Die Darstellung des Volkes in Georg Büchners 'Dantons Tod'


Seminararbeit, 2000

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 Verschiedene Perspektiven und Darstellungsweisen
2.1.1 Das leidende Volk
2.1.2 Das Volk als Masse
2.1.3 Das Volk als Bezugspunkt für die Protagonisten
2.1.4 Die Gesellschaft im Querschnitt
2.2 Besondere Einzelaspekte
2.2.1 Simon
2.2.2 Die Huren
2.2.3 Witze und Wortspiele
2.2.4 Volkslieder

3. Fazit

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Volk stellt in Georg Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“ (1835) den dritten Hauptakteur neben Danton und Robespierre dar. Dabei fügen sich die Volksszenen nicht nahtlos in den Handlungsverlauf ein, sondern erhalten durch ihre episodenartige Gestaltung eine besondere Bedeutung innerhalb der Komposition des Dramas. Auffällig ist auch die Tatsache, dass Büchner diese Szenen fast vollständig aus der Phantasie geschaffen hat, wohingegen die Aussagen Dantons und Robespierres zu großen Teilen historischen Quellen entnommen wurden.[1] Die Darstellung des Volkes verlangt hier also eine spezielle Untersuchung.

Meine erkenntnisleitende Fragestellung ist hierbei die Frage, ob die Darstellung des Volkes der Ausdruck eines totalem Pessimismus ist, d.h., ob Büchner hier ein völlig negatives Bild vom Volk zeichnet und das Volk tatsächlich als „ewigen Maulaffen“[2], der zu kollektivem revolutionärem Handeln absolut unfähig ist, betrachtet.

In der vorliegenden Arbeit werde ich mich mit dieser Frage beschäftigen, indem ich zunächst die verschiedenen Perspektiven und Darstellungsweisen, die Büchner verwendet, um dem Zuschauer das Pariser Volk in der Zeit der Jakobinerdiktatur zu präsentieren, untersuche. Danach werde ich mich mit einigen besonderen Nebenaspekten, die bei der Darstellung des Volkes auftauchen, befassen, um im Anschluss daran ein Fazit, bei dem ich mich kritisch mit einigen Interpretationsansätzen auseinander setzen werde, zu formulieren.

Weitere Aspekte, die im Zusammenhang mit der Darstellung des Volkes untersucht werden könnten, was jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, sind der Vergleich mit der Volksdarstellung in den historischen Quellen[3] sowie der Vergleich mit der Rolle des Volkes in anderen Dramen, wie z.B. Goethes „Egmont“, Schillers „Wallensteins Lager“ oder Shakespeares „Julius Caesar“.[4]

2. Hauptteil

2.1 Verschiedene Perspektiven und Darstellungsweisen

2.1.1 Das leidende Volk

Der erste Eindruck, den der Zuschauer vom Volk erhält, ist ein Bild unvorstellbaren Elends. Der Trunkenbold Simon beschimpft und verprügelt seine Frau, weil sie die Tätigkeit ihrer gemeinsamen Tochter „Sannchen“, die sich prostituiert, um die Familie finanziell über Wasser zu halten, nicht nur duldet, sondern auch unterstützt (Akt I, Szene 2). Anstatt, wie in der vorhergehenden Anfangsszene von Camille beschworen, „nackte Götter, Bacchantinnen, olympische Spiele“(S.7, Z.35)[5] anzutreffen, erlebt man hier Alkoholismus, Prostitution und Gewalt – die weltfremden Visionen der Dantonisten werden somit als naive Utopie entlarvt. Während Simon mit seinem aufgesetzten Pathos nur lächerlich und heuchlerisch wirkt, erscheint seine Frau, die derartige Ausbrüche ihres Mannes offenbar gewohnt ist, mit ihrer unromantischen Haltung wesentlich realistischer und vernünftiger: „sie ist ein braves Mädchen und ernährt ihre Eltern“ (S.10, Z.6f.). Diese Szene macht deutlich, dass sich die Liebe zwischen den beiden unter dem Druck des sozialen Elends niemals wirklich entfalten kann – ganz im Gegensatz zur Situation der reichen Frauen Julie und Lucile, die völlig in der Liebe zu ihren Männern aufgehen und diesen am Ende sogar freiwillig in den Tod folgen.[6]

