Während der Lektüre der Wahlverwandtschaften musste sich für den historischen Leser ein Wiedererkennungseffekt mit großem Identifikationspotenzial einstellen, denn zeitgenössische Themen und Fragestellungen werden in dem Roman ausführlich verhandelt. Der starke Verweischarakter zu historischen Diskursen findet in ästhetischer Hinsicht seinen Höhepunkt in den Szenen der lebenden Bilder oder „tableaux vivants“. Die vielen möglichen Lesearten der angesprochenen Szenen in den Wahlverwandtschaften und den damit verbundenen Schlussfolgerungen auf den Roman als Textganzes lassen keine eindeutige Interpretation zu, eine Tatsache, die auch die verschiedenen Aufsätze zu diesem Themenkomplex zeigt . Sowohl Charakterstudien, die wohl häufigste Leseart, als auch beispielsweise eine historisch- personifikatorische Interpretation legen einerseits zwar neue Bedeutungsschichten der lebenden Bilder in den Wahlverwandtschaften frei, andererseits verdecken solche Lektüren die Stellung und Funktion der Bilder für den ganzen Roman. Dass die Szenen der lebenden Bilder eine Schlüsselposition für den Roman einnehmen, scheint in der Wahlverwandtschaften-Forschung unwidersprochen. Der auf mehrere gesellschaftliche Diskurse um 1800 verweisende Aspekt dieser Szenen ist kaum zu leugnen, bei mehrmaliger Lektüre tauchen jedoch immer mehr Assoziationen, Ähnlichkeiten und Verbindungen zur Romanhandlung auf. Die Korrelation zwischen der Semantik der dargestellten Bilder und einzelnen Figuren, vor allem Luciane und Ottilie, sowie der Romanhandlung als Ganzes exponiert die lebenden Bilder innerhalb der Erzählung als besonderes Moment. In dieser Arbeit soll nun die außerästhetische Referenz der Szenen in rein formalistischen Gesichtspunkten besprochen werden, nämlich in Bezug auf die Frage: Wie präsentiert Goethe in den Wahlverwandtschaften die lebenden Bilder, die als visuelles, und nicht als sprachliches Phänomen zu verstehen sind? Erst die Analyse dieses Medienwechsels kann genaueren Aufschluss über die textimmanente Funktion der lebenden Bilder geben, welche vor allem die zeitliche Struktur der Erzählung sowie den Erzählfluss wesentlich beeinflussen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Zur sprachlichen Inszenierung eines visuellen Mediums
- Operationen der Zeitlichkeit
- Zusammenfassung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Text analysiert die Inszenierung lebender Bilder, „tableaux vivants“, in Goethes „Wahlverwandtschaften“ und ihre Bedeutung für die Erzählstruktur und das Verständnis des Romans. Ziel ist es, die Funktion dieser visuellen Momente im Kontext des Romans zu untersuchen.
- Die Rolle von „tableaux vivants“ als visuelles Medium im sprachlichen Kontext des Romans
- Die Auswirkungen der visuellen Elemente auf die zeitliche Struktur der Erzählung
- Der Bezug auf historische Diskurse und kulturelle Kontexte um 1800
- Die Verbindung zwischen den „tableaux vivants“ und den Figuren, insbesondere Luciane und Ottilie
- Die Analyse der formalen Aspekte der Inszenierung und ihre Rezeption durch die Figuren und den Leser
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Der Text beginnt mit einer Einführung in das Thema und stellt die Bedeutung der lebenden Bilder in Goethes „Wahlverwandtschaften“ heraus. Er hebt die Vielschichtigkeit der Interpretation dieser Szenen sowie deren Schlüsselposition im Roman hervor.
- Zur sprachlichen Inszenierung eines visuellen Mediums: Dieses Kapitel befasst sich mit der Präsentation der lebenden Bilder als visuelles Medium in einer sprachlichen Erzählung. Der Text analysiert die Art und Weise, wie Goethe die „tableaux vivants“ in den Roman integriert und die damaligen gesellschaftlichen Kontexte beleuchtet.
- Operationen der Zeitlichkeit: Das Kapitel untersucht, wie die lebenden Bilder die zeitliche Struktur der Erzählung beeinflussen. Der Text beleuchtet die unterschiedlichen Zeitebenen und deren Interaktion mit den visuellen Elementen.
Schlüsselwörter
Die zentralen Themen des Textes sind „tableaux vivants“, visuelle Medien, Erzählstruktur, Zeitlichkeit, historische Kontexte, „Wahlverwandtschaften“, Goethe, Luciane, Ottilie, Kunst und Kultur um 1800. Die Arbeit beschäftigt sich mit der Rezeption und Interpretation der visuellen Elemente im Kontext des Romans und deren Bedeutung für die Gesamtdeutung des Werkes.
- Arbeit zitieren
- Frank Dersch (Autor:in), 2005, Erzählte Bilder und deren Zeit(en) in Goethes Wahlverwandtschaften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57744