Förderung von Hochbegabten durch die Regelschule - Ein pädagogisches Handlungsproblem in Theorie und Praxis


Examensarbeit, 2006

151 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

II. Abbildungsverzeichnis

III. Tabellenverzeichnis

1. Einleitung

2. Zum Begriff Hochbegabung
2.1. Begabung
2.2. Intelligenz
2.3. Kreativitat
2.4. Talent

3. Definitionsklassen von Hochbegabung
3.1. Die 6 Definitionsklassen von Hochbegabung nach Lucito als Ordnungsschema
3.1.1. Ex-post-facto-Definition
3.1.2. Termans IQ-Definition
3.1.3. Prozentsatzdefinition
3.1.4. Soziale Definition
3.1.5. Kreativitatsdefinition
3.1.6. Definition nach Lucito
3.2. Definition des Marland Reports
3.3. Kritisch-konstruktive Zwischenbetrachtung

4. Modelle von Hochbegabung
4.1. Das Drei-Ringe-Modell der Hochbegabung (Renzulli)
4.2. Komponentenmodell der Talententwicklung (Wieczerkowski & Wagner)
4.3. Das Triadische Interdependenzmodell der Hochbegabung (Monks)
4.4. Das mehrdimensionale Begabungskonzept (Urban)
4.5. Das Modell zur Beziehung von Begabung und Leistung (Gagne)
4.6. Das Munchner Multifaktorielle Begabungsmodell (Heller & Hany)
4.7. Kritisch-konstruktiveZwischenbetrachtung

5. Identifizierung von Hochbegabung
5.1. Die Notwendigkeit der Identifizierung
5.2. Zeitpunkt der Identifizierung
5.3. Qualitat der Identifizierung
5.4. Identifizierungsverfahren
5.5. Formelle Verfahren
5.5.1. Schulnoten
5.5.2. Wettbewerbe
5.5.3. Intelligenztests
5.6. Informelle Verfahren
5.6.1. Lehrernominierung
5.6.2. Elternnominierung
5.6.3. Peernominierung
5.6.4. Selbstnominierung
5.6.5. Checklisten
5.7 Underachiever
5.8. Kritisch-konstruktiveZwischenbetrachtung

6. Sozial- und personlichkeitspsychologische Aspekte der Hochbegabung
6.1. Familienstruktur hochbegabter Kinder
6.2. Geschlechtsgruppenzugehorigkeit
6.3. Personlichkeitsmerkmale
6.4. Selbstkonzept
6.5. Kontrolluberzeugung
6.6. Kritisch-konstruktiveZwischenbetrachtung

7. Typische Probleme Hochbegabter im schulischen Umfeld
7.1. Unterforderung / Langeweile
7.2. Leistungsverweigerung
7.3. Minderleistungen bei intellektueller Hochbegabung
7.4. Ungenugendes Erlernen von Lern- und Arbeitstechniken
7.5. Soziale Isolation
7.6. Unangemessener Umgang mit Misserfolgen
7.7. Kritisch-konstruktiveZwischenbetrachtung

8. Notwendigkeit einer (integrativen) Forderung hochbegabter Schuler
8.1. Forderung als padagogische Aufgabe
8.2. Forderung als rechtlicher Anspruch
8.3. Forderung als Reduktor von Unterrichtsstorungen
8.4. Forderung als wirtschaftliche Triebfeder
8.5. Forderung als Verwirklichung der Chancengleichheit im Bildungswesen
8.6. Die Bedeutung der Grundschule fur die kindliche Entwicklung
8.7. Kritisch-konstruktive Zwischenbetrachtung

9. Fordermafinahmen in der Schule
9.1. Akzeleration
9.1.1. Fruhere Einschulung
9.1.2. Uberspringen von Klassen
9.1.3. Flexible Schuleingangsphase
9.2. Enrichment
9.2.1. Innere Differenzierung
9.2.1.1. Stationenlernen
9.2.1.2. Wochenplanarbeit
9.2.1.3. Freie Arbeit
9.2.1.4. Projektarbeit
9.2.1.5. Stillarbeitsphasen
9.2.1.6. Helfersysteme
9.2.2. AuBere Differenzierung
9.2.2.1. Arbeitsgemeinschaften
9.2.2.2. Wettbewerbe
9.2.2.3. Pull-Out-Programme
9.2.2.4. Clustergruppierungen
9.3. Kritisch-konstruktive Zwischenbetrachtung

10. Forderungen an Schule und Unterricht
10.1. Begabungsfreundliches Umfeld
10.1.1. Berucksichtigung der besonderen Leistungsfahigkeit
10.1.2. Berucksichtigung der Interessenvielfalt
10.1.3. Berucksichtigung der Ganzheitlichkeit und Ausgleich von Asynchronien
10.1.4. Berucksichtigung sozialer Bedurfnisse
10.1.5. Berucksichtigung von Vor- und Mehrwissen
10.2. Forderung der Kreativitat
10.3. Aufbau einer Fragekultur
10.4. Motivation als Schlusselfaktor
10.5. Kreativer Umgang mit Medien
10.6. Flexible Unterrichtsgestaltung
10.7. Leistungsbewertung
10.8. Bereitstellen von Gelegenheiten fur hochbegabte Kinder zum Treffen Gleichbefahigter und Kinder mit ahnlichen Interessen
10.9. Rolle des Lehrers - Verbesserter Informationsstand dieser uber die Bedurfnisse und Besonderheiten hochbegabter Kinder
10.10. Kooperation
10.10.1 Kollegium
10.10.2. Eltern
10.11. Kritisch-konstruktive Zwischenbetrachtung

11. Beratungsmoglichkeiten
11.1. Beratungsstelle BRAIN
11.2. Vereine
11.2.1. Deutsche Gesellschaft fur das hochbegabte Kind e.V.
11.2.2. Mensa in Deutschland e.V.
11.2.3. Hochbegabtenforderung e.V.

12. Praktische Umsetzung anhand von zwei Bildungseinrichtungen
12.1. Engelbert-Humperdinck-Schule (EHS), Frankfurt / Main
12.1.1. Methoden und Arbeitsweisen zur Forderung hochbegabter Kinder
12.1.2. Kritische Betrachtung und Zusammenfassung
12.2. Lichtigfeld-Schule, Frankfurt / Main
12.2.1. Methoden und Arbeitsweisen zur Forderung hochbegabter Kinder
12.2.2. Kritische Betrachtung und Zusammenfassung
12.3. Kritisch-konstruktive Abschlussbetrachtung

13. Schlussbetrachtung

IV. Literaturverzeichnis

V. Anhang

A1. Forderung von besonders begabten und hochbegabten Schulerinnen und Schulern an der Engelbert-Humperdinck-Schule
A2. Forderung von Schulerinnen und Schulern mit besonderen Begabungen an der Lichtigfeld Schule
A3. Checklisten zur Identifizierung von Hochbegabten nach dem Bundesministerium fur Bildung und Forschung

II. Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Zusammenhang von Intelligenz, Begabung und Kreativitat

Abbildung2: Das dreidimensionale Modell Guilfords

Abbildung 3: Kategorie „Hochbegabung als Leistung“

Abbildung 4: Kategorie „Hochbegabung als Disposition^

Abbildung 5: Drei-Ringe-Modell der Begabung von Renzulli

Abbildung 6: Komponentenmodell der Talentent- wicklung von Wieczerkowski & Wagner

Abbildung 7: Triadisches Interdependenzmodell der Hochbegabung von Monks

Abbildung 8: Mehrdimensionales Begabungskonzept nach Urban

Abbildung 9: Differenziertes Begabungs- und Talentmodell von Gagne

AbbildunglO: Munchener Mutifaktorielles Begabungsmodell nach Heller, Perleth & Hany

III. Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Vor-undNachteile verschiedener Definitionsklassen

Tabelle 2: Vor- und Nachteile verschiedener Hochbegabungsmodelle

Tabelle 3: Vor- und Nachteile informeller Identifikationsverfahren

Tabelle 4: Vor- und Nachteile verschiedener formeller Identifikationsverfahren

Tabelle 5: Merkmale und Fahigkeiten Hochbegabter sowie Merkmale ublichen Schulunterrichts

Tabelle 6: Ubersicht uber schulische FordermaBnahmen

„Ein Kind ist kein Gefafi, das gefullt, sondern ein Feuer, das entzundet werden wilL“

(FRANCOIS RABELAIS)

1. Einleitung

So lange es bewusst denkende Menschen gibt, fielen immer wieder einige von ihnen durch eine besondere Begabung auf. Zu Beginn der Entwicklung der Menschheit zeichneten sich solche Menschen wahrscheinlich durch besondere Fahigkeiten und Fertigkeiten aus, die besonders gut das Uberleben in einer feindlichen Umwelt sicherten. Spater kamen Fahigkeiten und besondere Begabungen hinzu, die das Feben erleichterten oder verschonerten.1

Die Frage, warum einige Menschen zu herausragenden Feistungen in der Fage sind und andere wiederum nicht, hat Forscher zu unterschiedlichsten Zeiten beschaftigt. Die Ursachen fur derartige Begabungen sah man zunachst eher in mystischen Vorstellungen. Haufig vertrat man die Ansicht, dass mit herausragenden Fahigkeiten begnadete Menschen vom Gluck begunstigt seien oder dass diese von einem Gott, einer Muse oder einem Damon inspiriert waren Die Beschaftigung mit der Thematik solcher „Begabten“, mit deren Entwicklung und spateren Forderung reicht weit in die Geschichte der Menschheit zuruck.

