Ein Ding der Unmöglichkeit? Anwerbung und Organisierung von Fach- und Führungskräften in europäischen Gewerkschaften


Diplomarbeit, 2006

113 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


INHALT

I. EINLEITUNG

II. HANDLUNGSBEDINGUNGEN
1. Umweltfaktoren
1.1 Historisch-institutioneller Handlungsrahmen
1.1.1 Der Ansatz des Historischen Institutionalismus
1.1.2 Das Neo-Korporatismus-Konzept
1.2 Handlungstheoretischer Rahmen
1.3 Sozialstrukturelle Rahmenbedingungen
1.3.1 Wissensgesellschaft und Wissensarbeit
1.3.2 Arbeitkraftunternehmer und gewerkschaftliche Organisationsfähigkeit
1.3.3 Fach- und Führungskräfte in Europa (EUROCADRES 2005)
1.4 Externes Handlungsumfeld
2. Binnenfaktoren
2.1 Theorie der Gewerkschaften
2.2 Organisationsbereich
2.3 Internes Handlungsumfeld
2.4 Anwerbekultur
2.5 Gruppencharakteristika der Fach- und Führungskräfte
2.6 Direkte und indirekte Anwerbungsaktivitäten für Fach- und Führungskräfte

III. METHODISCHES VORGEHEN
1. Experteninterviews
2. Qualitative Inhaltsanalyse

IV. HANDLUNGSPERSPEKTIVEN
1. Beispiele aus Skandinavien
1.1 Die finnische Gewerkschaft TU
1.1.1 Gewerkschaft für alle Arten von Angestellten
1.1.2 Hochqualifizierte mit professioneller Identität
1.1.3 Organisierungsoffensive für „100% Organisationsgrad“
1.1.4 Studierende früh anwerben
1.1.5 Starker Präsident mit weitreichenden Steuerungskompetenzen
1.2 Die finnische Gewerkschaft ERTO
1.2.1 Kleine Spezialgewerkschaft
1.2.2 Systematisches Organisieren von „greenfield sites“
1.2.3 Erstaunliche Erfolge
1.3 Die dänische Gewerkschaft IDA
1.3.1 “Interessenorganisation” für Ingenieure
1.3.2 Individualisierte Fach- und Führungskräfte
1.3.3 „Gemeinschaft“ statt „Solidarität“ und vielfältige Dienstleistungen
1.3.4 Der Marketingmanager hat das Wort
1.3.5 Gewerkschaft oder Verkaufsorganisation?
1.4 Die schwedische Gewerkschaft Sif
1.4.1 Große Angestelltengewerkschaft
1.4.2 Studierende als wichtige Zukunftsinvestition
1.4.3 „Enabling“ statt „Relieving“
1.4.4 Betriebliche Präsenz
1.4.5 Gewerkschaft und Marktforschung:„strategic positioning“ und „service innovation“
1.4.6 Unzureichendes Wissensmanagement
2. Beispiele aus Deutschland und Österreich
2.1 Die deutsche Gewerkschaft IG Metall
2.1.1 Heterogene Industriegewerkschaft
2.1.2 Problem erkannt
2.1.3 Pluralismus der Konzepte
2.1.4 Kaum Budget für Angestellte
2.2 Die deutsche ver.di und ihr Projekt für Medienschaffende „connexx.av“
2.2.1 Große Dienstleistungsgewerkschaft
2.2.2 Medienbeschäftigte = Fach- und Führungskräfte?
2.2.3 Eigenverantwortlich und qualitätsliebend
2.2.4 Prinzip des „selben Stallgeruchs“
2.2.5 Wenig Personal und Ressourcen
2.3 Die österreichische GPA und ihre „Interessengemeinschaften“
2.3.1 Gewerkschaft der Privatangestellten
2.3.2 Das Konzept der Interessengemeinschaften
2.3.3 work@professional
2.3.4 Fach- und Führungskräfte in den höchsten Gremien
3. Ein Beispiel aus Belgien
3.1 Die belgische LBC-NVK
3.1.1 Reine Angestelltengewerkschaft
3.1.2 Fach- und Führungskräfte als Spielball der Unternehmen
3.1.3 Kollektive und individuelle Integration
4. Ein Beispiel aus Großbritannien
4.1 Die britische Gewerkschaft Amicus
4.1.1 Fusionierte allgemeine Gewerkschaft
4.1.2 Starke Kollektiv- und Betriebszentriertheit bei der Anwerbung

V. GEWERKSCHAFTEN IM KONTEXT IHRER STRUKTURBEDINGUNGEN
1. Die Strukturbedingungen skandinavischer Gewerkschaften
1.1 Exkurs über Besonderheiten der finnischen Rahmenbedingungen
1.2 Die finnische TU
1.3 Die finnische ERTO
1.4 Die dänische IDA
1.5 Die schwedische Sif
2. Die Strukturbedingungen deutscher und österreichischer Gewerkschaften
2.1 Deutsche Strukturbedingungen
2.2 Die deutsche IG Metall
2.3 Die deutsche ver.di
2.4 Österreichische Strukturbedingungen
2.5 Die österreichische GPA
3. Die Strukturbedingungen belgischer Gewerkschaften
3.1 Die belgische LBC-NVK
4. Die Strukturbedingungen britischer Gewerkschaften
4.1 Die britische Amicus
5. Typologie der untersuchten Fälle nach Strukturbedingungen
6. Typologie der untersuchten Fälle nach Organisationsbereich

