Überblick über die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa


Seminararbeit, 2002

17 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

Überblick über die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa
I. Einführung
II. Allgemeiner Überblick über Entstehung von Verfassungsgerichten
1. Polen
2. Ungarn
3. Russland
4. Bulgarien
5. Tschechoslowakei
6. Slowakei
7. Rumänien
III. Bestellung und Amtszeit der Verfassungsrichter
IV. Schlussbemerkungen
Literaturverzeichnis

Überblick über die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa

I. Einführung

„Im Zuge der Rückkehr nach Europa hat sich Osteuropa auf den Weg der Verfassungsstaatlichkeit begeben“ (Brunner 1993: S.820) schreibt der Verfassungsspezialist Georg Brunner. Die Wende der Jahre 1989 bis 1991 hat in Osteuropa den Entwicklungsrahmen für eine neue freiheitlich-demokratisch ausgerichtete Grundordnung geschaffen. Grundlage dieser neuen Ordnung sind nach westlichem Vorbild neue Verfassungen, als bestimmt übergeordnete Rechtsordnungen eines jeden Landes. Um diese Ordnung institutionell zu bewahren und weiterzuentwickeln wurden entsprechende Vorkehrungen getroffen. Ziel ist und war, dass die Gesetzgebung und Rechtsbestimmungen mit der Verfassung übereinstimmen. Meistens führte dies relativ schnell zu Überlegungen ein eigenes Verfassungsgerichte aufzubauen, welches sich mehr oder weniger am deutschen oder österreichischen Modell orientieren würde.

Um die Entwicklung begreiflicher zu machen, ist erst mal eine kurze Rückschau hilfreich. Der theoretische Hintergrund des Kommunismus hielt eine Verfassungsgerichtsbarkeit für überflüssig, da die sich das, an Marx und Lenin anlehnende, Verfassungsverständnis auf die Gewalteneinheit festgelegt hatte. Ansonsten wäre die Souveränität der Arbeiterklasse in Frage gestellt worden, weil nur das ‚demokratisch’ gewählte Parlament oberster Souverän sein kann. Tatsächlich wurden so die Diktatur und der Totalitarismus der kommunistischen Einheitspartei getarnt. Außerdem lehnten die Kommunisten grundsätzlich jegliche Kontrolle ab.

Dennoch wurden im früheren Ostblock teilweise schon in den 60er Jahren Versuche unternommen Verfassungsgerichte einzurichten, die jedoch keine große Bedeutung erlangten. Darauf werde ich aber bei der Analyse der einzelnen Ländern kurz eingehen.

Im folgenden werde ich versuchen einen kurzen Überblick über Verfassungsgerichte, ihre Entwicklung, Zusammensetzung, etc. in den einzelnen Ländern Osteuropas zu geben. Dies ist leider nur unvollständig möglich.

II. Allgemeiner Überblick über Entstehung von Verfassungsgerichten

1. Polen

In Polen wurde auch schon vor der Wende eine Verfassungsgerichtsbarkeit aufgebaut, auch wenn sich dies über mehrere Jahre (1982 bis 1985) hinzog. Es wurde dabei der Versuch unternommen Verfassungskontrolle und Gewalteneinheit zusammen zu bringen. Praktisch bedeutete dies, dass das Verfassungsgericht zwar ein Gesetz des Sejm, des polnischen Parlaments, für verfassungswidrig erklären konnte, jedoch musste diese Entscheidung selbigem Parlament vorgelegt werden, welches mit einer Zweidrittelmehrheit das entsprechende Gesetz trotzdem aufrecht erhalten konnte.

Rechtsverordnungen konnten jedoch für ungültig erklärt werden, da dies nicht vom Parlament stammten.

Zwischen 1986 und 1989 hat sich das Polnisches Verfassungstribunal (Tribunal Konstytucyjny) mit 82 Fällen beschäftigt, davon bezogen sich die meisten jedoch auf Rechtsverordnungen.

Von der Stelle des 1988 eingerichteten Ombudsmann, quasi als Bürgerrechtsbeauftragtem, gingen zahlreiche Initiativen für Entscheidungen des Verfassungstribunal aus. Auch die Antragsberechtigung von Interessenverbänden führte zu einer Zunahme der behandelten Fälle.

Mit den demokratisch gewählten Regierungen nach dem totalen Zusammenbruch des Ostblocks hat sich die Rechtssprechung des polnischen Verfassungstribunals noch intensiviert.

