Offener Unterricht als Methode in Klassen mit mehrsprachigen Kindern


Examensarbeit, 2000

88 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhalt

0. Einleitung

1. Kinder unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit
1.1 Mehrsprachigkeit - Begriffsklärung
1.2 Modelle zum Erst- und Zweitspracherwerb
1.2.1 Spracherwerbsansätze
1.2.2 Der Kognitive Spracherwerbsansatz und die Entwicklung des Wortschatzes
1.2.3 Formen von Mehrsprachigkeit
1.2.4 Interdependenzhypothese
1.2.5 Psychosoziale Faktoren gelungener Mehrsprachigkeit
1.3 Relevanz der Beachtung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität
1.3.1 Exkurs: Kulturimperialismus, Kultureller Relativismus und Kultureller Interpopulismus
1.4 Statistische Informationen
1.5 Fazit Mehrsprachigkeit

2. Offener Unterricht
2.1 Begriffsklärung
2.2 Bausteine der Methode
2.2.1 Gesprächskreise
2.2.2 Wochenplanarbeit
2.2.3 Freie Arbeit
2.3 Ziele der Methode
2.3.1 Entdeckendes Lernen und die Erziehung zur Eigenverantwortung
2.3.2 Beachtung der kindlichen Persönlichkeit und Einbeziehung der Lern- und Lebenswelten
2.4 Die Aufgaben der Lehrkraft
2.4.1 Planen von Lernsituationen und Zulassen von eigenen Lösungswegen
2.4.2 Analysierende Begleitung - Zur Frage der Diagnostik
2.5 Der Klassenraum
2.6 Fazit Offener Unterricht

3. Schulpolitische Rahmenbedingungen
3.1 Richtlinien der Grundschulen
3.2 Vorgaben des Lehrplans
3.3 Die Beschulung von Kindern unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit
3.4 Fazit schulpolitische Rahmenbedingungen

4. Offener Unterricht in Klassen mit Kindern unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit
4.1 Der Gesprächskreis mit mehrsprachigen SchülerInnen
4.2 Die Wochenplanarbeit mit mehrsprachigen SchülerInnen
4.3 Die Freie Arbeit mit mehrsprachigen SchülerInnen
4.4 Vorüberlegungen der Lehrkraft - persönliche Grundeinstellung und Möglichkeiten

5. Offener Unterricht mit Kindern unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit anhand der fiktiven Grundschulklasse X
5.1 Vorstellung der Klasse
5.1.1 Klassenstruktur
5.1.2 Vorstellung der mehrsprachigen Kinder
5.2 Das Thema "Familie" im offenen Sachunterricht
5.2.1 Einführung des Projektthemas "Familie"
5.2.2 Das Thema "Familie" im offenen Sachunterricht der Klasse X
5.3 Relevanz der Muttersprache für den Unterricht
5.3.1 Mögliche muttersprachliche Lernhilfen
5.3.2 Einsatz muttersprachlicher Lernhilfen im Offenen Unterricht der Klasse X
5.4 Förderung der Bedeutungsentwicklung im Offenen Unterricht
5.5 Sprachliche Handlungsfähigkeit
5.6 Kulturelle Aspekte im Unterricht - Nutzung der Mehrkulturalität
5.6.1 Wir feiern das Opferfest (Kurban Bayrami)

6. Fazit, Beantwortung der Fragestellung und Ausblick der vorgelegten Arbeit

7. Literaturverzeichnis

0 . Einleitung

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Grundschullehrerin, die eine multikulturelle Klasse unterrichtete, in der viele Kinder sehr unterschiedliche, zum Teil geringe Deutschkenntnisse hatten. Die Lehrerin meinte, sie könnte unter diesen Umständen nicht vernünftig arbeiten. Ich fand, dass diese Aussage eine falsche Einstellung zu ihrer Aufgabe und zum Kind verriet, verstand aber andererseits, dass sie sich in dieser Situation überfordert fühlte und ihren Ansprüchen an ihren Unterricht nicht gerecht werden konnte. Sie plädierte dafür, die Kinder so lange auszusondern, bis sie vernünftig Deutsch sprachen, und berief sich dabei auf ein nicht näher bezeichnetes kanadisches Modell. Mir reichte das nicht aus.

Da ich selbst mit einem türkischen Muttersprachler verheiratet bin und unsere Kinder zwei- oder mehrsprachig aufwachsen sollen, fühle ich mich von der Thematik direkt betroffen. Als angehende Sonderschullehrerin werde ich auch im Beruf mit mehrsprachigen Kindern konfrontiert werden, die unterschiedliche Deutschkenntnisse, aber andere Kompetenzen haben. Die Aufgabe der Schulkinder ist nicht, mir oder anderen Lehrern einen Arbeitsplatz zu schaffen oder das Arbeiten leicht zu machen. Unsere Aufgabe als Pädagogen ist es, allen Kindern das Lernen zu ermöglichen. Es ist notwendig, nach einer Unterrichtsmethode zu suchen, die den Bedürfnissen der Kinder entspricht, anstatt die Kinder der Schule anpassen zu wollen.

Daher stellt die folgende Arbeit die Frage nach der Möglichkeit einer besseren Beschulung von mehrsprachigen Kindern, und behauptet zunächst, dass der Offene Unterricht als Methode für die Förderung von Kindern unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit besonders geeignet ist, da hier sowohl die Bedürfnisse der Kinder, als auch die Möglichkeiten der Lehrkraft besser beachtet und in den Unterricht eingebracht werden können. Grundlegend für die Thematik ist die Annahme, dass die Mehrsprachigkeit einzelner Kindern innerhalb einer Klasse nicht nur für diese selbst, sondern auch für alle anderen Kinder von Bedeutung ist und eine Chance zur Bereicherung des Unterrichts darstellt, die unbedingt genutzt werden sollte. Hierbei ist es von besonderer Wichtigkeit anzuerkennen, dass Mehrsprachigkeit untrennbar im Zusammenhang mit Mehrkulturalität auftritt (vgl. Luchtenberg 1995, 108f.). Die Forderung nach dem Angebot muttersprachlichen Unterrichts und Übergangsklassen für Kinder, die die Zielsprache Deutsch nicht ausreichend beherrschen, ist angesichts wissenschaftlicher Erkenntnisse berechtigt (vgl. Rehbein 1986. 104ff.). Dieses darf jedoch keinesfalls als Legitimation für die Lehrkraft verstanden werden, die Verantwortung für die individuelle Förderung von Kindern unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit abzugeben. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass auf diese Weise "eher das Trennende als das Gemeinsame betont" wird und die Zuständigkeit für die Förderung der Erst- und Zeitsprache verschiedenen Bereichen zugeordnet wird (vgl. Kracht/Welling 1995, 394).

