1999. S. 460-475. hier S. 462. [im Folgenden abgekürzt mit: Paver, Chloe E.M. ‘Die verkörperte Scham’: The Body in Handke’s Wunschloses Unglück.]

[14] Vgl. Mauser, Wolfram: Peter Handke: ‚Wunschloses Unglück’ – erwünschtes Unglück ? In: Der Deutschunterricht. In neuer Folge herausgegeben von Wilhelm Dehn; Hartmut Eggert; Franz Hebel; Ernst Nündel; Heinz-Dieter Weber. Jahrgang 34 1/82. S. 73-89 hier S. 78. [im Folgenden abgekürzt mit: Mauser, Wolfram: Peter Handke: ‚Wunschloses Unglück’ – erwünschtes Unglück ?]

[15] Vgl. Renner, Rolf Günter: Peter Handke. Stuttgart: Metzler, 1985. S. 85.

[16] Sergooris, Gunther: Peter Handke und die Sprache. Bonn: Bouvier 1979. S. 71.

[17] Mauser, Wolfram: Peter Handke: ‚Wunschloses Unglück’ – erwünschtes Unglück ? S. 82.

[18] Vgl. Durzak, Manfred: Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur. Narziß auf Abwegen. Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz: Kohlhammer, 1982. S. 124. [im Folgenden abgekürzt mit: Durzak, Manfred: Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur.]

[19] Ebd. S. 124.

[20] Vgl. Renner, Rolf Günter: Peter Handke. Stuttgart: Metzler, 1985. S. 87.

[21] Ebd. S. 87.

[22] Nägele, Rainer: Peter Handke: Wunschloses Unglück (1972). In: Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts: neue Interpretationen. hrsg. von Paul Michael Lützeler. Königstein/Ts.: Athenäum, 1983. S. 388-402 hier S. 396. [im Folgenden abgekürzt mit: Nägele, Rainer: Peter Handke: Wunschloses Unglück (1972)]

[23] Vgl. Kann, Irene: Schuld und Zeit. S. 186.

[24] Vgl. Renner, Rolf Günter: Peter Handke. Stuttgart: Metzler, 1985. S. 92.

[25] Ebd. S. 92.

[26] Vgl. Sergooris, Gunther: Peter Handke und die Sprache. Bonn: Bouvier 1979. S. 76.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Die Bedeutung von Sprache in Peter Handkes "Wunschloses Unglück"
Untertitel
Eine Analyse der Sprache bezüglich ihrer Auswirkungen auf das Leben der Mutter und Handkes Umgang mit der Sprache als Material
Hochschule
Westfälische Wilhelms-Universität Münster  (Institut für Germanistik Abteilung Deutsche Philologie )
Veranstaltung
Das (auto-) biographische Jahrzehnt. Literatur der 1970er Jahre
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
28
Katalognummer
V56743
ISBN (eBook)
9783638513517
ISBN (Buch)
9783656068389
Dateigröße
418 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bedeutung, Sprache, Peter, Handkes, Wunschloses, Unglück, Eine, Analyse, Sprache, Auswirkungen, Leben, Mutter, Handkes, Umgang, Sprache, Material, Jahrzehnt, Literatur, Jahre
Arbeit zitieren
Miriam Degenhardt (Autor:in), 2005, Die Bedeutung von Sprache in Peter Handkes "Wunschloses Unglück" , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56743

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