VI. SCHLUSSFOLGERUNGEN

VII. LITERATURVERZEICHNIS

VIII. ANHANG
1. Interviewleitfaden

I. EINLEITUNG

Die Frage nach der „Zukunft der Gewerkschaften“ wird in zahlreichen Veröffentlichungen der letzten Jahre diskutiert (z.B. Basset/Cave 1993; Heery/Kelly 1994; Wiesenthal/Clasen 2003; Schroeder 2003; Funk 2003; Klammer/Hoffmann 2003; Frerichs et. al 2004). Einige Autoren fühlen sich sogar zu der Frage „Wozu noch Gewerkschaften?“ (Negt 2004) verleitet. Dabei steht zumeist die Beobachtung im Mittelpunkt, dass die arbeitsgesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in den meisten westeuropäischen Staaten zu dramatisch rückläufigen Mitgliederzahlen und – mangels ihrer Öffnung für neue Typen von Mitgliedern – unzeitgemäßen Mitgliederstrukturen der Gewerkschaften geführt haben. Dadurch geschwächt seien sie nun in einer Situation, in der sie sich nach außen gegenüber Staat und Gesellschaft sowie nach innen gegenüber ihren bestehenden und potentiellen Mitgliedern als wichtige gesellschaftliche Großverbände neu legitimieren und ihren Bestand sichern müssen.

Die Zeiten, in denen industrielle Massenproduktion und fordistischer Großbetrieb die gesellschaftliche Reproduktion kennzeichneten und in denen es Gewerkschaften relativ leicht hatten, durch kollektive Bündelung homogener Klasseninteressen die Verkaufs- und Anwendungsbedingungen der Arbeitskraft zu regulieren, sind schon Mitte der Siebzigerjahre aufgrund des „Coming of Post-Industrial Society“ für beendet erklärt worden (Bell 1973). Arbeitsgesellschaftliche Veränderungen, wie die Technisierung und Rationalisierung von Produktionsabläufen, die Verschiebung der Nachfrage (und des Angebotes) von Konsumgütern zu Dienstleistungen, der fortschreitende Wandel hin zu wissensbasierten Tätigkeiten und die neo-fordistische, globale Arbeitsteilung, die oft mit Auslagerungen einfacher Arbeitsplätze in Schwellenländer einhergeht, führ(t)en in allen europäischen Staaten tendenziell zur Ablösung manueller Güterproduktion durch nicht oder nicht primär händische Produktionsformen. Wissensbasierte Tätigkeiten gewinnen in allen gesellschaftlichen Funktionssystemen (Willke 2001) an Bedeutung und gehen einher mit höheren Qualifikationsanforderungen an die Beschäftigten, ergebnisorientierten Formen der Arbeitsorganisation und einer Tendenz zu individualisierter Regulation von Arbeitsverhältnissen (Töpsch et al. 2001).

Trotzdem repräsentieren viele Gewerkschaften mit ihren Mitgliedern noch immer die Verhältnisse der Industriegesellschaft. Besonders stark ist dies beispielsweise in den deutschen Industriegewerkschaften ausgeprägt. Der einst gesellschaftlich dominante Facharbeiter ist im DGB mit 57% der Mitglieder[1] (DGB 2003) heute weit überrepräsentiert. Angestellte, Hochqualifizierte, Frauen und Jugendliche sind dagegen nicht genügend vertreten. Dabei sind die Gewerkschaften seit geraumer Zeit mit den sozialstrukturellen Veränderungen vertraut.

Angesichts des Wandels der europäischen Länder zu Wissensgesellschaften und der damit verbundenen arbeitsgesellschaftlichen Umorganisierungs- und Destandardisierungsprozesse soll in dieser Studie das Verhältnis europäischer Gewerkschaften zu hochqualifizierten Fach- und Führungskräften untersucht werden. Wie die im folgenden Kapitel vorzunehmenden Definitionen, Abgrenzungen und Analysen zeigen werden, handelt es sich dabei um eine inzwischen 17,5% der europäischen Gesamtarbeitnehmerschaft stellende Gruppe, die in den letzten Jahren ein stetiges Wachstum aufweist und deswegen von den Gewerkschaften auf keinen Fall vernachlässigt werden darf. Gleichzeitig sind es jedoch die Mitglieder dieser Gruppe, die sich besonders durch individualisierte Einstellungen und eigenverantwortliches Problemlöseverhalten auszeichnen und deren Arbeitsverhältnisse aufgrund ständig fortschreitender Entstandardisierung nur schwer durch allgemeine und standardisierte Formen der Arbeitsregulation abzusichern sind. Um Fach- und Führungskräfte als Mitglieder anzuwerben, sind neue gewerkschaftliche Konzepte gefragt, die differenzierter als bisher auf spezifische Gruppen- und Individualbedürfnisse eingehen können, dabei aber die Integrität (und Stärke) der Gesamtorganisation unangetastet lassen und die Interessen der bestehenden „Basis“ nicht vernachlässigen. Dieser mitgliederpolitische Spagat ist schon aus Gründen des Selbsterhaltes unausweichlich, wollen die Gewerkschaften ihrer stetigen Überalterung, Verkleinerung und ihrem Bedeutungsverlust entgegenwirken und ihr sozio-ökonomisches und sozio-politisches Mandat, das sie für alle Arbeitnehmer in Anspruch nehmen, weiterhin legitimiert wissen.