Unter Punkt 1. soll zunächst in die Thematik von Kindern unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit und das Phänomen der Mehrsprachigkeit eingeführt und eingehend betrachtet werden. Es wird herausgestellt, dass es sich keinesfalls um ein modernes Phänomen handelt, ihm trotzallem aber heute besondere Aufmerksamkeit zugestanden werden sollte. Auch die Frage nach der Mehrkulturalität eines mehrsprachigen Kindes wird an dieser Stelle angesprochen. Neben der Relevanz, die Mehrsprachigkeit/Mehrkulturalität für mehrsprachige Kinder hat, wird hier auch ein weiterer wichtiger Punkt angesprochen: die Relevanz des Themas für die Kinder, die unter der Bedingung von Mehrkulturalität leben, ohne selbst mehrere Sprachen zu sprechen, denn auch "" einheimische " Kinder können Zweisprachigkeit und Kulturenvielfalt im Kontext einer multikulturellen Gesellschaft als Wert erfahren" (zit.Kracht/Schümann 1994, 286).

Unter 1.1 erfolgt zunächst der Versuch, anhand von bestehender Literatur, den Begriff Mehrsprachigkeit/Bilingualismus einzugrenzen, und eine Definition als für diese Arbeit grundlegend anzunehmen.

Darauf folgen unter 1.2 Modelle zum Erst- und Zweitspracherwerb, um u.a. in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der Erstsprache für den Erwerb der Zweitsprache zu betonen. Die Modelle des Zweitspracherwerbs werden unter 1.2.3 als Formen von Mehrsprachigkeit erläutert und untersucht. Hier wird sowohl auf die unterschiedlichen Erwerbstypen und die lebensweltliche Relevanz von Sprache, als auch auf die moderne Klassifizierungskategorie für mehrsprachige Kinder, die sogenannte Doppelte Halbsprachigkeit, eingegangen. Daran anschließend findet unter 1.2.4 der Versuch statt, die Interdependenz in der Entwicklung von Mutter- und Zweitsprache aufzuzeigen.

Unter 1.3 wird die Relevanz der Beachtung der Mehrkulturalität der Kinder untersucht. Es wird hierbei behauptet, dass Mehrsprachigkeit immer im Zusammenhang mit Mehrkulturalität in Erscheinung tritt, Mehrkulturalität aber auch für Kinder ohne Zweitsprachkompetenzen zutreffen kann, z.B. innerhalb binationaler Familien, die sich für eine mehrheitssprachige Erziehung entschieden haben. Die Auseinandersetzung mit der eigenen und anderen Kulturen, und die Frage nach der eigenen Bewertung ist für den Umgang mit Mehrkulturalität essentiell. Unter Punkt 1.3.1 folgt daher ein Exkurs über die verschiedenen Haltungen in Bezug auf die eigene und die fremde Kultur, wie sie im vergangenen Jahrhundert kulturanthropologisch diskutiert wurden, basierend auf einem an die Vereinten Nationen gerichteten Friedensvorschlag des japanischen Philosophen Daisaku Ikeda.

Abschließend sollen Statistische Informationen das Bild abrunden. Sie zeigen, dass Kinder nicht-deutscher Staatsangehörigkeit, für welche die Bedingung von Mehrsprachigkeit anzunehmen ist, in Schulen mit niedrigem Bildungsniveau überrepräsentiert sind.

Unter Punkt 2 wird der Offene Unterricht in die Diskussion eingebracht. Zunächst erfolgt eine begriffliche Eingrenzung. Unter 2.2 werden dann die Bausteine, aus denen sich der Offene Unterricht zusammensetzen kann, eingeführt. Darauf folgt unter 2.3 eine Diskussion der Ziele der Methode. Unter 2.4 werden die Aufgaben der Lehrkraft speziell im Offenen Unterricht vorgestellt. Zum Ende dieses Kapitels wird die Relevanz der Gestaltung des Klassenraumes angesprochen.

Unter Punkt 3. werden daraufhin die schulpolitischen Rahmenbedingungen diskutiert, die die Verwirklichung eines jeglichen Unterrichts determinieren. Es wird herausgestellt, inwieweit die Vorgaben und Richtlinien der Lehrpläne durch die Methode des Offenen Unterrichts zu verwirklichen sind. Zum Abschluss dieses Kapitels wird auch kurz die Beachtung mehrsprachiger Kinder und einer mehr-kulturellen Gesellschaft durch die Rahmenrichtlinien und Unterrichtsempfehlungen diskutiert.

Unter Punkt 4. werden dann die im Vohergehenden bereits erarbeiteteten Kategorien zu den Themen "Mehrsprachigkeit" und "Offener Unterricht" miteinander in Verbindung gesetzt, und der Offene Unterricht auf seine Anwendbarkeit als Unterrichtsmethode in Klassen unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit untersucht. Zur Verdeutlichung der sich bietenden Möglichkeiten erfolgt unter 5. der Versuch, die Möglichkeiten des Offenen Unterrichts als Methode in Klassen unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit anhand einer fiktiven Beispielklasse aufzuzeigen.

Zum Ende der Arbeit werden unter 6. die Ergebnisse diskutiert, die Fragestellung, ob der Offene Unterricht anhand der theoretischen Bearbeitung für die Unterrichtung von Klassen unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit geeigneter ist als andere Unterrichtsmethoden, beantwortet, und ein Ausblick auf weiterführende Untersuchungen gegeben.

1 . Kinder unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit

Das Leben von Menschen unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit ist eine gesellschaftliche Tatsache. Mehrsprachigkeit ist dabei kein Phänomen unserer Zeit (vgl. Kracht 2000, 52ff.), im Gegenteil ist es wohl eher die Regel als eine Ausnahme, dass Menschen ihr Leben unter zwei- oder mehrsprachigen Bedingungen gestalten (vgl. Rehbein 1986, 105). In der Literatur spricht man hier von lebensweltlicher Zwei- oder Mehrsprachigkeit (vgl. Gogolin 1988). Gleichsam aber scheint die Thematik noch nie so intensiv diskutiert worden zu sein, wie in den letzten Jahrzehnten. Dabei geht es zumeist um ein Abwägen der Vor- und Nachteile einer mehrsprachigen Erziehung und um den Verweis auf deren Risiken und Chancen, und schürt vielfach tiefsitzende Ängste bei den für die Kindererziehung verantwortlichen Erwachsenen (vgl. Kracht/Welling 1995, 368ff.).