Selten hat der Sejm Entscheidungen des Verfassungsgericht mit einer Zweidrittel Mehrheit überstimmt, und Regierungsvertreter gaben oft Fehler auf dem Weg der Transformation zu.

Mit der neuen Verfassung 1997 hat sich die Arbeit des Verfassungsgerichts vereinfacht, denn nun konnte das Gericht nur mehr nach der Verabschiedung eines Gesetzes aktiv werden, und nicht mehr während des Gesetzgebungsprozesses befragt werden. Die neue Verfassung lässt auch Verfassungsbeschwerden von Bürgern zu.

In seiner Beurteilung schreibt Brunner zur Entwicklung des polnischen Verfassungstribunals: „In qualitativer Hinsicht kann der Beitrag des polnischen Verfassungstribunals zur Entstehung des Rechtsstaats als beachtlich, nicht aber als revolutionär bezeichnet werden.“ (Brunner 1993: S.824)

2. Ungarn

In Ungarn wurde 1984 der Ungarische Verfassungsrat (Alkotmányjogi Tanács) geschaffen, der jedoch „eher einem besonderen parlamentarischen Ausschuss mit justitiellen Zügen“ (Brunner 1993: S.824) glich. Der Verfassungsrat hatte jedoch stark eingeschränkte Befugnisse, keine engagierten Mitglieder und folglich ein untaugliches Instrument, welches dann 1990 durch ein echtes Verfassungsgericht ersetzt wurde. Dem vorausgegangen war im Jahre zuvor eine totale Revision der Verfassung zu einer demokratisch-rechtsstaatlichen Ausrichtung.

Mit dem ungarischen Verfassungsgericht (Alkotmánybíróság), welches am 1.Januar 1990 seine Tätigkeit aufnahm, übernahm Ungarn nach dem Ende des Kalten Krieges „auf dem Gebiet der osteuropäischen Verfassungsgerichtsbarkeit eine Vorreiterrolle“ (Brunner 1993: S.827). Das besondere am ungarischen Verfassungsgericht ist, dass der Gesetzgeber jedem Individuum (Popularklage) den Zugang zu ihm eröffnet hat, um Rechtsnormen überprüfen zu lassen. Und die ungarische Bevölkerung hat dieses Instrument genutzt, denn schon in den ersten drei Jahren (1990-1992) war dies bei insgesamt 5.627 Fällen den ungefähr 4.500 Popularklagen zuzuschreiben. Auch wenn Zwei Drittel der Anträge mangels Zuständigkeit abgewiesen wurden, kann man nicht darüber hinwegsehen, dass das Gericht in dieser Zeit 573 Fälle entschieden hat. Als nicht verfassungskonform hob das Gericht dabei 152 Rechtsvorschriften ganz oder teilweise auf.

Brunner bezeichnet es als „gegenwärtig wohl als das mächtigste und aktivste Exemplar seiner Art in der ganzen Welt“ (Brunner 1993: S. 827). Dies lässt sich wohl darauf zurückführen, dass sich das Verfassungsgericht inhaltlich mit allen verfassungsrechtlichen Fragen der Zeit auseinander gesetzt hat. Es ergingen Urteile zu den grundlegenden Verfassungsprinzipien (Rechtsstaat, Demokratie, Marktwirtschaft), Zweifeln in der Staatsorganisation (im Bezug auf das parlamentarische Regierungssystem) und den Grundrechten. Der Versuch Urteile zu politischen Fragen zu vermeiden glückte überhaupt nicht, und damit beeinflusste das Tribunal die politische Praxis ziemlich. Brunner konstatiert, dass „das Verfassungsgericht in kürzester Zeit zu einem der Hauptakteure des ungarischen Verfassungslebens geworden ist, dessen Wirken durch die breite Öffentlichkeit aufmerksam beobachtet, heftig diskutiert, kritisiert und gelobt wird“ (Brunner 1993: S.828).