Es soll hier im Folgenden die These vertreten werden, dass die Gewerkschaften diese Herausforderung – die Anwerbung von Fach- und Führungskräften – zu einem Teil selbständig durch geeignete Strategien bewältigen können (vgl. Dolvik/Waddington 2004). Damit wird explizit einem passiven Determinismus widersprochen, der ausschließlich institutionelle Rahmenbedingungen als bestimmend für gewerkschaftliche Stärke (bzw. Schwäche) sieht (Ebbinghaus/Visser 1998), oder einem „unausweichlichen“ Umbau der Gewerkschaften zu reinen Service-Organisationen nach dem Vorbild des Automobilclubs das Wort redet (Basset/Cave 1993). Zwar ist der direkte Einfluss der einzelnen europäischen Gewerkschaftsbewegungen auf ihre Organisationsgrade begrenzt. Sie sind in ein Set von Wirkgrößen eingebettet, zu denen der historisch-institutionelle Rahmen eines Landes, sozialstrukturelle und handlungstheoretische Faktoren zählen. Die Bedeutung dieser und anderer Faktoren für Gewerkschaftshandeln soll hier zu Beginn allgemein und im Schlusskapitel spezieller diskutiert werden. Allerdings liegt der Schwerpunkt dieser Untersuchung nicht auf der Analyse von Rahmenbedingungen und ihrer Wirkungen auf gewerkschaftliches Handeln, sondern auf der Darstellung und Diskussion eben dieses Handelns, in Form verschiedener – mehr oder weniger erfolgreicher – gewerkschaftlicher Strategien der Anwerbung von Fach- und Führungskräften.

Im ersten Kapitel sollen zunächst die wichtigsten Struktur- und andere Bedingungen, die für gewerkschaftliches Handeln in einem nationalen bzw. im europäischen Kontext relevant sind, anhand eines Modells gewerkschaftlichen Handelns erläutert werden. Wichtige Fragen, die zu klären sein werden, betreffen beispielsweise die Ursachen der im europäischen Vergleich sehr unterschiedlich ausgeprägten korporatistischen Arrangements und ihre Auswirkungen auf Umfang und Qualität gewerkschaftlicher Handlungsalternativen. Auch die Motive, die Individuen zu kollektivem Handeln bewegen, müssen untersucht werden. Außerdem gilt es, die Spezialisierung dieser Studie auf Fach- und Führungskräfte detaillierter zu begründen und die Besonderheiten dieser Gruppe gegenüber anderen Arbeitnehmern herauszuarbeiten. Zu diesem Zweck wird eine quantitative Studie des Rates der Europäischen Fach- und Führungskräfte (EUROCADRES) hinzugezogen. Schließlich wird zu klären sein, inwiefern sich Fach- und Führungskräfte gegenüber Gewerkschaften und ihren Programmen zurückhaltender verhalten als „konventionelle“ Arbeitnehmergruppen. Dass sie dies tun steht für zahlreiche Autoren fest und wird mit dem traditionell höheren gesellschaftlichen Status hochqualifizierter Experten, berufsständischem Professionalismus aber auch mit eigenverantwortlicher Arbeitsorganisation und einer am Firmenwohl orientierten Arbeitsauffassung begründet (z.B. Töpsch et al. 2001).

Im Hauptteil werden Handlungsperspektiven der gewerkschaftlichen Anwerbung von Fach- und Führungskräften beispielhaft anhand von neun europäischen Gewerkschaften aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Finnland, Österreich und Schweden erschöpfend dargestellt. Diese Darstellung schließt die Betrachtung der jeweiligen Besonderheiten, welche die Handlungsoptionen einer Gewerkschaft definieren, mit ein. Dazu gehören etwa ihr internes und externes Handlungsumfeld, ihr Organisationsbereich, ihre Interpretation und Bewertung gesellschaftlicher Entwicklungen, sowie die ihrer Auffassung nach entscheidenden Problem- und Interessenlagen von Fach- und Führungskräften. Ziel ist es, eine einzelne Anwerbestrategie möglichst sauber heraus zu präparieren und sie vor dem Hintergrund der jeweils gegebenen Möglichkeiten und Selbstverständnisse vorzustellen.

Abschließend sollen die beschriebenen Rekrutierungsansätze im Kontext ihrer Strukturbedingungen bewertet werden. Zu diesem Zweck wird unter anderem auf die eingangs behandelten Theoriekonzepte rekurriert und differenziert ihre Auswirkungen auf einzelne Anwerbestrategien diskutiert. Obwohl mit dieser Studie in keinster Weise der Anspruch von Repräsentativität erhoben wird, steht an ihrem Ende der Versuch einer Typologie der untersuchten Anwerbestrategien. Hierzu werden zwei verschiedene Konzepte vorgeschlagen, die sich auf unterschiedliche Annahmen stützen.