In der Realität, einer Welt zunehmender Globalisierung, ist zu beobachten, dass die Lehrpläne aller Schularten und der Arbeitsmarkt Mehrsprachigkeit für wünschens- und förderungswürdig halten, "Mehrsprachigkeit stellt (...) einen besonderen Wert dar" (zit. Kracht/Welling 1995, 393). Allerdings scheint es sich hierbei nur um bestimmte Fremdsprachen zu handeln. Die natürlichen Kompetenzen vieler mehrsprachiger Kinder werden dabei nicht genutzt. An dieser Stelle tritt ein zweiter Aspekt in Erscheinung, die Frage nach der Kultur des Kindes. Seine Sprache als Teil und Trägerin seines kulturellen Erbes ist schwer gesondert zu betrachten.

Mehrsprachigkeit ist zwar ein gesellschafts-historischer Regelfall, aber dennoch nicht "natürlich", sondern immer in einer Situation begründet, die äußere Ursachen hat. Als solche gelten Migration der Eltern oder eines Elternteils, bzw. sozio-historische Hintergründe für die Nutzung zweier Sprachen innerhalb einer Region. Eine Sprache als Kommunikationsmittel zu entwickeln ist die natürliche Fähigkeit des Menschen, gleichsam ein Bedürfnis. Zwei oder mehrere Sprachen gleichzeitig zu entwickeln und zu beherrschen ist ebenso eine Fähigkeit des Menschen, jedoch soll hier betont werden, dass dieser Umstand immer mit den Gegebenheiten der Lebenswelt eines Menschen einhergeht.

In dieser Arbeit wird der Begriff Mehrsprachigkeit anstelle von Zweisprachigkeit verwendet, um so die Annahme hervorzuheben, dass die Lebenswelt von allen Kindern durch die zunehmende Verwirklichung einer multinationalen/ multikulturellen Gesellschaft, sowie durch die Präsenz von Fremdsprachen in den Medien und anderen Bereichen ohnehin von Mehrsprachigkeit geprägt ist. Denn "Die Annahme, für heutige Kinder sei eigentlich einsprachiges Aufwachsen der Normalfall, ist irrig - und zwar nicht nur für Kinder, die in Familien aufwachsen, in denen eine andere Sprache als das Deutsche gepflegt wird" (Dirim 1995, 70). Trotzdem können nicht alle Kinder grundsätzlich als mehrsprachig bezeichnet werden, da diese Art der Bedingung von Mehrsprachigkeit für ein in Deutschland aufwachsendes Kind aus einem deutschsprachigen Elternhaus vermutlich nicht die gleiche lebensweltliche Relevanz hat, wie für ein Kind, dessen Familiensprache mit der Landessprache nicht identisch ist.

Weiterhin wird in dieser Arbeit der Terminus "Kinder unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit" bevorzugt, da diese Kinder nicht alleine auf ihre Mehrsprachigkeit reduziert werden sollen; in erster Linie sind sie Menschen mit Sprache, die unter der Bedingung von mehrsprachig gestalteten Lebenswelten ihr Leben organisieren müssen. Auf diese Weise wird die Relevanz der Umwelt für das Erlernen und die Verwendung von Sprache betont. Damit wird nicht nur der Mehrsprachigkeit ein Wert beigemessen, sondern gleichfalls auch dem Menschen gegenüber Wertschätzung ausgedrückt. Gleichzeitig leben auch Kinder, deren Primärsozialisation bis zur Einschulung ausschließlich muttersprachlich orientiert ist, unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit ohne mehrsprachig zu sein. Der Begriff ausländisches Kind oder Gastarbeiterkind ist aus Gründen mangelnder Aktualität zu vermeiden. Da viele dieser Kinder bereits in Deutschland geboren sind oder in der zweiten und dritten Generation in Deutschland leben, kann man eigentlich nicht mehr von Ausländern, bzw. Gästen sprechen (vgl. Seifert 1988).

Um der Einfachheit willen wird in dieser Arbeit allerdings auch von "mehrsprachigen Kindern" gesprochen. Desweiteren wird in dieser Arbeit von der Mehrsprachigkeit nicht als von der in der Literatur vielzitierten "Problematik" gesprochen, sondern von dem "Phänomen" Mehrsprachigkeit.

1.1 Mehrsprachigkeit - Begriffsklärung

Für den Begriff der Mehrsprachigkeit, der im Folgenden mit dem in der Literatur verwendeten Begriff des Bilingualismus synonym verstanden werden soll, gibt es innerhalb der verschiedenen Fachgebiete keine einheitliche Definition. Ob ein Mensch mehrsprachig ist entscheidet sich folglich je nachdem, von welcher wissenschaftlichen Perspektive aus man diesen betrachtet. Auch unterscheidet sich das spezielle Interesse, welches die verschiedenen Fachgebiete mit der Erforschung des Phänomens Bilingualismus verfolgen:

"Die Linguistik interessiert sich für den Bilingualismus insoweit, als er für Veränderungen in einer Sprache als Erklärung herangezogen werden kann, denn die Sprache, nicht das Individuum, ist der eigentliche Gegenstand dieser Wissenschaft" (Mackey 1968, zit. nach Fthenakis et al. 1985, 15). Eine rein linguistische Perspektive auf das Phänomen Bilingualismus oder Mehrsprachigkeit führt die Beherrschung beider Sprachen, bzw. den Grad ihrer Beherrschung, als Klassifizierungsmaßstab für den Menschen an. Dabei reichen die in der Literatur zu findenden Definitionen von einem geringen Grad der Beherrschung beider Sprachen (vgl. MacNamara 1969, ebd.) bis hin zu einer gleichberechtigten, der Muttersprache gleichen Beherrschung beider Sprachen (vgl. Braun 1937; Bloomfield 1933, ebd.), als Kriterium für die Bestimmung eines bilingualen Menschen.

Die Psychologie "betrachtet den Bilingualismus als Einflußgröße auf geistige Prozesse" (Mackey 1968, ebd.), während die Psycholinguistik untersucht "wie und zu welchen Zwecken die Sprache verwendet wird" (zit. Skutnabb-Kangas 1975, ebd.). Innerhalb der letztgenannten Wissenschaft ist nicht der Grad der Beherrschung der Sprachen, d.h. die Sprachkompetenz, das maßgebende Kriterium, sondern die Funktion, die das Individuum seinen Sprachen beimisst.