3. Russland

Im Frühjahr 1990 wurde noch in der Sowjetunion ein Komitee für Verfassungsaufsicht der UdSSR (Komitet konstitucionnogo nadzora SSSR) geschaffen. Es erreichte nie eine volle Besetzung, weil sich jedoch die baltischen Staaten der Mitarbeit verweigerten. Diese argumentierten, dass „eine wirksamer Verfassungskontrolle nur dann eine gute Sache ist, wenn die zu schützende Verfassung selbst gut ist“ (Brunner 1993: S. 825), und das war die letzte Sowjet-Verfassung ihrer Meinung nach überhaupt nicht. Das Komitee verfasste zwischen Mai 1990 und Oktober 1991 immerhin 20 Stellungnahmen, denen man das Ziel ansah einen grundsätzlichen Rechtsstaat zu schaffen. Doch wendete sich das Komitee in einem aussichtslosen Unterfangen gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Republiken, besonders der baltischen Staaten. Mangels Beachtung blieben diese Stellungnahmen jedoch ohne Wirkung.

Der erste Verfassungsgerichtshof (1991-1993)

Mit Anlaufschwierigkeiten wählte die Duma, dem Kongress der Volksdeputierten, Ende Oktober 1991 die Verfassungsrichter, jedoch aufgrund der polarisierten politischen Lage nur 13 statt der vorgesehenen 15 Verfassungsrichter. Alles andere als einfach müssen auch die Umstände gesehen werden, denn die Verfassung stammte noch aus dem Jahre 1977 beziehungsweise der von Totalitarismus geprägten Ära Breschnew und war im Folgenden „von zahlreichen, inkonsistenten Reformen zu einem Flickenteppich verkommen, in dem das Muster einer rechtsstaatlichen Demokratie nur schemenhaft erkennbar“ (Brunner 1993: S.830) war. Das neu geschaffene Russische Verfassungsgericht (Konstitucionnyj Sud) startete mit einem ehrgeizigen, doch streitbaren und politischen Präsidenten, namens Zorkin. Von großem Elan scheint die Arbeit des Verfassungsgerichts geprägt gewesen zu sein, denn die Entscheidungen entfachten große Konfrontation zwischen den verschiedenen Verfassungsorganen, insbesondere zwischen dem Parlament und dem Präsidenten. „Die sich in den ersten Entscheidungen des Verfassungsgerichts abzeichnenden Eigentümlichkeiten haben sich in der Folgzeit verschärft: judicial activisms, überzogenes Selbstbewusstsein, geringe juristische Qualität der Argumentation, politische Motivation des Ergebnisses, Überbetonung der sozialen Grundrechte als Hemmnis für die Wirtschaftsreformen und Bevorzugung des linkskonservativen, einer demokratischen Legitimierung entbehrenden Parlaments gegenüber dem reformorientierten, volksgewählten Staatspräsidenten“ (Brunner 1993: S.831). Das führte soweit, dass es zu einem Verfassungskampf kam zwischen Parlament und Präsident. Eine von Jelzin im Fernsehen verkündete Initiative, welche die Verfassungsrichter auf eigenen Initiative für verfassungswidrig erklärten – ohne sie im Wortlaut zu kennen, diente dabei als Basis für ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten. Die erforderliche Zweidrittel Mehrheit wurde knapp verfehlt. Zum Abschluss stellt Brunner im Jahre 1993 fest, dass somit „die russische Verfassungskrise um die Krise des russischen Verfassungsgerichts erweitert“ (Brunner 1993: S. 832) wurde.

Als problematisch stellte sich vor allem heraus, dass der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Zorkin, regelmäßig Pressekonferenzen abhielt, teilweise sich mit der anti-Jelzin Bewegung zu assoziieren schien und so zu einer unheimlichen Politisierung des Verfassungsgerichts beitrug. Es wird auch erwähnt, dass Zorkin wohl im Sinn hatte 1996 als Präsidentschaftskandidat anzutreten. Damit wären seine öffentlichen Auftritte als Vorwahlkampf wohl zu erklären, auch wenn er damit das Ansehen des Verfassungsgerichts schwer beschädigt und nötige Reformvorhaben des Präsidenten aus rein politischen und wohl nicht juristischen Gründen verhindert hat. Am 6.Oktober 1993 trat Zorkin nachdem ihm angedroht worden war, dass dafür zur Verantwortung gezogen würde, den Umsturzversuchen von Rutskoi und Khasbulatov einen rechtlichen Deckmantel gegeben zu haben. Kurze Zeit später suspendierte Jelzin des Verfassungsgericht.