II. HANDLUNGSBEDINGUNGEN

Das gewerkschaftliche Handeln ist keineswegs unabhängig von äußeren und inneren Einflüssen. Zu dieser Erkenntnis gelangte bereits Streeck (1981), als er ein Schema zur Erklärung der Verfolgung oder Ablehnung kooperativer Politik von Gewerkschaften gegenüber dem Staat entwickelte. Er ging davon aus, dass eine bestimmte Umweltkonstellation, vermittelt über die Organisationsstruktur (idealerweise die Einheitsgewerkschaft) der Gewerkschaft, eine bestimmte Gewerkschaftspolitik hervorbringt. Der Erfolg oder Misserfolg dieser Politik bei der Durchsetzung von Interessen entscheidet, vermittelt über eine reflexiv modifizierte Organisationsstruktur, darüber, ob die Kooperation zukünftig gewählt werden wird. Traxler (1982) hat diesen Ansatz verfeinert und die Umwelteinflüsse differenziert. Er unterscheidet ökonomische Situation, Sozialstruktur, politisches System und Mitgliederinteressen. Wie bei Streeck wird der Balanceakt zwischen Mitgliederinteressen und Bestandssicherung durch Anpassung der Organisationsstruktur an die Umwelt zu erreichen versucht (siehe Abbildung 1).

Dieses Modell soll für die vorliegende Studie als Ordnungsschema der verwendeten theoretischen Ansätze dienen. Wie aus Abbildung 2 zu ersehen ist, wurde das Schema Streecks und Traxlers prinzipiell beibehalten und eine Unterteilung der Einflussfaktoren in äußere Faktoren, Faktoren innerhalb der Gewerkschaft und das gewerkschaftliche Handeln als abhängiger Variable vorgenommen. Zu den Umweltfaktoren gehören der historisch-institutionelle Handlungsrahmen, der handlungstheoretische Rahmen, sozialstrukturelle Rahmenbedingungen und das externe Handlungsumfeld. Ökonomische Einflussfaktoren wie etwa die wirtschaftliche Lage wurden aufgrund des beschränkten Rahmens hier nicht berücksichtigt, haben aber im Falle gesamtgesellschaftlich wirksamer Konjunkturschwankungen sehr wohl Bedeutung für gewerkschaftliches Handeln. Gegenüber Traxlers Ansatz wurde außerdem die „black box“ Gewerkschaft geöffnet und eine Reihe weiterer Faktoren eingeführt. Diese sind der Organisationsbereich, das interne Handlungsumfeld, die Anwerbekultur und die von der Gewerkschaft wahrgenommenen und besonders betonten Kennzeichen der Gruppe der Fach- und Führungskräfte. Diese Faktoren vermitteln zwischen der unabhängigen Variable „Umwelt“ und der abhängigen Variable „direkte und indirekte Anwerbungsaktivitäten“. Die erfolgreiche oder nicht erfolgreiche Anwerbung von Fach- und Führungskräften als Mitglieder führt zu einem Anpassungsprozess, in dem die Gewerkschaft versucht, die Anwerbeaktivitäten zu

Abb. 1: Traxlers Modell zur Erklärung von Gewerkschaftsverhalten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Traxler 1982

Abb. 2: Gewerkschaftliches Anwerbeverhalten im Kontext von Umwelt- und Binnenfaktoren

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: eigene Darstellung

optimieren. Den Schwerpunkt dieser Untersuchung bildet, daher fett gerahmt, das gewerkschaftliche Handeln in Form von Anwerbungsaktivitäten bezüglich der Gruppe der Fach- und Führungskräfte. Zunächst sollen aber die einzelnen Einflussfaktoren definiert, voneinander abgegrenzt und mit dem bereits existierenden Wissen (Theorien) in Verbindung gesetzt werden.

1. Umweltfaktoren

1.1 Historisch-institutioneller Handlungsrahmen

1.1.1 Der Ansatz des Historischen Institutionalismus

Unter dem historisch-institutionellen Handlungsrahmen in einem Land X sollen hier die jeweiligen geronnenen Interessenkompromisse verstanden werden, die vergangenes und aktuelles Handeln von Gewerkschaften in Land X beeinfluss(t)en. Oft ist in diesem Zusammenhang auch von der „Pfadabhängigkeit“ (z.B. Müller-Jentsch 1997, S. 51) sozio-politischer Entwicklungen und dem historischen Institutionalismus die Rede.

Der historische Institutionalismus beschreibt die Entstehung von Institutionen evolutionstheoretisch als Resultat historischer Interessen- und Machtkonstellationen. Sie sind weder per Dekret noch durch Vertrag entstanden, ihr Vorhandensein ist also nicht das Ergebnis irgendeiner rationalen Planung. Vielmehr sind sie „– aus kleinen Anfängen der Gewöhnung an eine als Problemlösung empfundene Regelmäßigkeit – schließlich zu einer sanktionierten und als sinnvoll und legitim empfundenen Regel geworden und haben sich auf dem Wege dahin Schritt für Schritt verändert – und tun es weiterhin“ (Esser 2000, S.38). Nach dem Muster der Darwin’schen Evolutionslehre setzen sich dabei jene Institutionen durch, die die jeweils gegebenen Interessen- und Machtkonstellationen adäquat zum Ausdruck bringen. Dem Staat fällt im Prozess der Institutionenbildung eine wichtige Rolle zu, weil er den Institutionen durch Recht und Gesetz Stabilität verleihen kann (Müller-Jentsch 1997, S. 64f). Dies führte auf dem Feld der Wirtschaftspolitik zur „Institutionalisierung des Klassengegensatzes“ (Geiger 1949) und stattete die in Verbänden organisierten Arbeitnehmer mit besonderen, industriellen Rechten aus. T.H. Marshall (1963) sah die Herausbildung von Institutionen wie Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie und Mitbestimmung als Teil eines Evolutionsprozesses, der mit der sukzessiven Etablierung ziviler, politischer und sozialer Bürgerrechte begann und mit den industriellen Bürgerrechten seine nächste, aktuelle Entwicklungsstufe erreicht hatte.