"Die Pädagogik befaßt sich mit dem Bilingualismus im Zusammenhang mit schulischer Organisation und Unterrichtsmedien" (Mackey 1968, ebd.). Betrachtet man das Phänomen von einer modernen pädagogischen, bzw. sonderpädagogischen Perspektive aus, so steht als Merkmal der Mehrsprachigkeit nicht der Grad der Sprachbeherrschung im Vordergrund, sondern "die Frage nach dem Wert, den der Gebrauch mehrerer Sprachen (...) in alltäglichen Lebensituationen erlangt hat" (Kracht/ Welling 1995, 77f.). Menschen gelten sonderpädagogisch demnach dann als mehrsprachig, wenn "Erst- und Zweitsprache lebensweltlich (das heißt in ihrem Alltag) von hoher Bedeutung sind" (Kracht/ Welling 1995, 77f.). Somit ähnelt die moderne pädagogische Perspektive der von Skutnabb-Kangas angeführten psycholinguistischen Betrachtungsweise des Gebrauches mehrerer Sprachen (s.o.). Die Pädagogik aber darf sich nicht mit der Untersuchung von Sprachgewohnheiten und lebensweltlicher Relevanz von Sprachgebrauch allein zufriedengeben, sondern muss diese im Hinblick auf eine pädagogische Förderung eines individuellen Kindes auswerten und die Informationen nutzen. Diese letztgenannte Perspektive soll in dieser Arbeit als grundlegende Definition des Begriffes Mehrsprachigkeit gelten.

1.2 Modelle zum Erst- und Zweitspracherwerb

Es kann davon ausgegangen werden, dass der Erstspracherwerb für den Zweitspracherwerb von Bedeutung ist (vgl. Fthenakis 1985, 23ff.). In der Literatur wird dieser Punkt häufig im Zusammenhang mit der Interdependenzhypothese berücksichtigt. In der praktischen Umsetzung in Schule und Gesellschaft scheint es aber an dem Verständnis des Zusammenhangs zwischen dem Erwerb der Zweitsprache und dem Mutterspracherwerb zu mangeln. Dieser Verständnismangels birgt die Gefahr, das Kind von einer deutschsprachigen Perspektive aus auf seine Mehrsprachigkeit zu reduzieren, und der Erstsprache dadurch nicht den nötigen Respekt zukommen zu lassen.

Die Annahme von Theorien zum Erstspracherwerb ist für diese Arbeit insofern entscheidend, als dass es ohne Erstspracherwerb keinen Zweitspracherwerb geben kann. Die Bedeutung dieses Zusammenhangs wird später in der Erklärung der Modelle zum Erwerb von Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit noch genauer erläutert werden. Gleichfalls ist es wichtig, mehrsprachige Kinder nicht dadurch, dass die Reflektion über den Erstspracherwerb ausgeklammert wird, nur auf ihre Mehrsprachigkeit zu reduzieren und zu pathologisieren (siehe Doppelte Halbsprachigkeit). Der Wert, der einer bis zu einem bestimmten Grad und Zeitpunkt vollzogenen einsprachigen Entwicklung zugestanden wird, kann sich auf die Situation der Förderung eines mehrsprachigen Kindes auswirken. So kann ein Kind, welches sich vom Pädagogen in seiner muttersprachlichen Entwicklung angenommen fühlt, sich als kompetent und ganz erleben, statt sich auf ein Versagen in der Zweitsprache beschränkt zu fühlen.

Theorien zum Erstspracherwerb sind auch insofern von Wichtigkeit, als dass die Annahmen, die ein Pädagoge über den Erstspracherwerb hat, ebenfalls die Annahmen zum Zweitspracherwerb beeinflussen können.

Zunächst aber sollen hier die in der Wissenschaft gängigen Ansätze und Theorien zum Erstspracherwerb dargestellt werden. Dabei handelt es sich um eine entstehungsgeschichtlich-zeitliche Abfolge der Erwerbsansätze. Im Anschluss daran soll der kognitivistische Ansatz hier anhand der Entwicklung von Wortbedeutungen, im Hinblick auf den weiteren Verlauf der Arbeit, genauer aufgezeigt werden. Zwar hat Piaget, als Vertreter des kognitivistischen Ansatzes, selbst keine größere Arbeit verfasst, die sich explizit mit der Entwicklung der Wortbedeutung befasst. Jedoch hat er zu einer Weiterentwicklung der Fragestellung und ihrer Beantwortung enorm beigetragen, in dem er psychologisch beschrieben hat, "was Bedeutung sein könnte, wie sie beim Kind entsteht und daß die Entwicklung der Bedeutung von Wörtern nicht als isoliertes Problem, sondern als Teil der gesamten psychischen Entwicklung des Kindes gesehen wird" (Szagun 1983, 100).

1.2.1 Spracherwerbsansätze

Der behavioristische Spracherwerbsansatz, auch Empirismus, vertreten durch z.B. Skinner und Thorndike, geht von der Grundannahme aus, dass für den Spracherwerb keine angeborenen Fähigkeiten des Menschen notwendig sind, sondern Sprache, wie jedes andere Verhalten auch, erlernt ist. Das lernende Kind imitiert dabei das Sprachverhalten seiner erwachsenen Bezugsperson, dieses Verhalten wird positiv, durch Belohnung, verstärkt oder unterbunden, und gibt dem Kind so die Möglichkeit, seine eigenen Laute immer mehr an das Lautsystem der Umwelt anzugleichen (vgl. Oksaar 1977, 142). Der Behaviorismus war in der Spracherwerbsforschung etwa bis Mitte der 60er Jahre dominant, wurde dann durch den Nativismus ersetzt und spielt heute keine Rolle mehr.

Der wohl bekannteste Vertreter des Nativismus' ist Noam Chomsky. Chomsky geht davon aus, dass der Mensch ein angeborenes, rein sprachliches Wissen besitzt, aus dem sich die Sprache entwickelt. Dieses sprachliche Wissen und die Entwicklung der Sprache sind ausschließlich sprachlich und somit unabhängig von der Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Chomskys Theorie der 60er und 70er Jahre zufolge geht ein Kind, welches seine Muttersprache erlernt, ähnlich vor wie ein Linguist, der eine unbekannte Sprache untersucht. Hierbei bezieht er sich ausschließlich auf den Erwerb der Grammatik einer Sprache. Angeboren sind dem Kind dabei ein Hypothesenbildungsverfahren, sprachliche Universalien und ein Hypothesenprüfverfahren, welches Chomsky "Language Acquisition Device" (LAD) nennt. Anhand dieser prüft das Kind den "Corpus", d.h. das Angebot der Muttersprache in seiner Umgebung nach Regelhaftigkeiten, bildet Hypothesen, prüft diese und bildet ggf. neue. Die Sprachlichen Universalien sind dabei das Wissen darum, woraus sich Sprache grundsätzlich konstruieren kann, d.h. welche Sprachlaute und grammatischen Kategorien gebildet werden können. Die Prädisposition des Kindes liegt darin, diese Kategorien innerhalb jeder Sprache herauszufinden. Die Begründung für diese Annahmen sieht Chomsky darin, dass die Sprache, die das Kind aus der Umgebung erfährt, unvollkommen und oft fehlerhaft ist. Dass Menschen sich aber trotzdem die Grammatik ihrer Sprache vollständig aneignen, sieht Chomsky als Zeichen für das Vorhandensein solcher Prädispositionen.