Der zweite Verfassungsgerichtshof (1995-heute)

Ende 1993 wurde in einem Referendum eine neue russische Verfassung beschlossen. Zum Verfassungsgericht enthielt diese jedoch keine genauen Regularien, so dass diese Details in einem Verfassungsgerichtsgesetz festgelegt werden mussten. Es änderte sich einiges, unter anderem wurden die Mitglieder vom Präsidenten nominiert und der zweiten Kammer des Parlaments, dem Parlament der Russischen Föderation bestätigt oder abgelehnt.

Dem Gericht wurde das Privileg genommen die „oberste Körperschaft der verfassungsjuristischen Kontrolle“ (Schwartz 2000: S.145) zu sein. Das Initiativrecht wurde geändert, so dass das Gericht nicht mehr von sich aus aktiv werden kann. Parlamentarier können verfassungsrechtliche Fragen nach wie vor an das Gericht richten, doch nicht mehr als einzelne wie früher, sondern als Gruppe von mindestens 20 Prozent der Abgeordneten. Die verfassungsrechtliche Beurteilung über einen Parteiverbotsantrag wurde dem Gericht auch entzogen, um politischer Aktivität vorzubeugen wie es scheint. Des weiteren wurden Bürger und gesellschaftliche Verbände und Organisationen Gruppen von Bürgern ermächtigt sich mit Beschwerden an das Gericht zu wenden.

Erst Anfang Februar 1995 begann das Verfassungsgericht seine Arbeit wieder aufzunehmen. Zum neuen Vorsitzenden wurde Marat Baglai gewählt, der beschrieben wurde als jemand der am wenigsten politisiert, es jedem Recht machen und genau an die Regeln halten möchte (Schwartz 2000: S. 159). Doch kritisiert Schwartz, dass die russischen Verfassungsrichter weiter glauben sich zu politischen Fragen äußern zu müssen, und häufig Pressekonferenzen abhalten.

Die russischen Verfassungsrichter sind jedoch weiter abhängig von der Exekutive ihre finanzielle Ausstattung betreffend. Ungeliebte Richter können daher in Gefahr geraten, dass ihnen – wie der Fall Zorkin gezeigt hat – Privilegien, wie die Datscha oder der hohe medizinische Versorgungsanspruch als Strafmaßnahme entzogen wird.

Etwas überraschend scheint da die Äußerung des ehemaligen Ministerpräsidenten Tschernomyrdin über das russische Verfassungsgericht, der sagte, dass dem Gericht „vertraut wird, es wird in die Überlegungen miteinbezogen. Es ist einfach unmöglich sich das Leben des Staates und der Gesellschaft, und insbesondere das Rechtssystem in Russland, ohne“ [zitiert nach: Schwartz, 2000 #1: S.162f] vorzustellen. Frage bleibt da nur, ob dies nur politische Rhetorik oder wirklich ernst gemeint ist.

4. Bulgarien

Das bulgarische Verfassungsgericht (Konstitucionen sad) wirkte ab November 1991. Allerdings enthält die neue Verfassung vom selben Jahr die Verfassungsbeschwerde nicht. Eine nachträgliche Einführung wird von Brunner als äußerst schwierig eingeschätzt, da dies nur mit einer verfassungsändernden Mehrheit möglich wäre. Im ersten Jahr seiner Tätigkeit wurde das Gericht von der Klage der Sozialistischen Partei auf Verbot der „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ in einen politisch hochbrisanten Fall verwickelt. Diese Bewegung der türkischstämmigen muslimischen Minderheit sollte den Sozialisten nach verboten werden, weil ihre Existenz gegen die Verfassung verstieß, wonach Parteien auf „ethnischer oder konfessioneller Grundlage“ (Art. 11 Abs. 4) (Brunner 1993: S. 829) nicht zulässig sind.

[...]

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Überblick über die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Otto-Suhr-Institut)
Veranstaltung
"Global Rise of Judicial Review" - West- und osteuropäische Erfahrungen bei dem Aufbau der Verfassungsgerichtsbarkeit
Note
1,7
Autor
Jahr
2002
Seiten
17
Katalognummer
V57120
ISBN (eBook)
9783638516471
Dateigröße
454 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entwicklung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Osteuropa, Global, Rise, Judicial, Review, West-, Erfahrungen, Aufbau, Verfassungsgerichtsbarkeit
Arbeit zitieren
Dipl. Pol. Tobias Raschke (Autor:in), 2002, Überblick über die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57120

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