1.1.2 Das Neo-Korporatismus-Konzept

Eine eingehendere Betrachtung der institutionalisierten Beteiligung der Bürger bei der „Gestaltung des Arbeitsverhältnisses und des gesamten Wirtschaftslebens“ (Korsch 1968) ermöglichen die politikwissenschaftlichen Neo-Korporatismuskonzepte, die ihre Wurzeln in den 1974 erschienenen Aufsätzen von Schmitter und Lehmbruch haben. Zusammen mit Streeck, von Alemannn und Heinze sind sie die bedeutensten Vertreter des sogenannten „gesellschaftlichen“ (Schmitter 1974), „liberalen“ (Lehmbruch 1974) oder einfach „Neo“-Korporatismus. Diese Begrifflichkeiten sollen den Korporatismusbegriff von autoritären Formen der Instrumentalisierung von Verbänden durch den Staat in der Zwischenkriegszeit und der Praxis verschiedener autoritärer Regime der europäischen Vergangenheit abgrenzen.

Unter Neo-Korporatismus versteht man die starke Verflechtung von Staat und Verbänden – von Alemann/Heinze (1981) sprechen von einer „symbiotischen Verklammerung“ – , die gekennzeichnet ist von der Übernahme traditioneller Staatsaufgaben durch Verbände (z.B. Teilnahme an exekutiven Entscheidungsstrukturen) und der im Gegenzug institutionalisierten Flankierung und Sanktionierung verbandlicher Lösungen durch den Staat. Meistens handelt es sich dabei um problemlösende Arrangements zwischen den Verbänden der Arbeitnehmer bzw. Unternehmer und dem Staat, weswegen Korporatismus oft auch als „tripartite arrangements“ charakterisiert wird (vgl. Kuhn 1981). Damit muss Korporatimus klar von Pluralismuskonzepten getrennt werden. Diese analysieren das Verhältnis zwischen Staat und Verbänden als freien Wettbewerb aller möglicher, grundsätzlich chancengleicher „pressure groups“, die den politischen Prozess zu ihren Gunsten beeinflussen wollen. Dabei herrsche ein Gleichgewichtszustand zwischen den verschiedenen Interessen, der trotz harter Konflikte stets wieder hergestellt werde (vgl. hierzu Bentley 1908; Truman 1951). Demgegenüber bevorzugen korporatistische Staaten systematisch einzelne Verbände und statten sie mit besonderen Befugnissen und der Verantwortung für bestimmte Politikbereiche aus. Diese Beteiligung der Verbände am „decision-making process“ führt in der Praxis zusammen mit personellen Verflechtungen zwischen staatlichen Akteuren (Parteien) und Verbandsspitzen zu einer – im Vergleich zu herkömmlichen Methoden des Lobbying – direkteren und effizienteren Durchsetzbarkeit von Mitgliederinteressen, sofern der Staat über genügend fiskalische und Machtressourcen zur Realisierung von Zugeständnissen an Verbände verfügt. Allerdings hat Lehmbruch (1974) den Aspekt eingeführt, dass nicht nur Verbände den Staat instrumentalisieren, sondern auch der Staat ein Interesse an kontrollierter Verbandstätigkeit hat. Verbände haben aus dem Blickwinkel des Staates die Aufgabe, ihre Mitglieder zur Anerkennung und Umsetzung zentral getroffener Vereinbarungen zu verpflichten. Solche zentral verhandelten Kompromisse schließen meist mit ein, dass Interessen bestimmter Mitgliedergruppen nicht berücksichtigt werden können, was zu Ressourcenentzug durch diese Gruppen führen kann. Wollten die Verbände allerdings die Durchsetzung ihrer sämtlichen Interessen erzwingen, würde ihre Kompromissfähigkeit darunter leiden, ihr Einfluss auf die Staatstätigkeit abnehmen. Der neo-korporatistische Tausch mit dem Staat führt so letztlich zum Zwang des permanenten Balancierens der Verbandsspitzen zwischen Mitgliedschafts- und Einflusslogik.

Zentral in der Korporatismusdebatte der Siebziger- und Achtzigerjahre war die Frage nach den Bedingungen, unter denen Staat und Verbände zu kooperativer bzw. neo-korporatistischer Politik bereit sind. Eine Dimension dieser Diskussion war der Gedanke der „Unregierbarkeitsthese“. Danach sei der Staat zunehmend mit der Kontrolle und Regulierung aller Politikbereiche überfordert, weshalb er immer mehr öffentliche Aufgaben an private Verbände delegieren müsse. Allerdings wurde diese Argumentation mit dem Hinweis auf die Beschränktheit korporativer Arrangements auf den Bereich der Wirtschaftspolitik kritisiert (von Beyme 1981). Viele andere Bereiche wie etwa die Umweltpolitik (man beachte: 1981!) seien aufgrund ideologisch getrennter Lager weiterhin eher konflikt- denn kompromissgeprägt, weshalb die Unregierbarkeitsthese die Verwendung von Korporatismuskonzepten bei der Makroanalyse gesellschaftlicher Verhältnisse nicht rechtfertige.