Bereits aus der Antike existieren Belege zur Forderung der besten „Naturen“, um der Gemeinschaft den hochstmoglichen Nutzen zu bringen.2

Das Interesse an den Hochbegabten hat also eine Tradition von mehr als zwei Jahrtausenden. Die Sicht der Begrifflichkeit Hochbegabung wurde hierbei immer wesentlich durch den Zeitgeist, Wertvorstellungen, kulturell- philosophische Stromungen und von den personlichen Konstanten der Vertreter der unterschiedlichen theoretischen Sichtweisen determiniert.3

Nach heutiger Erkenntnis traf der chinesische Philosoph Konfuzius (551-479 v. Chr.), der als Reformer des chinesischen Schulsystems wirkte, als erster Uberlegungen fur eine gezielte Auswahl und Forderung hochbegabter Kinder. Man begann mit der gezielten Suche und Ausbildung solcher „gottlichen Kinder^, um sie zum Nutzen des Staates, seiner Burger und der Wirtschaft einzusetzen.4

Auch der griechische Philosoph Plato (427-347 v. Chr.) rief dazu auf, besonders begabte Kinder zu finden, zu selektieren und zu fordern. Plato war der Meinung, dass der Fortbestand der griechischen Demokratie von der Erziehung der Heranwachsenden abhinge, die in fuhrenden Positionen arbeiten sollten.5 Er vertrat die Position, dass die Sinnesmenschen fur die erwerbstatigen Berufe geeignet seien, die Mutigen sollten Krieger werden, die wenigen Hochbegabten seien fur das Herrschen ausersehen.6 Wie bei Konfuzius auch, diente bei Plato die gezielte Erziehung nicht primar dem Wohl der Kinder, sondern vor allem dem Interesse des Staates.

Luther sprach sich 1524 dafur aus, dass die FleiBigsten und Besten unter den Kindern die Schule langer besuchen sollten, um im Anschluss zu Lehrern und Predigern ausgebildet werden zu konnen. 1530 forderte er letztlich einen Schulzwang fur die Begabten. Die Bedeutung einer solchen Forderung wird erst dann besonders deutlich, wenn man die Tatsache betrachtet, dass die allgemeine Schulpflicht auch zweihundert Jahre nach dieser Forderung in Deutschland noch nicht uberall umgesetzt worden war.

Der turkische Sultan Suleiman der Prachtige ( 1520-1566) beschaftigte Talentsucher, welche die Bevolkerung in regelmaBigen Abstanden nach herausragenden Individuen durchforsteten. AnschlieBend wurden diese Hochbegabten zum Wohl des Osmanischen Reiches in speziellen Anstalten in Religion, Naturwissenschaften, Philosophic, Kriegsfuhrung und den Kunsten unterrichtet.

Fichte (1762-1814) verlangte 1807 im Rahmen seiner „Reden an die deutsche Nation^, dass nur Begabte zu den gelehrten Studien zugelassen werden sollten7. Die soeben angefuhrten Beispiele aus der Geschichte machen deutlich, dass die Forderung Hochbegabter nur sehr selten aus Interesse an der Personlichkeitsentfaltung des Einzelnen oder aus Menschenliebe erfolgte. Vielmehr standen politische, geistliche oder wirtschaftliche Interessen im Vordergrund. Die betroffene Person sollte zur Weiterentwicklung und Starkung derjeweiligen Gesellschaft beitragen.8

Im weiteren geschichtlichen Verlauf wurden auch in Deutschland immer wieder verschiedene Projekte und Theorien im Zusammenhang mit dem Auffinden und gezielten Fordern hochbegabter Kinder initiiert. Es gab jedoch auch zwischenzeitlich immer wieder Zeiten, in denen die Hochbegabung nur wenig Berucksichtigung fand.

Vor der Jahrhundertwende entwickelte sich in vielen Landern Europas, vor allem in Deutschland, eine reformpadagogische Bewegung, welche die „alte Schule“ des 19. Jahrhunderts in Frage stellte. Wichtige Vertreter der Reformpadagogik waren Decroly (1871-1932), Montessori (1981-1950) und Petersen (1884-1952).9

In der Diskussion um die Einheitsschule wurde auch die Frage der Behandlung hochbegabter Kinder wiederholt angesprochen.10 Alternative Schul- und Unterrichtsformen entstanden, die sich der gezielten Forderung der verschiedenen Begabungs- und Fahigkeitsniveaus innerhalb des regularen Unterrichts annahmen. Die wichtigsten Anliegen der reformpadagogischen Schulen waren die Individualisierung des Lernstoffes, eine Gruppierung der Schuler nach ihrer tatsachlichen Begabung anstatt ausschlieBlich nach ihrem Alter, die Einbettung des Lehrstoffs in die Erfahrungswelt der Kinder, die Hervorhebung der Selbststandigkeit des Kindes sowie ein naturlich ablaufender Lernprozess. Der Unterricht sollte am Kind orientiert sein.11 William Stern (1871-1938), ein Forscher, der sich mit Hochbegabtenidentifikation und - forderung beschaftigte, schlug in diesem Zusammenhang vor, anstelle des Intelligenzalters (Entwicklungsalters) einen Intelligenzquotienten (IQ) zu ermitteln. Daruber hinaus forderte er die Schaffung erweiterter Ausbildungsmoglichkeiten fur Hochbegabte sowie eine verstarkte Forcierung der Hochbegabungsforschung.12

Mit der Machtergreifung in Deutschland durch die Nationalsozialisten war sowohl das vorlaufige Ende der Hochbegabungsforschung als auch der Hochbegabtenforderung verbunden. Die Reformpadagogik kam zum Erliegen und objektive Verfahren zur Intelligenz- und Leistungsmessung wurden ganzlich abgelehnt. Bedeutende Wissenschaftler, unter anderem auch Stern, wurden zur Emigration gezwungen.

Einige der im Nationalsozialismus vorhandenen Bildungseinrichtungen, die ausgewahlte Kinder aus volkischem Interesse zu dieser Zeit besuchen mussten, wurden schon damals als Eliteschulen bezeichnet. In der Nachkriegszeit wurde das Thema Hochbegabung aus diesem Grund oft - zu Unrecht - mit diesen Schulen in Verbindung gebracht.

Nach diesem absoluten Tiefpunkt kam es in Deutschland nur ganz allmahlich zu einer erneuten Beschaftigung mit dem Thema Hochbegabung. Erste Merkmale dafur waren die Neugrundung der Studienstiftung und das Erscheinen diverser Bucher zu dieser Thematik.

Erst zu Beginn der 80er Jahre fand die Hochbegabtenforderung in Deutschland wieder einen bedeutenden Aufschwung. In den USA hingegen war die Hochbegabungsforschung, angefeuert durch den Sputnikschock 1957, bereits wesentlich weiter fortgeschritten. Ein ungewohnlich groBes Echo erzeugten in Deutschland 2 Ereignisse: Die Grundung der ersten Beratungsstelle fur Hochbegabtenfragen in Deutschland und die 6. Weltkonferenz uber hochbegabte und talentierte Kinder. Die Beratungsstelle wurde 1984 in Hamburg eroffnet. Die Nachfrage von Eltern und Lehrern, aber auch von Schulern war sehr hoch und das Medieninteresse enorm. Entgegen der bis dato weitgehend vorherrschenden Meinung, dass sich Hochbegabte ohne externe Hilfe entwickeln und zurechtfinden, wurde nun in den Medien ausdrucklich darauf hingewiesen, dass auch hochbegabte Kinder entsprechend gefordert und gefordert werden mussen.