In seinen Arbeiten der 80er Jahre verstärkt Chomsky die Betonung der angeborenen Universalien noch. Der Mensch verfüge über eine universelle Grammatik, bestehend aus in allen Sprachen gültigen Prinzipien, die als Parameter in einer festen Anzahl angeboren sind und aus denen der Erstsprachlerner optional unter Einbezug der Umgebungssprache auswählt. Ein weiterer Vertreter des Nativismus, Eric Lenneberg, hält hirnphysiologische Reifungsprozesse des Zentralnervensystems für analog zum Spracherwerb. So entwickelt das Kind durch Reifung einen Zustand der Sprachbereitschaft. Dieser ist ein Stadium, welches mit dem zweiten Lebensjahr beginnt und in der Pubertät mit dem Abschluss des zerebralen Wachstums aufhört.

Als Vertreter der Konvergenztheorie vertrat Stern schon 1914 in seiner Veröffentlichung "Psychologie der frühen Kindheit" die Auffassung, dass sowohl angeborene als auch erworbene Strukturen zum Spracherwerb führen.

Der Interaktionistische Ansatz geht davon aus, dass vorsprachliche Kommunikation und Interaktion zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson entscheidend für den Spracherwerb sind. Dabei sind es die Bewegungshandlungen, die die früheste Form der Kommunikation darstellen. Die Eltern bewerten und beantworten das Verhalten ihres Kindes als intentional und ritualisieren dadurch sprachbegleitete Handlungen, die das Kind als kommunikativ und sozial bedeutungsvoll erfährt. Bruner erkennt in den vorsprachlichen kommunikativen Mustern Vorläufer grammatischer Strukturen (vgl. Szagun 1993, 221ff.). So seien die wechselseitig austauschbaren Rollenspielrituale, wie z.B. "Geben-Nehmen" oder "Guck-guck-da", Vorläufer für die spätere sprachliche Verwendung von Kasuskategorien. Auch die Frage nach der Kultur des Kindes spielt im Interaktionistischen Spracherwerbsansatz nach Bruner eine Rolle: die Kultur enthält alle möglichen Denk- und Verhaltensweisen auf den verschiedenen motorischen, sozialen, kognitiven, affektiven und sprachlichen Ebenen. Diese werden durch Interaktion mit der Bezugsperson schon auf der vorsprachlichen Ebene erlernt (vgl. Bruner 1987, 16ff.). Die Auseinandersetzung mit diesem Ansatz ist daher auch in Bezug auf den Unterricht mit Kindern unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit relevant.

1.2.2 Der Kognitive Spracherwerbsansatz und die Entwicklung des Wortschatzes

Kognitive Sprachentwicklungsansätze gehen davon aus, dass die Sprache ein Teil einer kognitiven Struktur ist, und damit im Zusammenhang mit der gesamten Entwicklung eines Menschen steht. Die Kognition beschreibt hier die fortlaufende Auseinandersetzung eines Individuums mit der Umwelt, das Erkennen der Welt. Im Sinne des Psychologen Piagets vollzieht sich dieses Erkennen anhand der Möglichkeiten, die ein Mensch besitzt. Ein Säugling kommt mit bestimmten lebenserhaltenden Funktionen zur Welt, welche gleichzeitig die Grundlage für die Erweiterung seines Erkennens bilden. Piaget bezeichnet diese Funktionen als Pläne oder Reflexe (vgl. Szagun 1993, 99ff.).

Durch den Einsatz von Saug-, Greif-, und Sehplan stimuliert sich der Säugling selbst, hält diese Stimulation in Form von Kreishandlungen aufrecht, so dass es später zu einer Integration der Pläne kommen kann. Das Kind organisiert, d.h. es eignet sich seine Umwelt an und passt sich ihr an, was Piaget als Assimilation und Akkomodation bezeichnet. Das Kind erfährt und nimmt seine Umwelt mit den Möglichkeiten war, die ihm zur Verfügung stehen. Jede neue Erfahrung, die es macht, erweitert seinen Wahrnehmungsbereich, und bietet ihm neue Möglichkeiten der aktiven Aneignung der Umwelt, bzw. der aktiven Anpassung an die Umwelt. Es handelt sich bei diesen Aneignungsprozessen um eine Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Anpassung und Organisation, bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung der Möglichkeiten.

Nach Piaget ist die Entwicklung eines Kindes phasenweise beobachtbar. Er unterscheidet hier vier Entwicklungsstufen, die hierarchisch zu einander stehen, so dass ein Kind erst eine Phase erfolgreich vollzogen haben muss, um die nächsthöhere zu erreichen (vgl. Piaget 1974, in Szagun 1993). Piaget zufolge ist das Denken das Hauptinstrument menschlichen Erkennens. Im Laufe der kindlichen Entwicklung wird das Denken durch die gemachten Erfahrungen immer logischer und löst sich irgendwann vom unmittelbar Wahrnehmbaren (vgl. Szagun 1993). Das Kind beginnt mit Repräsentationsmitteln seinen inneren Zustand nach Außen sichtbar zu machen, und benutzt dabei non- und prä-verbale Möglichkeiten, später sprachliche. Sprache ist damit für Piaget eine kognitive Funktion, die den Mensch zu einem zunehmend sozialen Wesen macht.

Die Sprache in ihrer Symbolfunktion unterstützt das Denken als Repräsentationsmittel, verursacht das Denken aber nicht, sondern befähigt den Menschen, sich über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg Realitäten geistig präsent zu machen. Die Sprache erfüllt ihre Symbolfunktion als Weiterführung konkreten Handelns mit anderen Mitteln. Die Voraussetzungen befinden sich in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt.