Die wesentlichen Voraussetzungen korporatistischer Arrangements hat Schmitter (1974, S. 107f) definiert. Ausgehend von seinem Modell, das Pluralismus, Korporatismus und Syndikalismus als historisch aufeinander folgende Idealtypen zur Beschreibung sozio-politischer Systeme sieht, definiert er die Bedingungen für den Schritt vom Pluralismus zum Korporatismus so:

- Verstärkung der ökonomischen Konzentration und der
- Konkurrenz zwischen nationalen Volkswirtschaften,
- Ausdehnung des Staatsinterventionismus in alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche,
- Rationalisierung der staatlichen Entscheidungsprozesse, um
- untergeordnete Statusgruppen stärker in den politischen Prozess zu inkorporieren;
- die Steuerung dieser Prozesse verlangt ein stabiles, pluralistisches Ordnungssystem, das durch
- gesellschaftlichen Korporatismus die vorher pluralistisch zersplitterte Interessenstruktur stärker zusammenzubinden in der Lage ist.

Das Zustandekommen institutionalisierter korporativer Zusammenarbeit von Staat und Verbänden wurde mit verschiedenen Ansätzen zu erklären versucht. Von Alemann und Heinze (1981) setzen den von ihnen in der einschlägigen Literatur wahrgenommenen vier Hauptvarianten (sozio-politische(s) bzw. sozio-ökonomische(s) System bzw. Strukturvariante) ihren eigenen Ansatz der „neo-korporatistischen Strategie“ entgegen. Zahlreiche andere Autoren (Streeck 1981; Traxler 1982; Lehmbruch 1983) haben daran angeschlossen, weswegen dieser Ansatz auch für diese Arbeit maßgeblich sein wird. Vorbild für von Alemann und Heinze war die sogenannte „Konzertierte Aktion“ in den Sechzigerjahren, deren Gegenstand der Tausch einer bestimmten Wirtschaftspolitik der Regierung gegen eine bestimmte Lohnpolitik der Gewerkschaften war. Ihr Scheitern durch den Austritt der Gewerkschaften 1977 widerlegte die Theorien vom Korporatismus als Strukturvariante bzw. System, die von einer irreversiblen gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der immer weiteren Verflechtung überzeugt waren. Korporatismus als kooperative Politik musste somit eine frei wählbare Strategie sein, die neben der „voice“-[2] auch die „exit“-Option beinhaltete. Gleichzeitig wähle der Staat aber immer öfter diese Strategie der grundsätzlich frei bleibenden Inkorporierung von Verbänden, da die Parteien mit einem Funktionsverlust konfrontiert seien und das Parlament die Volkssouveränität nicht mehr angemessen verkörpern könne (von Alemann/Heinze 1981, S. 61).

Bezogen auf die in diesem Kapitel interessierenden Rahmenbedingungen für gewerkschaftliches Anwerbeverhalten ist Neo-Korporatismus insofern interessant, als er von von Alemann und Heinze als gradualistisches Konzept klassifiziert wird. Unterschiedliche Länder weisen demnach zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich ausgeprägte korporatistische Strukturen auf. Damit eigne sich Neo-Korporatismus gut als Analyseinstrument liberal-demokratischer Staaten (von Alemann/Heinze 1979, S.48). Insbesondere unter Hinzunahme des eingangs beschriebenen historischen Institutionalismus kann das Konzept des strategischen Neo-Korporatismus einen wichtigen Beitrag zur Erklärung der im europäischen Vergleich sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen für gewerkschaftliches Handeln liefern.

Kuhn (1981) beschreibt eingehend die historische Entwicklung neo-korporatistischer Strukturen in Skandinavien, dessen Konkordanzdemokratien häufig als Idealtypen korporativer Politik angeführt werden. Am Beispiel Schwedens zeigt er, dass

- eine stabile Arbeiterbewegung mit einem politischen und einem ökonomischen Arm sowie Partizipationschancen für die Mitglieder,
- die Lernfähigkeit der korporatistischen Organisationen und
- stabile politische Situationen

die Bedingungen für stabile neo-korporatistische Strukturen bilden, wie sie in Skandinavien anzutreffen sind (Kuhn 1981, S.229). Anfängliche informelle Treffen zwischen Regierungs- und Gewerkschaftsvertretern waren auf die äußerst enge Verbindung einer starken Arbeiterpartei mit der Gewerkschaftsbewegung zurückzuführen. Ab 1962 wurden Planungsräte eingeführt, die in der Regierungskanzlei tagten und paritätisch besetzt waren. Nach und nach wurde es selbstverständlich, dass die großen Organisationen an vielen Entscheidungsprozessen über alle Klassengrenzen hinweg beteiligt wurden und dass dies mittels paritätischer Ausschüsse auf allen Verwaltungsebenen geschah. Kuhn spricht sogar von einem „korporativen Subsystem“, welches sich zur Steuerung der Einkommenspolitik neben dem parlamentarischen System herausgebildet habe. Staat und Gewerkschaften bilden dort ein System der Arbeitsteilung: Der Staat sei für Preisstabilität, Wachstum und Vollbeschäftigung sowie eine selektive und aktive Arbeitsmarktpolitik zuständig, die denjenigen, die durch die sogenannte „solidarische Lohnpolitik“ der Gewerkschaften ihre Arbeit verloren haben, Weiterbildung, Umschulung und Ersatzbeschäftigung garantiere. Diese „solidarische Lohnpolitik“, Hauptaufgabe der Gewerkschaften im arbeitsteiligen System, habe zum Ziel, Lohnungleichheiten zu vermindern und äußere sich in der Aushandlung von Zuschlägen für die unteren Lohngruppen. Kuhn weist mehrfach daraufhin, dass eine solch starke korporative Verflechtung von Staat und Verbänden maßgeblich auf ähnliche ideologische Überzeugungen aller Beteiligten zurückzuführen sei. Nur durch die über Jahrzehnte ununterbrochene Regierung der Sozialdemokraten sei eine solche Entwicklung realisierbar gewesen. Ein weiterer zentraler Faktor sei die Herausbildung von Elitenkartellen durch Expertensozialisation in Parteien und Verbänden. Die Sozialisation konformitätsbereiter Eliten, die in partei- und verbandsinternen Laufbahnen den Zwang zum Kompromiss, die Politik des Einverständnisses und die Zusammenarbeit über Klassengrenzen hinweg internalisieren, werde zusätzlich durch wissenschaftliche (staatliche) Institute tradiert, die Kompromissentscheidungen als rationale Politik rechtfertigen. Die Auswirkungen eines derart hohen Maßes an institutionalisierter Kompromissorientierung der politischen Entscheidungsfindung sieht Kuhn vor allem in der Ablösung des pluralistischen Wettbewerbes durch die Verhandlung und die hierarchisch bürokratische Anweisung.