In diesem Zusammenhang war einerseits verstandlich, andererseits auch bedauerlich, dass hier ausschlieBlich uber spektakulare Falle berichtet wurde. Hochbegabung wurde so mit einem gehauften Auftreten von Problemen in Verbindung gebracht.

Weitere Forschungsprojekte sowie zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und Bucher folgten. Sie sorgten fur ein zunehmend verdichtetes Informationsniveau zum Thema Hochbegabung. Von nun an richtete sich schulische Forderung nicht nur auf die Kompensation oder Uberwindung von Lernbeeintrachtigungen oder Lernschwierigkeiten, sondern gleichermaBen auch auf die Entfaltung individueller Starken, seien sie intellektueller, technischer, musischer, sozialer oder sportlicher Natur.13

Ein Auftrag der heutigen Gesellschaft besteht darin, unterschiedliche Fertigkeiten und Begabungen der Menschen angemessen zu fordern. Denn von dieser Vielfalt an Begabungen profitiert sie. Daruber hinaus bedeutet eine Forderung solcher Begabungen gleichzeitig soziale Gerechtigkeit. Erfullt die Schule die Aufgabe einer individuellen Forderung, so ermoglicht sie den Kindern zum einen den im Grundgesetz verankerten Anspruch auf Entfaltung der Personlichkeit und gewahrleistet zum anderen die Chancengleichheit im Bildungswesen. Hierbei besteht die Aufgabe der Schule nicht nur darin, Wissen zu vermitteln, sondern auch die Kreativitat, Phantasie, die soziale Kompetenz sowie die Feistungsfahigkeit und Feistungsbereitschaft der Kinder zu fordern. Gegenstand der vorliegenden Arbeit soil sein, inwiefern und mit welchen Mitteln die Grundschule diesem Anspruch gerecht werden kann. In keiner anderen Schule ist die Feistungsheterogenitat so stark ausgepragt wie in der Grundschule. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Grundschule dies in ihrer alltaglichen Arbeit berucksichtigt und den Anspruch erfullt, alle Kinder zu fordern, auch die hochbegabten, bestmoglich und den individuellen Begabungen entsprechend.

Die Arbeit beginnt mit einer Darlegung der Definitionsproblematik des Hochbegabungsbegriffes. Denn um uberhaupt Aussagen uber die Forderung hochbegabter Kinder treffen zu konnen, bedarf es zunachst einer Definition von Hochbegabung.

Da es jedoch keine allgemeingultige Definition gibt und der Begriff nicht eindeutig benutzt wird, sollen im dritten Kapitel die Indikatoren benannt werden, uber die Hochbegabung definiert werden kann. Hierzu werden verschiedene Definitionsklassen vorgestellt und hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit bewertet. In der kritisch-konstruktiven Zwischenbetrachtung des Kapitels wird das in dieser Arbeit zugrunde gelegte Verstandnis von Hochbegabung dargestellt.

Das vierte Kapitel setzt sich mit verschiedenen Hochbegabungsmodellen und ihren Vor- und Nachteilen auseinander. Derartige Modelle unterscheiden sich von den im dritten Kapitel dargestellten Definitionsklassen in der Hinsicht, dass sie uber die verschiedenen Mess- und Identifikationskriterien hinaus gehen und weitere relevante Einflusskomponenten, die zur Hochbegabung beitragen, beschreiben und deren AusmaB benennen.

Hierbei erfolgt eine chronologische Anordnung nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung. Auf diese Weise wird die Entwicklung veranschaulicht, die sich in der Hochbegabungsforschung vollzogen hat und aus der wichtige Tendenzen fur den heutigen Forschungsstand resultieren. Aufbauend auf den theoretischen Grundlagen der vorherigen Kapitel wird im funften Kapitel die Identifizierung von Hochbegabung als Ausgangspunkt jeglicher Forderung hinreichend untersucht.

Das sechste Kapitel widmet sich den verschiedenen sozial- und personlichkeitspsychologischen Aspekten hochbegabter Kinder. Ein fundiertes Wissen der Lehrkrafte ist in diesem Zusammenhang unverzichtbar, um Hochbegabte erfolgreich identifizieren, richtig verstehen und individuell fordern zu konnen.

Von ebensolcher Relevanz ist es, dass der Lehrer mogliche Probleme und Schwierigkeiten hochbegabter Kinder in der Schule kennt. Diese werden im siebten Kapitel vorgestellt. Nur wenn der Lehrer hinreichend mit diesen Problemen und Schwierigkeiten vertraut ist, kann es ihm gelingen, diesen vorzubeugen und entgegenzuwirken.

Eine konsequente schulische Forderung Hochbegabter lasst sich durch die oft irreversiblen Folgewirkungen, die derartige Probleme bei Nichterkennen haufig verursachen, leicht begrunden. Dieses Argument und zahlreiche weitere Grunde fur die Forderung hochbegabter Kinder in der Grundschule sind inhaltlicher Gegenstand des achten Kapitels.

Im neunten Kapitel werden verschiedene Ansatze zur Umsetzung schulischer FordermaBnahmen in der Schule vorgestellt. Im Sinne einer kompakten Darstellung des Kapitels beschranken sich die Ausfuhrungen dabei auf FordermaBnahmen, die fur regulare, deutsche Grundschulen von Bedeutsamkeit sind.

Weitere Determinanten fur einen begabungsgerechten und -entwickelnden Unterricht, die gleichzeitig als Forderungen an Schule und Unterricht verstanden werden mussen, werden im zehnten Kapitel aufgefuhrt.

Das elfte Kapitel gibt einen kompakten Uberblick uber die derzeit groBten und bekanntesten Beratungsstellen und -vereine fur Hochbegabtenforderung. Hierbei sollen ihre Entstehung sowie ihre Angebote und Leistungen fur Hochbegabte dokumentiert werden.

Das zwolfte Kapitel bildet die Brucke zur Praxis, indem es zwei renommierte Bildungseinrichtungen im Rhein-Main-Gebiet vorstellt, die die Identifizierung und Forderung Hochbegabter in das Zentrum ihrer Bemuhungen gestellt haben. In diesem Kapitel werden die beiden Praxiseinrichtungen hinsichtlich ihrer Umsetzung der in der Theorie geforderten MaBnahmen und sonstigen Anforderungskriterien untersucht und anschlieBend bewertet.

Die Schlussbetrachtung befasst sich mit dem Thema Hochbegabung in kreativer Art und Weise und regt zum Nachdenken an.

Wenn aus Grunden der Einfachheit und besseren Lesbarkeit die mannliche Form Schuler bzw. Lehrer verwendet wird, so ist selbstverstandlich stets auch die Schulerin bzw. Lehrerin miteinbezogen.

2. Zum Begriff Hochbegabung

Der Begriff der Hochbegabung ist ebenso schwer zu definieren wie der der Intelligenz. Insbesondere, wenn man dieses Wort nicht nur in einem isolierten spezifisch wissenschaftlichen Sinne, sondern bezogen auf konkrete Menschen in einer konkreten Gesellschaft definieren mochte. Man kann das Wesen von einer Hochbegabung nicht definieren, da es ein solches Wesen gar nicht gibt. Selbstverstandlich existieren hochbegabte Menschen, jedoch ist die Hochbegabung dann ein gesellschaftlich bedingtes, wissenschaftliches Gebilde, mit dem man dann versucht, die besonderen Leistungen zu beschreiben, die das hochbegabte Kind erbringt und fur die die Hochbegabung an sich verantwortlich ist. Es gibt keine Definition von Hochbegabung, die den Gultigkeitsanspruch in Wissenschaft, Forschung und Praxis erheben kann.14

Geschichtlich betrachtet, wurde anfanglich der Begriff „Genie“ (im Englischen analog: genius) fur einen Menschen verwendet, der auBergewohnliche, bedeutsame Leistungen auf einem Gebiet vollbringt, die fur diese Zeit richtungweisend sind. Seit dem 20. Jahrhundert jedoch wurde der Begriff des Genies von dem des Begabten bzw. Hochbegabten ersetzt. Im Englischen wurde eine striktere Trennung zwischen musisch hochbegabt („talented“) und intellektuell hochbegabt („gifted“) verwendet. Ebenso versuchte man hier zwischen Begabung und Talent zu unterscheiden, bis sich letztlich Anfang der achtziger Jahre im deutschsprachigen Raum der Begriff der Hochbegabung manifestiert hat, ebenso im englischsprachigen Raum der Begriff des „gifted“. Wichtig ist, dass zwischen Hochbegabten und Hochleistenden unterschieden wird, da diese beiden Gruppen zwar Beruhrungspunkte haben, jedoch nicht deckungsgleich sind. Die vorliegende Arbeit befasst sich ausschlieBlich mit Hochbegabten, die eine intellektuelle Begabung (Potenz) innehaben. Hochleistende hingegen setzen ihre Begabung in Leistung um (Performanz).15 Da das Phanomen der Hochbegabung sehr komplex ist und nur schwer definiert werden kann, werden im Folgenden die Begriffe Begabung, Kreativitat, Intelligenz und Talent naher erlautert, um so einen Einblick in das Phanomen der Hochbegabung und dessen Begriffs zu erlangen.