Gisela Szagun (1983) unterscheidet zwischen den Termini Begriff, Wort und Bedeutung. Der Terminus Begriff stellt Szagun zufolge das gesamte Wissen eines Menschen über einen Gegenstand dar, welches als "relativ stabiles geistiges Reaktionsmuster im Bewußtsein eines individuellen Menschen" vorhanden ist (vgl. Szagun 1983, 214). Ein Wort hingegen ist ein Symbol, welches einen Begriff klanglich, bzw. in der Gehörlosensprache durch eine Gebärde, beschreibt. Dieses Wort wird durch Nachahmung erworben, der Begriff aber ist ein Ergebnis der individuellen Erfahrung. Die Wortbedeutung ist demzufolge die Beziehung des Begriffes zu dem ihn symbolisierenden Wort. "Das Wort hat sowohl in seiner gesprochenen wie in seiner geschriebenen Form auch eine äußere, sozusagen objektivierte Realität. Der Begriff als psychische Erkenntnisstruktur hat das nicht. Die Verbindung des Begriffs mit dem Wortsymbol macht ihn für das Subjekt leichter verfügbar und auch anderen Menschen mitteilbar." (vgl. Szagun 1983, 216). Der Begriff ist also die verinnerlichte Außenwelt eines Menschen; das, was erkannt wurde, wird in einer inneren Struktur repräsentiert. Das Wort schafft die Verbindung eines Menschen zu den anderen Menschen, es ist das Medium, mit dem ein Mensch das, was in und um ihn herum vorgeht, mitteilen kann. Die Wortbedeutung ist dabei quasi der Schlüssel, mit dem die Botschaften codiert und decodiert werden. Hierbei ist es wichtig zu verstehen, dass Worte unterschiedliche Begriffe bedeuten können, oder kontextabhängig nur Teilaspekte eines mit einen Wort codierten Begriffes bedeuten, bzw. im Kommunikationspartner als Assoziation aktivieren können.

Kinder erwerben ihren Wortschatz durch Nachahmung des Angebotes Erwachsener. Die Erkenntnisstrukturen, die ihnen erlauben, ein Wort einem Begriff zu zuordnen, entsprechen allerdings nicht denen Erwachsener. Demzufolge bedeuten die selben Wörter nicht zwangsläufig die selben Begriffe.

Ein Kind bildet sich zunächst Begriffe über die sinnlich erfahrbare Umwelt. Gegenstände werden mit den Merkmalen assoziiert, die ihre Tätigkeit, bzw. den handelnden Umgang des Kindes mit ihm beschreiben. Das Kind erfährt diese äußeren Einflüsse, und erhält durch die Begleitung eines Erwachsenen vielleicht ein Symbol (Wort, Gebärde) dafür. Diese ersten Begriffe sind sehr offen, alle anderen Gegenstände mit dem gleichen assoziierten Merkmal können darunter verstanden werden; z.B. kann alles, was rund ist und rollt als Ball bezeichnet werden. Rund und rollend bedeutet Ball, Ball bedeutet ein rundes, rollendes Ding. Dieses Wissen wird im Laufe der Erfahrungen spezifiziert und verfeinert. So ist eine Orange kein Ball, obwohl sie rund ist und rollen kann. Hinzu kommt hier das Merkmal der Essbarkeit.

Ein Ball kann aber ebenfalls andere Merkmale haben, z.B. kann er groß oder klein sein und verschiedene Farben haben. Szagun spricht hierbei von Begriffsnetzen, die ein Kind ausbildet: "Der Begriff ist ein Netz einzelner Wissenselemente, die man auch Begriffsmerkmale nennen kann. Die Merkmale sind assoziativ verbunden." (zit. Szagun 1983, 246). Jedes gefestigte Wissen, jede Erfahrung, die ein Mensch um einen Begriff herum macht, ist Bestandteil dieses Netzes. Dieses können beobachtbare beständige Merkmale oder Zustandveränderungen, biologisches Wissen oder assoziative Merkmale sein. Das Wissen um die Welt, um einzelne Dinge, das durch Erfahrungen entstanden ist, differenziert sich mit jeder neuen Erfahrung. Das Wissen wird koordiniert und integriert, so das die Welt mit der Zeit an zusammenhängenden Bedeutungen gewinnt.

1.2.3 Formen von Mehrsprachigkeit

In der Betrachtung der Mehrsprachigkeit eines Kindes ist es von Wichtigkeit, die unterschiedlichen Bedingungen ihrer Entwicklung zu berücksichtigen. Hierbei ist es möglich eine Abgrenzung vorzunehmen zwischen dem bilingualen Erstspracherwerb, dem Erwerb quasi zweier Muttersprachen von Geburt an, dem Zweisprachen- und dem Zweitsprachenerwerb, wobei die jeweilige Eingrenzung von zwei auf mehrere Sprachen erweitert werden kann (vgl. Kracht 1999).

Der Erwerb zweier Muttersprachen ist oft zu beobachten in binationalen Partnerschaften und wird gekennzeichnet durch das Prinzip, dass jeweils einer Hauptbezugsperson eine Sprache zugeordnet wird.

Für den Zweisprachenerwerb ist signifikant, dass zwar von Geburt an gleichzeitig zwei Sprachen erlernt werden, die eine dabei aber Schwerpunktmäßig als Familiensprache verwendetet wird, der Kontakt mit der anderen Sprache als Sprache der Majorität außerhalb der Familie in der Gesellschaft stattfindet. Dieser Kontakt kann durch den alltäglichen Umgang der Eltern mit der Außenwelt erfolgen oder von dem Kind direkt als lebensweltlich relevant, z.B. im Kindergarten, erlebt werden. Grundsätzlich grenzt sich dieser Erwerbstyp von dem Zweitsprachenerwerb dadurch ab, dass der Erwerb zu einem Zeitpunkt beginnt, in dem der Erwerb der Muttersprache noch nicht abgeschlossen ist.

Der Zweitsprachenerwerb beginnt dagegen zu einem Zeitpunkt, in dem der Erwerb der Muttersprache schon in den Grundzügen abgeschlossen ist. Dieses findet beispielsweise bei später Zuwanderung oder bei Kindern, die in einem guten sozialen Netz der nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehörenden Sprachgemeinschaft aufwachsen, bei Eintritt in die Schulpflicht statt.

Bei allen drei Erwerbstypen ist die lebensweltliche Relevanz für das Kind als Motivation für den natürlichen, d.h. ungelenkten Erwerb mehrerer Sprachen hervorzuheben, bezeichnet mit dem Begriff der Lebensweltlichen Mehrsprachigkeit (vgl. Gogolin 1988, 19ff.). Hier wird der Spracherwerb noch einmal als ein Gebrauchswert betont, der durch Erfahrungen im Umgang mit der Welt erfolgt.

Grundsätzlich abzugrenzen ist davon der Erwerb einer Fremdsprache, da dieses in einer künstlich-geschaffenen Situation stattfindet, und meistens keine einschneidende Relevanz für die Gestaltung des Alltags des Lerners besitzt.