Vergleicht man Skandinavien mit anderen europäischen Staaten, so sind hier nicht nur die Regeln der Kooperation sondern auch ihre Inhalte traditionell unumstritten. Dies ermöglichte die Herausbildung beispielloser Wohlfahrtsstaaten, die zugleich als riesige Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dienen und über tiefgreifende Verhandlungs- und Partizipationssysteme erneut große Teile der Arbeitnehmer in die Mitbestimmung bei der staatlichen Verwaltung einbinden. Zwar kennen auch die meisten anderen Länder korporatistische Konfliktlösungsstrategien, wie etwa die Sozialpartnerschaften in Belgien und Österreich oder die Konzertierte Aktion in der Bundesrepublik zeigen. Diese Arrangements sind jedoch keineswegs von ideologischer Gleichgesinntheit oder langfristiger inhaltlicher Kooperation der Beteiligten geprägt (gewesen), sondern zeichnen sich tendenziell eher duch die Einigkeit über die Modalitäten der Entscheidungsfindung aus, wenn auch in Belgien und Österreich durchaus enge Formen der Zusammenarbeit auf den Ebenen der Sozialsysteme und der Wirtschaftspolitik bestehen.

Ebbinghaus und Visser (1998) machen die unterschiedlich ausgeprägten korporativen Arrangements in den europäischen Staaten hauptverantwortlich für die großen Unterschiede in den gewerkschaftlichen Organisationsgraden und führen diese auf die unterschiedlichen direkten Einflusschancen am Arbeitsplatz und auf zentraler Ebene, sowie auf unterschiedlich ausgeprägte Wohlfahrtsrollen der Gewerkschaften zurück. Institutionelle Settings strukturieren ihnen zufolge die Alternativen und bestimmen Optionen und Einschränkungen für Gewerkschaften. Ideale historisch-institutionelle Rahmenbedingungen können die Gewerkschaften von einem Teil der Anwerbearbeit gegenüber Neumitgliedern entlasten, da Mitglieder tendenziell automatisch beitreten (Leonardi 2006). Auf diese Weise kann die Auswahl der Anwerbemethodik, um die es hier gehen wird, beispielsweise von finanziellen Zwängen und Verbindlichkeiten gegenüber „alten“ Mitgliedern befreit erfolgen. Außerdem könnte das eher konfliktarme Umfeld der skandinavischen Länder zur Entwicklung der dort typischen (aber tendenziell durchsetzungsschwächeren), nach Berufen unterteilten Organisationsstrukturen der Gewerkschaftssysteme beigetragen haben, die – verglichen mit Industriegewerkschaften – eine vollständigere Berücksichtigung von Subinteressen bei selektiven Leistungen und bei zentral geführten Verhandlungen erlauben. Dadurch kann dem Entzug von Ressourcen durch Mitgliedergruppen vorgebeugt und das Vertrauen in die Durchsetzbarkeit individueller Interessen gestärkt werden. Insbesondere Vertreter der Politischen Ökonomie wie Colin Crouch (Crouch 1982) glauben – allerdings weiter differenziert – , dass dies für den Beitritt von Mitgliedern elementar ist.