2.1. Begabung

Der Begabungs-Begriff wird in der heutigen Sprache oft mit dem Begriff der Intelligenz gleichgesetzt. Es ist aber sehr wichtig, zwischen diesen beiden Begriffen zu unterscheiden, denn intellektuelle Begabung, sprich Intelligenz, bildet lediglich einen Teilaspekt aller Begabungen und somit ist der Begriff der Begabung wesentlich umfassender.

Im Allgemeinen unterscheidet man zwischen den folgenden funf Begabungsbereichen:

- Intellektuelle Begabung (Intelligenz)
- Musisch-kunstlerische Begabung (Leistungen auf musischem Gebiet)
- Psychomotorische Begabung (alle Bereiche, die korperliches Geschick betreffen)
- Soziale Begabung (Empathie, Einfuhlungsvermogen, Hilfsbereitschaft etc.)
- Bildnerisch-Darstellende Begabung16

Das nachfolgende Schaubild soil den Zusammenhang von Intelligenz, Begabung und Kreativitat verdeutlichen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Zusammenhang von Intelligenz, Begabung und Kreativitat (Quelle: Eigenerstellung)

Begabungen sind grundsatzlich bei alien Menschen in irgendeiner Disposition existent. Entscheidend ist das Umfeld des Kindes, das zu der Entfaltung seiner Begabungsanlage beitragt. Die o.g. funf Begabungsbereiche sind verhaltnismaBig unabhangig voneinander, d.h. ein Kind kann sowohl einen als auch mehrere Begabungsschwerpunkte haben.17 Begabungen beinhalten immer Kreativitat (Schopferkraft), d.h. das begabte Kind kann sich in einem bestimmten Gefuge frei entfalten und selbststandig zu neuen Erkenntnissen gelangen.

Daruber hinaus setzen Begabungen stets eine gunstige, positiv beeinflussende Umwelt voraus, um sich uneingeschrankt ausformen, bilden und entfalten zu jg konnen, wobei mit diesem Umfeld Bildung und Erziehung gemeint sind.18

2.2. Intelligenz

„Intelligenz ist die personale Fahigkeit, sich unter zweckmaBiger Verfugung uber Denkmittel auf neue Forderungen einzustellen.“19

Intelligenz wird primar als eine Leistungsdisposition verstanden. Das heiBt, Intelligenz an sich ist nicht sichtbar und direkt erfassbar. Vielmehr schlagt sie sich in Handlungen nieder. Der Begriff wurde von Wissenschaftlern gepragt, um kognitive Denkprozesse und -fahigkeiten zu beschreiben. Derartige Fahigkeiten sind nicht beobachtbar, sondern nur aus Handlungen erschlieBbar, z.B. bei einem Test, in dem man bei der Auswertung Richtigkeit oder Falschheit feststellt. Es gibt diverse Definitionen, die im Folgenden angefuhrt werden. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie mit intellektueller Begabung bzw. Intelligenz die Fahigkeit beschreiben, sich in vollig neuen Sachlagen aufgrund von Einsichten zurechtzufinden, Probleme mit Hilfe der kognitiven Fahigkeiten zu losen, ohne hierfur Erfahrungen gemacht zu haben, sondern ausschlieBlich mit Hilfe von Erkenntnissen von Beziehungen.20 Stern definiert Intelligenz als „geistige Allgemeinbildung“.21

Ebbinghaus (1908) definiert Intelligenz als die „Fahigkeit des erkennenden Denkens, die als naturliche Anlage in den Individuen verschieden ausgepragt und primar als Kombinationsfahigkeit zu fassen ist.“22

Nach Meili (1964) beinhaltet der Begriff der Intelligenz die Kompetenz, Fakten zu sammeln, das schon Bekannte anzuwenden, Ideen zu verbinden,

Denkkategorien umzustrukturieren, zu modifizieren und komplexe Strukturen zu bilden.

Thurstone geht von 7 gleichberechtigten Faktoren der Intelligenz aus, namlich verbal comprehension (Sprachverstandnis), word fluency (Wortflussigkeit), memory (Gedachtnis, Merkfahigkeit), reasoning (Merkfahigkeit, induktives und deduktives Denken), number (Fahigkeit zum Losen einfacher Rechenoperationen), space (Raumvorstellungen) und perceptual speed (Auffassungsgeschwindigkeit).23

Zu intellektueller Begabung zahlen Fahigkeiten wie z.B. schnelle Auffassungsgabe, gute Lernfahigkeit, logisches Denken, raumliches Vorstellungsvermogen, hohe Gedachtnisleistung und die Kompetenz zu diversen besonderen geistigen Leistungen in den Bereichen Naturwissenschaften, Mathematik und Sprachen. Ein intelligentes Kind kann neuartige Anforderungen auf ganz verschiedenen Gebieten selbststandig bewaltigen und sichjederzeit auf Neuland zurechtfinden, d.h. es kann neuen Lernstoff erarbeiten, sich Wissen eigenstandig aneignen, komplexe Probleme selbststandig losen und sich in fremden Lokalitaten zurechtfinden bzw. orientieren.24

Oft werden in der Literatur die beiden Begriffe „Intelligenz“ und „Begabung“ gleichgesetzt, was bereits oben dargestellt und widerlegt wurde.

2.3. Kreativitat

Bei dem Versuch, Kreativitat zu definieren, lasst sich feststellen, dass es keine einheitliche und allgemeingultige Begriffsbestimmung gibt25. Das Wort Kreativitat stammt von dem lateinischen Wort „creare“, was so viel bedeutet, wie „erschaffen, schaffen“. Es ist eine Ubersetzung des von Guilford eingefuhrten Begriffes der „creativity“. Ausubel halt Kreativitat fur einen der unklarsten und vieldeutigsten Begriffe der Psychologie und Padagogik.26 Urban definiert Kreativitat als die Fahigkeit zum selbstbestimmten, schopferischen Denken und Handeln27. Cropley definiert schopferisches Denken als die Fahigkeit, neue Fragestellungen zu finden, den Blick auf das Wesentliche zu richten, die Kompetenz zu Analyse und Synthese, Einfallsreichtum und 9Q Flexibility im Denken sowie Originality.28 Manchmal wird mit Kreativitat auch ungewohntes, unubliches, non-konformes Handeln bezeichnet.29 Bongartz, KaiBer und Kluge definieren Kreativitat als die Fahigkeit, in Form von Begabung vorhandene Elemente neu miteinander zu verbinden. Hierbei spielen divergentes Denken und die innere Motivation, mehrere Losungen zu finden, eine bedeutende Rolle.30

Unter kreativem Denken versteht Guilford (1950) das Produkt folgender funf Fahigkeiten:31

- Flussigkeit: meint die unbegrenzte Menge an neuen Ideen und Gedanken.
- Flexibility: implementiert die geistige Wendigkeit einer Person, d.h. die kreative Person verlasst bekannte Wege und sucht nach neuen, ihr unbekannten Dingen.
- Originalitat: hiermit ist die Einzigartigkeit, Auffalligkeit und

Ungewohnlichkeit von Ideen und Gedanken gemeint. Diese stellen etwas Besonderes, absolut nichts Alltagliches dar. Hierbei sprengt die Phantasie des kreativen Menschenjegliche Grenzen und gleitet in unbekannte Gebiete uber.32

- Elaboration: implementiert gut entwickelte und genaue Ideen.
- Sensitivity: bedeutet Sensibility fur Defekte, Probleme und Redefinition.33 Nach Schulte zu Berge besitzen kreative Menschen diverse Fahigkeiten:
- Problembewusstsein: Kreative Menschen hinterfragen Dinge genau,
-rkennen so Schwachen und Probleme und suchen nach neuen Losungen.
- Fahigkeit zu neuartigen Fragestellungen: Kreative Menschen sind in der Lage, korrekte Fragen zu stellen und so neue Erkenntnisse zu gewinnen.
- Blick fur das Wesentliche: Kreative Menschen konnen sich auf das Wesentliche konzentrieren und so das Wichtigste erkennen und fur sich herausziehen.
- Analytische und synthetische Fahigkeiten: Kreativitat beinhaltet die Fahigkeit, komplexe Dinge in einzelne Elemente zu zerlegen und neue Verbindungen herzustellen.
- Einfallsreichtum und Originalitat: Diese beiden Fahigkeiten sind die wohl typischsten Kompetenzen kreativer Menschen. Sie erkennen, analysieren und grenzen Probleme ein und konnen anschlieBend neuartige Ideen herstellen, die dann zur Erklarung eines Grundgedankens beisteuern konnen.
- Flexibility des Denkens: Kreativitat bedeutet, Losungswege, die sich als Irrtum erwiesen haben, zu ignorieren und neue Gedankengange zu suchen.34