Zu den theoretischen Ansätzen zum Zweitspracherwerb lassen sich im Groben vier Hypothesen unterscheiden (vgl. Kracht/Welling 1995, 379ff.). Die Kontrastivhypothese führt Erwerbsprobleme bei kindlicher Zweisprachigkeit auf die sprachstrukturellen Unterschiede der beiden Zielsprachen zurück. Hierbei überträgt das Kind die Strukturen seiner Muttersprache auf die Zweitsprache, es kommt zwangsläufig zu sogenannten negativen Übertragungen oder Interferenzen. Demnach könnte Zweitspracherwerb nur bei ähnlich strukturierten Sprachen erfolgreich sein. Da die Grundannahmen dieser Hypothese aber eine hochsprachliche Standartsprache ist, wird sie der kindlichen Erwerbsleistung nicht gerecht. Seit den 70er Jahren gilt die Kontrastivhypothese in ihrer starken Version als widerlegt (vgl. Kracht/Welling 1995, 380).

Die Identitätshypothese beruht auf der Annahme "daß Erst- und Zweitspracherwerb grundsätzlich auf den gleichen psycholinguistischen Prozessen und Strategien beruht" (zit. Kracht/Welling 1995, 382). Im Hintergrund dieser Annahme steht der nativistische Spracherwerbsansatz. Auch diese Hypothese wird heute in ihrer starken Version nicht mehr vertreten, da sich die Identität der Erwerbsprozesse der Erst- und Zweitsprache in neueren Forschungsergebnissen nicht wiedergespiegelt hat.

Als drittes Sprachsystem neben den Zielstrukturen der Erst- und Zweitsprache ist nach der Interlanguagehypothese die Lernersprache zu verstehen. Die Lernersprache selbst wird hierbei Bezugspunkt. Bei dieser Annahme gibt es weder falsche noch richtige Sprachstrukturen, sondern eigendynamische Spracherwerbsprozesse. Auch entwicklungspsychologische und psychosoziale Faktoren müssen als Variablen des Spracherwerbsprozesses berücksichtigt werden.

Die Interdependenzhypothese als vierte Form der Unterscheidung der theoretischen Ansätze beschreibt ein abhängiges Verhältnis zwischen der Entwicklung von Erst- und Zweitsprache, und wird im Anschluss an dieses Kapitel gesondert behandelt werden.

Für den natürlichen Zweitspracherwerb scheint "das Alter (des Lerners) eine wesentlich bessere Vorhersage zu erlauben als die Aufenthaltsdauer im " Gast " land" (zit. Seifert 1988, 24). So haben verschiedene Untersuchungen (vgl. Seifert 1988, 24) ergeben, dass "sechs- bis fünfzehnjährige Mittelschichtskinder", d. h. Kinder, bei denen der Erwerb der Muttersprache als abgeschlossen bezeichnet werden darf, "die einer verwandt, bzw. gleichwertig eingeschätzten Kultur angehören, eine Zweitsprache innerhalb ihres ersten Jahres im anderen Land fast vollständig erwerben" (zit. Seifert 1988, 24). Dabei werden zwei Punkte aufgezeigt, die im Folgenden genauer untersucht werden sollen: die Frage nach der Interdependenz von Mutter- und Zweitsprache (s. 1.2.4), sowie die Relevanz von psychosozialen Faktoren für den Spracherwerb.

Im Anschluss daran soll der Begriff der Doppelten Halbsprachigkeit, auch Semilingualismus, hier nicht unerwähnt bleiben, da er im Zusammenhang mit dem Phänomen Mehrsprachigkeit immer wieder in der Literatur erwähnt wird. Dieser 1968 von Hansegard erstmals beschriebene Begriff ist nicht unumstritten. Er impliziert etwas Defizitäres beim Kinde und dient einzig der Kategorisierung, wobei er weder der speziellen Problematik, noch der individuellen Situation des Kindes gerecht wird (vgl. Kracht/Welling 1995, 375ff.). Die Doppelte Halbsprachigkeit bezieht sich auf Kinder, die weder in ihrer Mutter- noch in der Zweitsprache ein, gemessen am monolingualen Erstspracherwerb, normgemäßes Sprachniveau erreicht haben, welches nötig ist, um ihr Leben unauffällig zu gestalten und den steigenden akademischen Anforderungen ab Schulbeginn zu genügen (vgl. Stölting et al. 1980; Rehbein 1987). Als ein Merkmal der Doppelten Halbsprachigkeit wird die fehlende Trennungsfähigkeit der mehrsprachigen Kinder genannt, da oft eine "Überkreuzbeeinflussung der Sprachen (...) im Bereich von Redewendungen und festen sprachlichen Formeln" stattfindet (Rehbein 1986, 109); die Trennungsfähigkeit ist bei früher Mehrsprachigkeit schon ab dem fünften Lebenshalbjahr gegeben. Begründet wird die Entstehung der Doppelten Halbsprachigkeit damit, dass die Kompetenzen der Kinder in ihrer Muttersprache bei Schuleintritt unberücksichtigt bleiben, während der weitere Bildungsverlauf in der Zweitsprache auf einem noch nicht ereichten Sprachniveau ansetzt (vgl. Seifert 1988, 22f.; Rehbein 1986, 108). Als Ideal hinter der Annahme der Doppelten Halbsprachigkeit steht ein doppelter Monolingualismus, wie er in der linguistischen Eingrenzung des Begriffes Bilingualismus vertreten wird (s. 1.1). Diese Annahme geht allerdings an der Realität vorbei: "Soziolinguistische und psycholinguistische Studien zeigen recht deutlich, daß es aufgrund der unterschiedlichen Bedeutung der Sprachen im jeweiligen Lebenskontext prinzipiell nicht zu einer Ausbildung der Sprachkompetenzen im Gleichschritt kommen kann" (Kracht 2000, 135).

Der Ansatz der Lebensweltlichen Relevanz für den Spracherwerb von Kindern, soll in dieser Arbeit als hervorgehoben gelten. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung individuell zu untersuchen, welchen Wert die eine oder andere Sprache für ein Kind selbst und auch innerhalb der Familie oder Gemeinschaft hat.

1.2.4 Interdependenzhypothese

Die "Hypothese von der Interdependenz der Entwicklung" wurde erstmals von Cummins (1979, zit. Fthenakis et al. 1985, 49) entwickelt. Diese formuliert zum Einen den Zusammenhang der Entwicklung von Erst- und Zweitsprache eines Kindes (Interdependenz von Erst- und Zweitsprache), zum Anderen eine Beziehung zwischen der sprachlichen und der kognitiven Entwicklung (Schwellenniveauhypothese). Das Kompetenzniveau in der Zweitsprache sei "zum Teil als Funktion der Muttersprachenbeherrschung zum Zeitpunkt beginnender intensiver Beschäftigung mit der Zweitsprache anzusehen" (zit. Fthenakis et al. 1985, 49). Die Hypothese wurde entwickelt, um die Unterschiedlichkeit der Untersuchungsergebnisse verschiedener Studienprogramme darzustellen, die die Rolle der muttersprachlichen Förderung mehrsprachiger Kinder in Bezug auf die Schulleistungen aufzeigen sollten (vgl. Fthenakis et al. 1985, 25ff.). Die Ergebnisse veranlassten Cummins zu der Annahme, dass ein hohes sprachliches Kompetenzniveau in der Muttersprache ebenso zu guten Kompetenzen in der Zweitsprache führe. Die Muttersprache sei hier sozusagen der Wegbereiter für die Zweitsprache (vgl. Kracht 2000, 172). Geringe oder nicht ausgereifte muttersprachliche Kompetenzen jedoch führten bei starker schulischer Förderung in der Zweitsprache zu einer weiteren Regression der Muttersprache, und infolgedessen auch der Zweitsprache (vgl. Fthenakis et al. 1985, 49).