Der Ehekrach zwischen Simon und seiner Frau wird dann vom Ersten Bürger von der privaten auf eine politisch-moralische Ebene gehoben. Er betont, dass Simons Tochter für ihr Verhalten moralisch nicht verantwortlich gemacht werden könne, da es die Armut sei, die sie zu unmoralischem Verhalten zwinge: „Was tat sie? Nichts! Ihr Hunger hurt und bettelt.“ (S.10, Z.21). Er hat erkannt, dass ein Mensch, der derart unter seinem sozialen Elend zu leiden hat, unmöglich den bürgerlichen Tugendvorstellungen entsprechen kann.[7] Die Rede des Ersten Bürgers wird dann zu einer merkwürdigen Argumentationskette, in der sein Hass auf diejenigen, die „mit den Töchtern des Volkes huren“ (S.10, Z.23f.), also die Reichen, zum Ausdruck kommt. Hier zeigt sich besonders deutlich, dass das Volk in seinem Leid und seiner Unbeholfenheit kein anderes Mittel zur Durchsetzung seiner Ziele mehr erdenken kann, als die blinde Gewalt.

Der Dritte Bürger knüpft dann direkt an diese Argumentation an und kritisiert unbewusst die Jakobiner um Robespierre, die immer wieder Feindbilder wie die Aristokraten, das Veto und die Girondisten aufgebaut hätten, wobei die Ausrottung dieser Feinde aber nichts daran geändert habe, dass das Volk nach wie vor „auf nackten Beinen“ (S.11, Z.1) laufe. Anstatt nun aber zu fordern, dass man diesen Prozess durchbrechen und andere Wege finden müsse, um dem Leid des Volkes ein Ende zu bereiten, tut er das genaue Gegenteil und fordert eine Verschärfung der Gewalt gegen die Feinde des Volkes, was in einem Aufruf zur kannibalischen Ermordung dieser Feinde, deren Identität relativ unklar bleibt, gipfelt: „Wir wollen ihnen die Haut von den Schenkeln ziehen und uns Hosen daraus machen, wir wollen ihnen das Fett auslassen und unsere Suppen mit schmälzen. Fort! Totgeschlagen, wer kein Loch im Rock hat!“ (S.11, Z.1-5). Diese unlogische und widersprüchliche Argumentation ermöglicht es dem Zuschauer, den Kreislauf der Gewalt, den Robespierres Politik erzeugt, zu durchschauen, und festzustellen, dass das Volk sich zu einem Teil dieses Kreislaufes, ja sogar zu einer treibenden Kraft des Terrors macht.[8]

Die Erkenntnis, dass die Hinrichtungen dazu benutzt werden, das Volk ruhig zu stellen und vom eigenen Elend abzulenken, ohne dass sich an diesem Elend etwas ändert, taucht im Laufe der Handlung immer wieder auf. So klagt einer der Bürgersoldaten, die den Auftrag haben, Danton zu verhaften: „Ich wollte, das Vaterland machte sich um uns verdient; über all den Löchern, die wir in andrer Leute Körper machen, ist noch kein einziges in unsern Hosen zugegangen.“ (S.40, Z.29-34), und nach Dantons letzter Rede vor dem Revolutiontribunal kommt es bei Angehörigen des Volkes zu Aussagen wie: „Ja, das ist wahr, Köpfe statt Brot, Blut statt Wein!“ (S.64, Z.6f.), oder: „Die Guillotine ist eine schlechte Mühle und Samson ein schlechter Bäckerknecht; wir wollen Brot, Brot!“ (S.64, Z.8ff.). Den Beweis, dass das Volk zu großen Teilen tatsächlich auf die „Köpfe-statt-Brot“-Politik hereinfällt, liefert eins der Weiber in der Hinrichtungsszene (IV, 7): „Platz! Platz! Die Kinder schreien, sie haben Hunger. Ich muß sie zusehen machen, daß sie still sind.“ (S.74, Z.25ff.). Das einzige Gefühl, zu dem das Volk jetzt noch fähig zu sein scheint, ist der erbitterte Hass, der sich nicht nur gegen die, die „kein Loch im Rock“ (S.11, Z.4f.) haben, also die Reichen, richtet, sondern auch gegen die, die „lesen und schreiben“ (S.11, Z.6f.) können, also die Gebildeten; die, die „auswärts“ (S.11, Z.8) gehen, also die Vornehmen, oder auch jemand, der, wie ein sich zufällig in der Nähe aufhaltender Mann, ein Schnupftuch bei sich trägt. Dies führt hier sogar zu einem halbherzigen Lynchversuch (siehe Abschnitt „Das Volk als Masse“).