2.4. Talent

Als Talent bezeichnet man eine auBergewohnliche Leistung, die grundsatzlich aufBegabung basiert und fur das Alter der leistenden Person als auBerordentlich gut angesehen wird.35

Meist findet das Talent seine Entfaltung auf einem ganz bestimmten Gebiet. Dies kann aber nur dann zum Ausdruck kommen, wenn die entsprechende Person gefordert wird.36

3. Deflnitionsklassen von Hochbegabung

„Die Bedeutung des Begriffs Hochbegabung ist abhangig von der Definition, die man dem Phanomen Hochbegabung zugrunde legt. Die Definitionen wiederum grunden explizit oder implizit auf bestimmten Modellvorstellungen von Hochbegabung, die ihrerseits Theorien zur allgemeinen psychischen Entwicklung und zur spezifischen Entwicklung von Begabung beeinflussen.37 “ Eine Identifikation und Forderung hochbegabter Schuler ist ohne eine genaue Definition von Hochbegabung nicht moglich. Die Spannweite der Definitionen ist jedoch sehr weit. Sie reicht von „hochbegabt ist, wer Einmaliges vollbracht hat38 bis „jeder ist hochbegabt, denn jeder hat seine Starken39 Fur den schulischen Alltag sind beide Extrempositionen nicht hilfreich, denn bei der ersten Position wurde man mit der Forderung zu spat beginnen und bei der zweiten zu einer Individualisierung des Unterrichtes gelangen, was heute jedoch kaum durchfuhrbar ist. Das bedeutet, dass eine Definition, die von praktischem schulischem Interesse sein soil, zwischen den o.g. Extrempositionen liegen muss.

Bis heute gibt es unter den uber 100 verwendeten Definitionen von Hochbegabung keine, die alle moglichen Aspekte von Begabung einschlieBt und gleichzeitig einen allgemeinen Gultigkeitsanspruch in Wissenschaft, Forschung und Praxis erheben darf.40

Lucito berichtet, dass W.Abraham einen Studenten beauftragte, alle Hochbegabungsdefinitionen aufzuzahlen. Dieser gab nach 113 Definitionen auf. Wie auch dieses Beispiel verdeutlicht, besteht die Gefahr, den Uberblick zu verlieren.41

3.1. Die 6 Definitionsklassen von Hochbegabung nach Lucito als Ordnungsschema

Aufgrund der groBen Anzahl von Definitionen ist es hilfreich, wenn man das folgende Ordnungs- bzw. Klassifikationssystem von Lucito heranzieht. Lucito unterscheidet 6 Definitionsklassen von Hochbegabung.42

3.1.1. Ex-post-facto-Definition

Die erste und alteste Definitionsklasse bildet die Ex-post-facto Definition.43 Diese findet man vor allem in der fruheren Literatur. Hiernach bezeichnet man jemanden als hochbegabt, nachdem er etwas Hervorragendes geleistet hat, durch diese Leistung seinen Mitmenschen aufgefallen ist und von diesen geschatzt wird. Hierbei werden vor allem Erwachsene und Kinder hoheren Alters erfasst.44 Diese Definition weist zwei erhebliche Mangel auf, und ist daher fur schulische Zwecke unbrauchbar. Zum einen orientiert sie sich am jeweiligen Wertesystem einer Gesellschaft. So ging zum Beispiel der hochbegabte Leonardo da Vinci zwar wegen seiner Fahigkeiten in die Geschichte ein, wurde von seinen Mitmenschen aber aus Voreingenommenheit dennoch nicht als hochbegabt erkannt.45 Zum anderen werden nur diejenigen Kinder bzw. Menschen erfasst, die die Moglichkeit haben durch eine aufmerksame, motivierende und fordernde Umwelt besondere Leistungen zu erbringen bzw. zu zeigen.46 Kinder, die aus weniger gunstigen Verhaltnissen stammen oder fur ihr Alter zwar Beachtliches leisten, jedoch an den Leistungen der Erwachsenen gemessen werden, werden AH ubersehen.47 Somit wird diese Definition der kindlichen Personlichkeit nicht gerecht.48

3.1.2. Termans IQ-Definition

Diese Definition gebrauchte man haufig, nachdem die ersten Intelligenztests eingefuhrt wurden. Eine der ersten IQ-Definitionen stammt von Terman. Nach ihm galtjemand als hochbegabt, wenn er in einem Stanfort-Binet-Intelligenztest einen Intelligenzquotienten von mindestens 140 erreichte. Seit seiner Definition wurde Hochbegabung oft mit einem hohen IQ gleichgestellt und an seinem Grenzwert orientierten sich viele Forscher in Padagogik und Psychologie noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Mithilfe der standardisierten Intelligenztests schien jetzt eine Losung gefunden zu sein, Hochbegabung nicht mehr erst im Nachhinein an einer Leistung festzumachen, sondern vielmehr schon fruhzeitig zu erkennen.

In den verschiedenen Definitionen, die alle zu derselben Klasse zahlen, da sie Intelligenztests als Bewertungsmittel fur Hochbegabung zugrunde legen, werden dennoch unterschiedliche kritische Werte als Trennung zwischen Hochbegabung und Nicht-Hochbegabung gesetzt.49 Hierbei spezifiziert man einen bestimmten Grenzwert der Intelligenz und wer oberhalb dieses Wertes liegt, gilt als hochbegabt. Dieser Wert liegt meist um 130.50

Es ist auffallig, dass es sich immer um einen runden Zahlenwert handelt, ohne dass es einen wissenschaftlichen Grund hierfur gabe.51 Dieser Wert scheint willkurlich gesetzt worden zu sein.52 Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass diese Definition nur eine intellektuelle Hochbegabung erfasst und andere Bebungsformen, wie z.B. die musikalische Hochbegabung vollig vernachlassigt.53 AuBerdem werden hier wichtige bestimmende Faktoren der Hochbegabungsentfaltung, wie z.B. das soziale Lernumfeld (Familienmilieu, Rollenerwartungen usw.), nicht-kognitive Personlichkeitsmerkmale (Motivation, Selbstkonzept, Erkenntnisstreben usw.) und das Personlichkeitsmerkmal Kreativitat vernachlassigt.54 Insgesamt handelt es sich hier um eine eindimensionale Definition, bei der sowohl so genannte hochbegabte Underachiever als auch Kinder aus Sozialgruppen mit hinderlichen Rahmenbedingungen ubersehen werden. Somit bleiben alle Kinder unberucksichtigt, die ihre Begabung sowohl in Tests als auch im Unterricht nicht in Leistung umsetzen konnen.

Daruber hinaus gibt ein erzieltes hohes Ergebnis in einem Intel ligenztest noch lange keine Auskunft uber mogliche fehlende Anforderungen der Schule oder uber ein noch bisher nicht entfaltetes Begabungspotential.

Dennoch hat diese Definition einen Vorteil, namlich die Ermoglichung eines gewissen Vergleichs zwischen Klassen, Schulen und Regionen.55

3.1.3. Prozentsatzdefinition

Hiernach wird ein bestimmter Prozentsatz der Bevolkerung als hochbegabt definiert. Das Auswahlkriterium ist variabel, teilweise werden Noten, mal Schulleistungstests oder Werte des Intelligenztests herangezogen. Hierbei kommt es oft zu Uberschneidungen mit dem IQ-Test.56

In der Regel werden 2% der Bevolkerung als hochbegabt bezeichnet.57 Prozentsatzdefinitionen und IQ-Definitionen sind nicht strikt voneinander trennbar. Die Prozentsatzdefinition ist als quantitative Bestimmung von Hochbegabung in einer IQ-Definition enthalten, die zusatzlich einen qualitativen Aspekt, d.h. eine inhaltliche Bestimmung von Intelligenz umfasst.