Ein niedriges Kompetenzniveau in beiden Sprachen jedoch führt zu negativen kognitiven Auswirkungen, welche sich wiederum auf die sprachliche Entwicklung auswirken. "Anfänglich eingeschränkte kognitiv-akademische Sprachfähigkeit führt zu deren fortlaufender Einschränkung, indem sie die Bedingungen ihrer eigenen Förderung begrenzt." (zit. Fthenakis et al. 1985, 55). Es entstehe ein Teufelskreislauf, in dem sich die niedrigen Kompetenzen in geringen Schulleistungen manifestieren. "Dieser Sachverhalt führt dann zu Erscheinungen der sogenannten " doppelten Halbsprachigkeit "" (Rehbein 1986, 108). "Mit anderen Worten heißt dies, daß die simultane und zeitlich nur geringfügig verschobene Vermittlung zweier verschiedener sprachlicher Systeme zu erheblichen Lernbehinderungen führt" (Kolcu-Zengin 1991, 6).

Es zeigt sich jedoch, dass eine kontinuierliche Förderung der Muttersprache im vorschulischen und schulischen Bereich die gleichen positiven Effekte auf die Entwicklung der Kinder hat, wie eine beginnende intensive Förderung in der Muttersprache, mit darauf folgender teilweiser Vernachlässigung dieser (vgl. Fthenakis et.al. 1985, 35ff.). Die Rolle der muttersprachlichen Entwicklung auf die Entwicklung von Zweitsprache und akademischer Fertigkeiten muss also im schulischen Zusammenhang aufgezeigt und berücksichtigt werden.

1.2.5 Psychosoziale Faktoren von Mehrsprachigkeit

Als psychosozial werden jene Faktoren bezeichnet, welche "durch soziale Gegebenheiten (Sprache, Kultur, Gesellschaft u.a.) bedingt" sind (Brockhaus 1997, Bd.17). Die Lebenssituation unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit bedeutet für den Menschen "eine spezifische Krisen- bzw. Streßsituation" (zit. Firat 1991, 93). Für Kinder immigrierter Eltern bedeutet dieses, dass sie nicht nur durch ihre eigenen Erfahrungen Einstellungen zur Umwelt kreieren, sondern auch durch das Erleben der Eltern vorbelastet werden.

Es wird angenommen, dass Unterschiede in der Beherrschung des Deutschen bei Kindern unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit auf psychosoziale Faktoren zurückzuführen sein können (vgl. Seifert 1988, 37ff.). Diese Faktoren können aber nicht uneingeschränkt in einen kausalen Zusammenhang mit dem Spracherwerb gestellt werden, denn "der individuelle Unterschied in der Wahrnehmung, Attribution und Verarbeitung der migrationsbedingten Konfliktsituation bedeutet folgerichtig, daß durch die Arbeitsaufnahme in der BRD nicht jeder Ausländer mit gleicher Intensität belastet, entlastet oder krank bzw. gesund ist" (zit. Firat 1991, 93f.). Psychosoziale Faktoren sind z.B. (Un)-Zufriedenheit mit dem Arbeitsplatz, Wertekonflikte, Wohnraum, Rechtsstatus, Klima, Schule, Heimweh (vgl. Firat 1991, 93f.). Durch den individuellen Unterschied der Wahrnehmung dieser Faktoren ist eine Verallgemeinerung der Auswirkungen auf die Verfassung eines Menschen nicht möglich, sie muss aber in individuellen Fällen als entwicklungsrelevant Beachtung finden. Das Kind erlebt diese Faktoren nicht nur selbst, sondern ist gleichfalls über das Erleben der Eltern, d.h. eine Konfliktsituation der Eltern überträgt sich auf die psychosoziale Verfassung des Kindes. "Die Migrationserfahrung der Eltern ist eine wesentliche Bedingung in der Biographie des Kindes" (Kracht 2000, 322). Das Erleben der Eltern in der Majoritätsgesellschaft, ihr Kontakt zu den Mitmenschen, das Erleben von Ausländerfeindlichkeit, ihr Verhältnis zur Sprache und auch ihre Zukunftspläne, die voraussichtliche Verweildauer im "Gastland"; alldies spielt eine Rolle für die Entwicklung der Einstellung des Kindes zur Umwelt und seiner Rolle in ihr.

Erfährt das Kind die Majoritätssprache als ihm aufgezwungen, z.B. weil es von den Eltern aus Sorge um sein Vorankommen im "Gastland" dazu aufgefordert wird, diese Sprache auch zu Hause zu sprechen (vgl. Kracht 2000, 332ff.) oder seinen Kompetenzen in der Muttersprache z.B. im Kindergarten von der Erzieherin kein Wert zugestanden wird, kann das Kind sich und seine Fähigkeiten nicht mehr als kompetent und frei erfahren (vgl. Kracht 1996, 362). Die Folgen daraus können "Sprachverweigerung" und eine gestörte Selbstwahrnehmung sein. "Es ist anzunehmen, daß nicht nur die Sprache als solche ein Problem darstellt, sondern vielmehr die Diskrepanz des sozialen Prestiges verschiedener Sprachen" (Kracht/Schümann 1994, 285).

Aus diesem Grund ist für die sprachliche Entwicklung eines Kindes sein subjektives Wohlgefühl und sein Angenommen-sein in den verschiedenen Lebensbereichen Familie, Umfeld, Nachbarschaft, Freundeskreis, Kindergarten oder Schule essentiell, und auch im Rahmen einer Förderplanung systemisch zu betrachten.

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Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Offener Unterricht als Methode in Klassen mit mehrsprachigen Kindern
Hochschule
Universität Hamburg  (Erziehungswissenschaft)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2000
Seiten
88
Katalognummer
V5741
ISBN (eBook)
9783638135306
Dateigröße
597 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Offener Unterricht, Mehrsprachigkeit
Arbeit zitieren
Stefanie Lembcke-Kartal (Autor:in), 2000, Offener Unterricht als Methode in Klassen mit mehrsprachigen Kindern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/5741

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