Als es dann zum ersten Auftritt Robespierres kommt, macht sich der Erste Bürger endgültig lächerlich, als er im Gespräch über das „Gesetz“ Rousseaus Vorstellungen vom „volonté générale“ und „volonté de tous“[9] zur Formulierung eines anarchistischen Programms missbraucht: „Wir sind das Volk, und wir wollen, daß kein Gesetz sei; ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes gibt`s kein Gesetz mehr, ergo totgeschlagen!“ (S.12, Z.8-11).

Die hier dargestellte Realität des Volkes ist eine Welt aus Gewalt, Verzweiflung, Gier, Prostitution, Trunksucht, Hunger, Anarchie, Chaos, Zynismus und Unmoral. Diese antiromantische Darstellung wird in ihrer Drastik noch dadurch verschärft, dass das Volk ständig durch die Figuren Robespierre und Simon mit Tugendphrasen konfrontiert wird, die im krassen Widerspruch zur Realität stehen (siehe Abschnitt „Simon“). Die dilettantische „ergo“- Argumentation des Ersten Bürgers und der sich selbst widersprechende Dritte Bürger machen deutlich, dass das Volk weder eine Vorstellung von den tieferen Ursachen seines sozialen Elends, noch eine Idee, wie man eine Linderung dieses Elends erreichen könnte, hat.[10] Die Armut des Volkes verhindert das Zustandekommen einer „solidarisch-revolutionären Einheit“[11], d.h., dass es diesem Volk absolut unmöglich ist, von sich aus gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen. Man kann also tatsächlich sagen, dass hierbei Büchners Pessimismus hinsichtlich der revolutionären Fähigkeiten des Volkes zum Ausdruck kommt, wobei er die Angehörigen des Volkes jedoch nicht als Schuldige, sondern als hilflos getriebene, bemitleidenswerte Geschöpfe darstellt.

2.1.2 Das Volk als Masse

Ein Aspekt, dem Büchner im „Danton“ im Hinblick auf die Darstellung des Volkes besondere Aufmerksamkeit schenkt, ist die Massenpsychologie, wobei vor allem die Wirkung demagogischer Reden auf die Masse thematisiert wird. So gelingt es den Bürgern in der Szene I,2, das zuhörende Volk mit Hilfe emotionaler, aufwiegelnder Aussagen in einen anarchistischen, gewalttätigen Mob zu verwandeln, der auch vor Lynchjustiz nicht zurückschreckt. Das recht willkürlich ausgewählte Opfer muss dabei als Sündenbock herhalten und wird zur Zielscheibe des maßlosen Blutdurstes, zu dem die Bürger das Volk mit ihren Reden angestachelt haben. Die Tatsache, dass das Opfer nichts als einen simplen Witz (S.11, Z.30f.: „Meinetwegen, ihr werdet deswegen nicht heller sehen.“, siehe auch Abschnitt „Witze und Wortspiele“) benötigt, um sich Sympathie zu verschaffen und sich dadurch vor dem Aufknüpfen an der Laterne zu retten, zeigt, dass es dieser wilden Menge nicht vordergründig darum geht, das Land von Konterrevolutionären zu befreien, sondern darum, dem Unmut über das eigene soziale Elend ein Ventil zu verschaffen. So wird diese Szene nicht zu einem revolutionären Akt, sondern zu einem makaberen Spiel.