Bei der Kombination von IQ- und Prozentsatzdefinition wird ein bestimmter Prozentsatz definiert, der die in einem Intelligenztest ermittelten Leistungsfahigsten einer Altersgruppe als hochbegabt einstuft. Geht man im Rahmen des kombinatorischen Ansatzes davon aus, dass 2% der Bevolkerung hochbegabt sind, dann konnen Testergebnisse so gedeutet werden, dass alle Personen mit einem IQ von uber 130 hochbegabt sind.58

Grundsatzlich lasst sich also sagen, dass diese Definitionen fur die Identifikation von Hochbegabten von untergeordneter Bedeutung sind.59 Auf diese Definitionen greift man in der Praxis beispielsweise dann zuruck, wenn in einem Forderprogramm nur eine beschrankte Anzahl von Teilnehmern Platz finden kann.60

3.1.4. Soziale Definition

Diese Definition beruht auf der Ausweitung des Begabungskonzeptes auf Sonderbegabungen. Witty ist einer der Vertreter dieser Definition. Er definiert hochbegabte Kinder als solche, die durchgangige bemerkenswerte Leistungen in moglicherweise wertvollen Bereichen zeigen und als solche angesehen werden. Daruber hinaus werden Sonderbegabungen und Begabungen in einer Vielzahl von Bereichen miteinbezogen.

Diese Definitionen verdienen grundsatzlich Beachtung, da die Forderung spezieller Fahigkeiten sowohl fur das Individuum als auch fur die Gesellschaft wichtig ist.61

3.1.5. Kreativitatsdefinition

Diese Art von Definition lehnt eine reine Definition nach dem IQ ab. Vielmehr wird hier die Kreativitat in den Vordergrund gestellt. Gowan definiert das hochbegabte Kind als ein Individuum, welches das Potential besitzt, Kreativitat zu entwickeln.62

Dieser Ansatz betont originelle und produktive Leistungen und sieht diese als kennzeichnend fur eine Hochbegabung an.63

Die Diskussionen uber Kreativitat haben der Hochbegabungsforschung zwar wichtige Impulse gegeben, aber dennoch blieben die Hoffnungen, Hochbegabung allein uber die Kreativitat definieren zu konnen, unerfullt. Die ausschlieBliche Definition von Hochbegabung uber die Kreativitat ist m.E. ebenso zu einseitig, wie die alleinige Definition uber einen hohen IQ. Man sollte also nicht versuchen, das Intelligenzquotientenkonzept durch das der Kreativitat zu ersetzen, sondern vielmehr beide miteinander zu verbinden, auch wenn es sicher schwieriger wird, die Kreativitat zu messen.64

3.1.6. Definition nach Lucito

Lucito bezieht sich bei seiner Definition auf das Guilfordsche Modell des Intellektes. Er trifft hierbei folgende Aussage: „Hochbegabt sind jene Schuler, deren potentielle intellektuelle Fahigkeiten sowohl im produktiven als auch im kritisch bewertenden Denken ein derartig hohes Niveau haben, dass begrundet zu vermuten ist, dass sie diejenigen sind, die in der Zukunft kritisch bewerten, wenn sie adaquate Bedingungen der Erziehung erhalten.“65 Das Guilfordsche dreidimensionale Modell, auf das sich Lucito bezieht, besteht aus Inhalten, Ergebnissen und Operationen. Die Operationen sind der Kern der Definition und bestehen aus

- Kognition (Entdecken, Wiederentdecken, Erkennen, Verstehen, Aufnehmen),
- Gedachtnis (Behalten des Erkannten),
- dem divergierenden Denken als Teil der Produktion (die Antworten sollen, soweit es geht, vielfaltig und verschieden sein),
- dem konvergierenden Denken als Teil der Produktion (es soil eine korrekte bzw. anerkannt beste Antwort gegeben werden) und
- der Bewertung (es soil nach bestimmten Kriterien uber Gute, Richtigkeit und Geeignetheit entschieden werden).66

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Feger 1988, S. 59.)

Hierbei kann man die Kognition und das Gedachtnis als Voraussetzung der beiden Arten der Produktion ansehen. Produktion und Bewertung umfassen nach Lucito kreatives und kritisches Denken und die Kompetenz des Problemlosens. Dieses Modell ist folglich mehrfaktoriell und wird dem komplexen Phanomen der Hochbegabung am ehesten gerecht. Ein positiver und erwahnenswerter Aspekt ist, dass Lucito Begabung und Leistung nicht gleichsetzt und die Rolle der Forderung betont. Diese Definition sollte man nach Feger (1988) beibehalten und uberlegen, wo man evtl. Erganzungen vornehmen kann. So wird beispielsweise ein sehr bedeutsamer Einflussfaktor, die Motivation, nicht berucksichtigt.67

3.2. Definition des Marland Reports

Der Regierungsbevollmachtigte Marland fuhrte 1970 fur das amerikanische Erziehungsministerium eine Studie uber die Lage Hochbegabter in den USA durch. So wurde 1972 durch das U.S. Office of Education eine pluralistische Hochbegabungsdefinition offiziell als Grundlage vieler Forderprogramme festgelegt: „Hochbegabte und talentierte Kinder sindjene, die durch qualifizierte Fachleute als solche identifiziert wurden und die aufgrund auBergewohnlicher Fahigkeiten hohe Leistungen zu erbringen vermogen. Um ihren Beitrag fur sich selbst und fur die Gesellschaft zu realisieren, benotigen diese Kinder die Bereitstellung differenzierter padagogischer Programme und Hilfestellungen, die uber die normalen, regularen Schulprogramme hinausgehen.

Kinder, die zu hohen Leistungen fahig sind, schlieBen solche mit gezeigten Leistungen und / oder mit potentiellen Fahigkeiten in irgendeinem der folgenden Bereiche mit ein:

1. Allgemeine intellektuelle Fahigkeit
2. Spezifisch akademische (schulische) Eignung
3. Kreatives oder produktives Denken
4. Fuhrungsfahigkeiten
5. Bildnerische und darstellende Kunste
6. Psychomotorische Fahigkeit“68

Diese Definition weist viele Vorteile fur die schulische Praxis auf. Zum einen wird hier Hochbegabung als Erziehungsbedurfnis und nicht als ein Privileg angesehen. Zum Zweiten ist die AuBergewohnlichkeit das wichtigste Kriterium. Sowohl Leistungen als auch Kompetenzen werden bei der Identifikation miteinbezogen, d.h. so genannte Underachiever werden erkannt, obwohl sie zwar schlechte Schulleistungen erbringen, aber einen hohen Begabungskennwert haben. Im Vergleich zu Termans IQ-Definition werden hier samtliche, fur unsere Gesellschaft bedeutsame Begabungsfelder berucksichtigt, anstatt ausschlieBlich die Intelligenz zu betrachten.69 Es ist zudem positiv anzumerken, dass eine Forderung fur alle Schulstufen gefordert wird und betont wird, dass der regulare Schulunterricht oft unvollkommen und fur die spezielle Forderung nicht ausreichend ist.70

Doch auch diese Definition hat Schwachen. Beispielsweise werden personlichkeits-bestimmende Faktoren, wie Motivation und das soziale Umfeld vernachlassigt bzw. auBer Acht gelassen. AuBerdem wird aus der Definition nicht ersichtlich, dass die aufgezahlten sechs Begabungsfelder nicht parallel zueinander laufen, sondern sich gegenseitig einschlieBen bzw. in Wechselwirkung zueinander stehen.

Zu betonen bleibt jedoch, dass Marlands Definition einen wichtigen theoretischen und bildungspolitischen Fortschritt in der Hochbegabungsdiskussion markiert hat. Er hat die Entwicklung alternativer Hochbegabungsmodelle provoziert und stellt heute eine Art Minimalkonsens in der Hochbegabungsdiskussion dar, da wohl kaum jemand leugnen kann, dass die genannten Leistungs- und Begabungsfaktoren von hoher Bedeutung sind.71

3.3. Kritisch-konstruktive Zwischenbetrachtung

Nach der begrifflichen Erlauterung von Begabung, Intelligenz, Kreativitat und Talent, wurden die Definitionsklassen nach Lucito dargestellt, welche es ermoglichen, die diversen Definitionen von Hochbegabung in Klassen einzuordnen. Dabei fiel auf, dass einige der Definitionen unter mehrere der Klassen subsumiert werden konnen.

In den bisherigen Darstellungen wurde deutlich, dass es keine wissenschaftlich prazise, eindeutige und allgemein anerkannte Definition von Hochbegabung gibt. Definitionen basieren immer auf gesellschaftlichen, kulturellen und padagogischen Konzepten bzw. Hintergrunden.

Dennoch verhilft Lucitos Klassifikationsschema zu einer Einordnung der Definitionen bzgl. ihrer Brauchbarkeit und Nutzlichkeit fur padagogische Zwecke. Einige der Definitionen werden dem komplexen Phanomen der Hochbegabung nur wenig gerecht. Hierzu zahlt die IQ-Definition, die ausschlieBlich ergebnis- und leistungsorientiert ist und weitere wichtige Determinanten auBen vor lasst. Ebenso werden im Rahmen dieser Definition hochbegabte Underachiever, die ihre Begabung nicht in Leistung umsetzen konnen, ubersehen. Weitere Definitionen wie beispielsweise die Prozentsatzdefinition gehen von willkurlich, empirisch nicht begrundeten Grenzwerten aus, was die Einstufung als hochbegabt oder nicht hochbegabt ebenso willkurlich erscheinen lasst. Doch auch die anderen Definitionen weisen Schwachstellen auf, indem sie wichtige Personlichkeitsmerkmale vernachlassigen.

Die nachfolgende Tabelle veranschaulichen komprimiert die wichtigsten Vor- und Nachteile der genannten Definitionsklassen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Vor-undNachteile verschiedener Definitionsklassen (Quelle: Eigenerstellung)

Die vorliegende Arbeit basiert auf der Grundlage, dass Hochbegabung von wichtigen Personlichkeitsmerkmalen (z.B. Motivation, Arbeitshaltung u. v. m.) und dem Einfluss der fordernden bzw. hemmenden Umwelt abhangt. Zudem wird konsequent zwischen den Begriffen Begabung und Leistung unterschieden und zwischen den verschiedenen Arten von Hochbegabung (musische, kunstlerische, intellektuelle...) differenziert.

4. Modelle von Hochbegabung

Die in Kapitel 3 beschriebenen Definitionen wurden zur Abgrenzung und Klarung der Begrifflichkeit Hochbegabung herangezogen. Anhand der folgenden Modelle soil hingegen verdeutlicht werden, welche EinflussgroBen sich auf welche Weise auf die Begabung und Leistung eines Kindes auswirken. Der Fokus liegt hier also auf der Entwicklung und Forderung der Hochbegabung. Diese sollte stets wesentliches Ziel padagogischer Bemuhungen sein, um Schule als eine bestmogliche Organisationseinheit von Lernprozessen bezeichnen zu konnen. Eine so verstandene Entfaltung intellektueller Hochbegabung beinhaltet auch nicht-kognitive Personlichkeitsmerkmale wie Interessen und Motivation sowie soziokulturelle Bedingungen des Lernumfeldes, z.B. die Anregungsqualitat der Umwelt. Diesem Verstandnis von Hochbegabung entsprechend lassen sich 6 wesentliche in der Forschung vertretene Modelle unterscheiden. Sie sollen auf den folgenden Seiten in chronologischer Abfolge ihrer Entstehung dargestellt werden. Daruber hinaus werden diejeweiligen Vor- und Nachteile der 6 Modelle aufgezeigt. Grundsatzlich lassen sich die Modelle in zwei Kategorien einteilen :72

In der ersten Kategorie wird Hochbegabung als Leistung verstanden und folglich mit dieser gleichgesetzt. Man geht davon aus, dass Hochbegabung grundsatzlich beobachtbar und sichtbar ist. Nach diesem Modell zahlen Underachiever, die zwar einen hohen Intelligenzquotient haben, aber nur schwache schulische Leistungen aufweisen, nicht zu den Hochbegabten.73

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Kategorie „Hochbegabung als Leistung“ (Quelle: Holling / Kanning 1999, S. 6.)

In der zweiten Kategorie hingegen wird Hochbegabung als eine Disposition zu hohen Fahigkeiten verstanden. Diese Anlage muss sich jedoch nicht im Verhalten manifestieren. Folglich zahlen auch die Underachiever zu den Hochbegabten.74

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Kategorie „Hochbegabung als Disposition'1 (Quelle: Holling / Kanning 1999, S. 7.)

4.1. Das Drei-Ringe-Modell der Hochbegabung (Renzulli)

1979 entwickelte Joseph S. Renzulli das „Drei-Ringe-Modell“, das so wie kein anderes Modell Interesse auf sich gezogen und zur Weiterentwicklung ermuntert hat.75 Dieses Modell bildet bis heute die theoretische Grundlage vieler Forschungsarbeiten und praktischer Forderkonzepte76.Nach ihm ist Begabung die Schnittmenge dreier Personenmerkmale, namlich uberdurchschnittlicher Fahigkeiten, Kreativitat und Aufgabenverpflichtung.77

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Drei-Ringe-Modell der Begabung von Renzulli (Quelle: Holling / Fanning 1999, S. 9.)

Zu den uberdurchschnittlichen Fahigkeiten zahlt er sowohl die allgemeinen kognitiven Fahigkeiten, wie z.B. ein hohes Niveau im abstrakten Denken und Schlussfolgern als auch spezielle Fahigkeiten in verschiedenen Wissensgebieten, die spezielle Leistungen zur Folge haben.

Kreativitat meint nach Renzulli eine bestimmte Form des Losungsverhaltens fur Aufgaben, namlich originelles, produktives, flexibles und individuell- yg selbststandiges Vorgehen.78 Hierzu zahlen Flexibility und Originalitat im Denken, Offenheit und Aufnahmefahigkeit fur Neues sowie Neugier, Risikobereitschaft und Sensibility.79

Als Aufgabenverpflichtung bezeichnet Renzulli die Kompetenz einer Person, sich uber eine langere Zeit intensiv mit einer Aufgabe auseinander zu setzen, wobei hier eine emotionale, eine kognitive und eine motivationale Komponente enthalten sind. Das bedeutet, dass man sich gedanklich mit einem Ziel befassen und sich emotional zu diesem Ziel hingezogen fuhlen muss, um es erreichen zu konnen. Daruber hinaus muss dieses Ziel mit viel Einsatz und starkem Willen verfolgt und uber einen langeren Zeitraum geplant werden (motivationale Komponente).

Nach Renzulli entsteht eine Hochbegabung durch eine uberdurchschnittliche Auspragung und einem Zusammenspiel der drei o.g. Komponenten, welche er als gleichberechtigt ansieht. Er lehnt eine genetisch veranlagte Hochbegabung strikt ab und vertritt eine sehr starke entwicklungsorientierte und keine statische Ansieht bzgl. des Hochbegabungsphanomens.80 Renzulli fordert die Einrichtung von Lernmoglichkeiten, die den Kindern Chancen geben, begabtes Verhalten zu zeigen und (weiter) zu entwickeln.

Renzullis Modell stellt eine erste Ausdifferenzierung der Definition von Hochbegabung ausschlieBlich uber Intelligenz bzw. die Ergebnisse der Intelligenztests um die Aspekte Aufgabenverpflichtung und Kreativitat erweitert dar.81

Der Hauptkritikpunkt an Renzullis Modell ist die Gleichsetzung von Begabung und Leistung, wie man sie in den im vorigen Kapitel dargestellten Definitionsklassen schon finden konnte. AuBerdem setzt er Kreativitat und Aufgabenverpflichtung als notwendige Bedingungen fur Hochbegabung voraus. Folglich zahlen nach seinem Modell Underachiever nicht zu den Hochbegabten, da ihnen die Aufgabenverpflichtung fehlt.

Gagne schlagt vor, zwischen den Begriffen Begabung und Talent zu unterschieden, um so zwischen dem Leistungspotential und der tatsachlich realisierten Leistung differenzieren zu konnen und Underachiever ebenfalls zu erfassen, da sie ebenso wie andere Hochbegabte auch, Leistungspotential besitzen.82

Des Weiteren bleiben in seinem Modell die sozialen Faktoren, die die Entwicklung intellektueller Fahigkeiten determinieren und Einfluss auf das Arbeitsverhalten haben, vollig unberucksichtigt. Dies fuhrt zu einer Gleichsetzung von Hochbegabung und Hochleistung. Aber gerade diese Differenzierung ist in der schulischen bzw. padagogischen Praxis wichtig, denn dort misst man Leistung und nicht Begabung. Wie bereits erwahnt, bleiben nach seinem Modell die hochbegabten Underachiever unberucksichtigt, da sie zwar kreatives und intellektuelles Leistungspotential, jedoch kein Durchhaltevermogen besitzen. Ebenso zahlen nach Renzulli Schuler, die bei hoher Intelligenz Aufgabenverpflichtung zeigen und sehr gute Noten erbringen nicht zu den Hochbegabten, da ihnen die uberdurchschnittliche Kreativitat fehlt.83

4.2. Komponentenmodell der Talententwicklung (Wieczerkowski & Wagner)

Wieczerkowski und Wagner haben Renzullis Drei-Ringe-Modell 1985 weitergefuhrt und die 3 Komponenten ausdifferenziert. Des Weiteren unterscheiden sie zwischen „Talent“ und „Begabung“. Fur sie ist Begabung lediglich ein Ring aus Renzullis Abbildung, namlich der, den er „uberdurchschnittliche Fahigkeiten“ nennt. Nach diesem Modell ist Begabung die Voraussetzung zur Entwicklung von Talent. Dadurch konnen Underachiever, die kein Talent entwickelt haben, dennoch als hochbegabt bezeichnet werden. Allerdings ist hier kritisch anzumerken, dass „Talent“ im deutschen Sprachraum mit genetischer Disposition verbunden wird. Der Brockhaus (1993) definiert Talent als Begabung, als eine Gabe, ein von Gott anvertrautes Gut und ebenso als eine biologische Anlage einer Leistung. Genau dies wollen Wieczerkowski und Wagner nicht vermitteln. Deshalb schlagen sie vor, den Begriff „Talent“ durch den der „Leistung“ zu ersetzen.