Während die Bürger das Volk also in einen Zustand der totalen Anarchie treiben, bewirkt das darauf folgende Auftreten Robespierres hingegen eine Mäßigung, Ordnung und politische Kanalisierung.[12] Unter Einsatz seiner starken Ausstrahlung und Autorität bringt er das Volk schnell auf seine Seite, obwohl er im Grunde genommen selbst zu den Vornehmen gehört, die man eigentlich hat totschlagen wollen. Das Volk zeigt seine ehrfurchtsvolle, teilweise eine metaphysische Ebene erreichende Haltung gegenüber Robespierre durch verzückte Ausrufe, in denen vom „Aristides“, vom „Unbestechlichen“ und vom „Messias“ (S.12, Z.12ff.) die Rede ist. Mit seiner begnadeten Redekunst gelingt es Robespierre, die Stoßkraft der blind und lärmend folgenden Menge in seine Richtung zu lenken[13], wobei das Volk zu einem bloßen Manipulationsobjekt degradiert wird. Von Schmeicheleien (S.12, Z.19f.: „Volk, du bist groß!“) und Aussagen über die gemeinsamen Feinde lassen sich die Zuhörer so sehr blenden, dass sie übersehen, dass auch Robespierre über kein Konzept für eine Linderung ihres Elends verfügt. Allerdings sind es nicht alle, sondern nur „Viele Stimmen“ (S.12, Z.30), die nach der Rede „Es lebe Robespierre!“ (S.12, Z.30f.) rufen. Anscheinend gibt es also doch einige wenige Angehörige des Volkes, die die Ambivalenz zwischen den Aussagen der Bürger und denen Robespierres erkannt haben.

[...]


[1] Vgl. Josef Jansen: Georg Büchner: Dantons Tod. Das Zeitalter der Restauration und die Literatur des „Jungen Deutschland“. Düsseldorf, 1978, S.88

[2] Büchners Brief an die Familie vom April 1833. In: Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. Karl Pörnbacher u.a., 7. Aufl., München, 1999, S.278

[3] Vgl. Dorothy James: Georg Büchner´s ´Dantons Tod`. A Reappraisal. London, 1982, S.8-14

[4] Vgl. Paul Landau: Dantons Tod. In: Wege der Forschung. Georg Büchner. Hg. Wolfgang Martens. Darmstadt, 1965, S.22ff.

[5]Alle Seiten- und Zeilenangaben zu „Dantons Tod“ beziehen sich auf: Georg Büchner: Dantons Tod. Stuttgart, 1970. Grundlage für Angaben zu anderen Werken Büchners: Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. Karl Pörnbacher u.a., 7.Aufl., München, 1999

[6] Vgl. Gonthier-Louis Fink: Das Bild der Revolution in Büchners Dantons Tod. In: Burghard Dedner / Günter Oesterle: Zweites Internationales Georg Büchner Symposium. Frankfurt a.M., 1990 , S.180

[7] Vgl. „Woyzeck“: „Sehn Sie, wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine Anglaise, und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muß was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl.“ (S.241)

[8] Vgl. Gonthier-Louis Fink: a.a.O., S.192

[9] Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Politische Schriften I, Paderborn, 1977

[10] Vgl. Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner: Biographie. Stuttgart, 1993, S.450

[11] Werner Frizen: Georg Büchner: Dantons Tod. München, 1990, S.75

[12] Vgl. Alfred Behrmann / Joachim Wohlleben: Büchner: Dantons Tod. Eine Dramenanalyse. Stuttgart, 1980, S.86

[13] Vgl. Gerhart Baumann: Georg Büchner. Die dramatische Ausdruckswelt. Göttingen, 1976, S.20

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Die Darstellung des Volkes in Georg Büchners 'Dantons Tod'
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Deutsche und Niederländische Philologie)
Veranstaltung
Proseminar "Georg Büchner"
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
23
Katalognummer
V57113
ISBN (eBook)
9783638516426
ISBN (Buch)
9783638665148
Dateigröße
598 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Dozent: Eine Arbeit, die ich auch in einem Hauptseminar akzeptiert und positiv bewertet hätte: Sie wägen gründlich ab, scheuen nicht vor der Arbeit der Empirie und entwickeln über dieser Basis überzeugende Verallgemeinerungen. Weiter so!
Schlagworte
Darstellung, Volkes, Georg, Büchners, Dantons, Proseminar, Georg, Büchner
Arbeit zitieren
Torsten Halling (Autor:in), 2000, Die Darstellung des Volkes in Georg Büchners 'Dantons Tod', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57113

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