Renzullis „Aufgabenverpflichtung“ andern sie zu „Motivation“ und „Umwelteinflusse“ um, was Anerkennung durch die Bezugspersonen und die Forderung des Kindes impliziert.84 Folgende Abbildung soil zur Verdeutlichung herangezogen werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: Komponentenmodell der Talententwicklung von Wieczerkowski & Wagner

(Quelle: Feger 1988, S. 78.)

4.3. Das Triadische Interdependenzmodell der Hochbegabung (Monks)

Das Triadische Interdependenzmodell wurde 1990 von Monks, Professor fur Psychologie und ehemaliger President des Europaischen Rates fur Hochbegabtenforderung entwickelt. Es basiert auf Renzullis Drei-Ringe-Modell und ist um die drei Komponenten Schule, Peers und Familie erweitert.85

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 7: Triadisches Interdependenzmodell der Hochbegabung von Monks (Quelle: Holling / Fanning 1999, S. 12.)

Unter Aufgabenzuwendung wird -analog zu Renzulli- sowohl die motivationale Komponente als auch die kognitive und emotionale Komponente bzgl. der Realisierung einer gestellten Aufgabe verstanden.86

Nach Monks ist fur die Entwicklung einer Hochbegabung das richtige Zusammentreffen von individuellen Anlagen und Bedurfnissen mit einer forderlichen und verstandnisvollen Umwelt notwendig. Nach ihm sind das von einer Person gezeigte Verhalten und die in ihr aktualisierten und manifesten Motive Resultate der Interaktion zwischen individuellen Anlagen und sozialer Umgebung. Fur uberdurchschnittliche intellektuelle Fahigkeiten setzt Monks einen IQ von mindestens 130 voraus.87 Die von ihm erganzten drei Einflussfaktoren Schule, Familie und Peers sind die wichtigsten Elemente der sozialen Umgebung eines Kindes. Monks bezeichnet die im Folgenden naher erlauterten Einflussfaktoren als Settings.

Das Setting Schule: Lehrer hochbegabter Schuler werden oft durch deren hohes Lerntempo, ihrer Leistungs- und Lernfahigkeit und der Forderung nach Aufmerksamkeit mit Problemen konfrontiert. Hieraus kann eine Uberforderung entstehen, auf die der Lehrer mit Ignorieren oder Ablehnung reagieren kann.88

Das Setting Familie: Fur die sozial-emotionale kindliche Entwicklung besitzt die Familie nach Monks eine enorme Bedeutung. Auf der einen Seite konnen die Eltern eines hochbegabten Kindes durch dessen standigen Drang nach neuem Wissen, deren Energie und deren Lernwillen uberfordert werden. Eine mogliche Folge ist, dass sie der Entwicklung des eigenen Kindes hilflos und verloren gegenuber stehen. Zum anderen stellen Eltern aufgrund der hohen ausgepragten Begabung oft enorme Anforderungen an das Kind und verlieren durch eine zu emsige und ubertriebene Forderung das psychische Wohlbefinden des Kindes aus dem Auge.

Das Setting Peers: Gleichaltrige Peers, also Klassenkameraden, haben enormen Einfluss auf ihre hochbegabten Mitschuler. Meist sind hochbegabte Kinder „AuBenseitertypen“, sehr haufig werden sie beleidigt und als Streber bezeichnet. Dadurch wird den Hochbegabten ihre Situation zusatzlich erschwert und es fallt ihnen noch schwerer, sich in die Klasse zu integrieren und gleichaltrige Freunde zu finden. Dies verstarkt ihren Drang zur Suche nach Entwicklungsgleichen, meist alteren Kindern mit gleichen Interessen und Neigungen.89

Monks betont die Bedeutung der Umwelt fur die Entwicklung von Hochbegabung. 90 Erst bei optimalem Ineinandergreifen und Zusammenwirken dieser sechs gleichberechtigten Faktoren (Intelligenz, Kreativitat, Aufgabenzuwendung, Familie, Schule und Peers) kann sich Hochbegabung in Form spezieller Fahigkeiten und ausgezeichneter Performanz entwickeln.91 Folglich ist Hochbegabung das Interaktionsprodukt von sechs Bedingungskomponenten92. Monks betont, dass zur Optimierung der Interaktion zwischen dem Individuum und seiner Umgebung ein gewisses MaB an sozialer Kompetenz Voraussetzung ist.93

Positiv anzumerken ist an diesem Modell, dass es um die drei Umweltkomponenten Familie, Schule und Peers erganzt wurde, da Hochbegabung kein statisches Objekt sondern das Resultat einer dynamischen Wechselwirkung zwischen individuellen Begabungsanlagen und dem fordernden bzw. hemmenden Einfluss der sozialen Umwelt ist. Leider bleibt bei seinen Ausfuhrungen unklar, wie sich die drei GroBen abgesehen von den drei sich uberschneidenden Kreisen, wechselseitig konkret beeinflussen. Auch bei Monks Modell wird fur Hochbegabung eine enorme Aufgabenmotivation als entscheidend angesetzt, was indirekt ebenso zur Gleichsetzung von Hochleistung und Hochbegabung fuhrt. Auch bietet es keine Erklarung fur das Auftreten von Underachievement bei Hochbegabten, sofern man diese nicht als Resultat von „schulischem Einfluss“ bezeichnen mochte. Ahnlich wie bei Renzulli findet hier auch ein Widerspruch zwischen theoretischer Implikation und praktischer Absicht statt, denn diejenigen Schuler, fur deren Entwicklungsbedingungen er sich einsetzen mochte, werden durch sein theoretisches Modell ausgeschlossen.94 AuBerdem hat Monks zwar den Begriff der sozialen Kompetenz erwahnt, jedoch nicht in sein Modell integriert. Sein Modell ist zu unprazise, was die genaue Definition der Zeitpunkte in der kindlichen Entwicklung betrifft, in der Interaktionen stattfinden, die sich auf die kognitive und psychosoziale Entwicklung auswirken.95

4.4. Das mehrdimensionale Begabungskonzept (Urban)

Das 1990 von Urban entwickelte Modell komponiert Intelligenz (aber auch soziale und kunstlerische Fahigkeiten) mit Faktoren der Personlichkeit und der sozialen Umwelt. Urban betont die „dynamische LernfahigkeiU, also die Kompetenz, in effektiver Weise schnell, tiefgehend und selbststandig zu lernen. Hierbei definiert Urban: „Als hochbegabt gilt nicht nur, wer in der Lage ist, Informationen von hohem Niveau intensiv und effektiv aufzunehmen, zu verarbeiten und anzuwenden, sowie kritisch zu bewerten und daraus neue Informationen zu produzieren, sondern auch, wer hierzu in die Lage versetzt werden kann.“96 Hierzu ist nach Urban zum einen eine Forderung durch die Umwelt notwendig und zum anderen Anstrengungsbereitschaft und ein gewisses MaB an Motivation seitens des Kindes.97

[...]

Ende der Leseprobe aus 151 Seiten

Details

Titel
Förderung von Hochbegabten durch die Regelschule - Ein pädagogisches Handlungsproblem in Theorie und Praxis
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
151
Katalognummer
V57694
ISBN (eBook)
9783638520607
Dateigröße
1841 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Förderung, Hochbegabten, Regelschule, Handlungsproblem, Theorie, Praxis
Arbeit zitieren
Andrea Szigeti (Autor:in), 2006, Förderung von Hochbegabten durch die Regelschule - Ein pädagogisches Handlungsproblem in Theorie und Praxis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57694

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