1.2 Handlungstheoretischer Rahmen

Eine wichtige Frage, die sich Gewerkschaften bei der Entwicklung von Anwerbestrategien stellen müssen, ist die, warum, aus welcher Motivation heraus, Menschen ihrer Organisation beitreten und in ihr Mitglied bleiben. Zwei mögliche Ansätze sind denkbar. Einerseits könnten immaterielle Werte und Überzeugungen, wie z.B. ein Bewusstsein für die bessere kollektive Durchsetzbarkeit von Interessen oder die Solidarität mit Individuen in ähnlichen sozio-ökonomischen Lagen, letztlich also die Existenz des Kollektivs an sich zum Beitritt führen. Andererseits könnten dafür rationale Kosten-Nutzen-Abwägungen verantwortlich sein, die den gezahlten Mitgliedsbeitrag mit individuell ableitbaren materiellen Vorteilen „verrechnen“ und nur bei erwarteten „Gewinnen“ zum Beitritt führen. Dieses Verhalten ähnelt stark einer kommerziellen Kaufentscheidung. Für Gewerkschaften als Organisationen, die traditionell Kollektivgüter anbieten, stellt sich dabei eine grundlegende Problematik: Ihre „Produkte“[3] sind nicht-auschließbar und nicht-rival, können also legal in Anspruch genommen werden, ohne dass dafür bezahlt werden muss und während ein anderer sie nutzt. Warum also sollte jemand einen regelmäßigen Beitrag bezahlen, um Güter zu erhalten, in deren Genuss er ohnehin kommt? Es liegt auf der Hand, dass Gewerkschaften nicht existieren würden, wenn nicht irgendwelche Anreize zum Beitritt[4] bestehen würden. Diese liegen Olson (1968) zufolge jedoch nicht in der Erkenntnis einzelner Individuen, dass sie zur Produktion des Kollektivgutes gebraucht werden. Er vergleicht (große) Gruppen und ihre Mitglieder mit einem Staat und seinen Steuerzahlern. Niemand würde freiwillig Steuern zahlen, wohlwissend, dass ohne Steuereinnahmen kein Staat und somit kein gemeinsamer Wohlstand möglich wäre. Der Grund hierfür sei, dass Individuen ihren Beitrag bei der Produktion des Kollektivgutes als so gering erachten, dass sein Wegfall keine spürbare Verschlechterung bei der Menge und Qualität des Kollektivgutes zur Folge hätte. Olson folgert daraus, dass es einen Zusammenhang zwischen der Größe einer Gruppe und der Wahrscheinlichkeit gibt, dass ein Kollektivgut bereit gestellt wird. In kleinen Gruppen sei diese Wahrscheinlichkeit aus zwei Gründen höher, als in großen.

Erstens weil es zur Herstellung eines Kollektivgutes notwendig ist, dass ein Einzelner einen so großen Vorteil davon hat, dass die Kosten der Herstellung für ihn geringer sind, als sein individueller Nutzen. Ein Einzelner produziert sich sozusagen einen persönlichen Vorteil, den er notgedrungen mit anderen teilen muss. Je größer aber die Gruppe ist, für die er das Kollektivgut bereitstellen muss, umso größer werden die Herstellungskosten, die nur durch einen höheren Nutzen für den Produzenten ausgeglichen werden können.

Zweitens neigen große Gruppen dazu, suboptimale Mengen des Kollektivgutes bereit zu stellen. Hat ein Einzelner, der einem Kollektivgut einen so großen Nutzen beimisst, dass er dafür die Kosten der Produktion des Kollektivgutes zu tragen bereit ist, seine benötigte Menge produziert, so stoppt er diese und die anderen Mitglieder nehmen sich ihren Teil vom nicht-ausschließbaren „Kuchen“. Sie haben keinen Anreiz zur Produktion eigener „Stücke“ des Kollektivgutes mehr, da sie ohnehin schon mehr haben, als sie für sich selbst hergestellt hätten. Je mehr Mitglieder eine Gruppe umfasst, desto suboptimaler ist somit die Gesamtversorgung dieser Gruppe mit dem Kollektivgut. Im Verständnis Olsons handelt also eine Gruppe mit steigender Größe immer weniger in ihrem eigenen Interesse.

Bezogen auf Gewerkschaften ist Olson zufolge der einzige Ausweg aus diesem Dilemma entweder ein Zwang zur Mitgliedschaft („closed shop“) oder die zusätzliche Bereitstellung nicht-kollektiver Güter (selektive Anreize). Die Frage der Genese großer Gewerkschaften klärt er mit der Vermutung, dass sie aus kleineren Teilgruppen entstanden sein könnten, die jede für sich in der Lage sind bzw. waren, Kollektivgüter bereitzustellen. Hinsichtlich der Bestandssicherung der großen Gewerkschaften präferiert Olson eindeutig den closed shop, jedoch hält er es angesichts des praktisch vollkommenen Verschwindens des closed shop für möglich, dass auch selektive Anreize eine Art Zwang zur Mitgliedschaft auf potentielle Mitglieder ausüben können. Olson spricht daher von der „Nebenprodukt-These“. Die Bereitstellung des eigentlichen Kollektivgutes durch möglichst viele Mitglieder (und ihrer Beiträge) sei quasi ein Nebenprodukt der Mitgliederbindung durch selektive und ausschließbare Güter. Das würde im Klartext bedeuten, dass Gewerkschaften in Wahrheit Dienstleister sind, die sich lediglich nebenbei auf politisches Lobbying und die Verbesserung der Situation der Lohnabhängigen konzentrieren.

Gegen diese Sichtweise hat Colin Crouch (1982) Einwände erhoben. Seiner Meinung nach sei es keineswegs gesichert, was Haupt- und was Nebenprodukte von Gewerkschaften sind. Diese Argumentation wird auch von zahlreichen Gewerkschaftstheorien gestützt, denen zufolge Gewerkschaften verschiedene Ziele gleichzeitig und gleich gewichtig verfolgen.

Crouch verfolgt bezüglich Olsons Theorie des Gewerkschaftsbeitritts eine eigene These. Nicht der Nutzen und seine Größe für den Einzelnen ist für ihn entscheidend, sondern die Kosten. Diese müssten möglichst weit gesenkt werden, damit Mitglieder beitreten. Der closed shop erhöhe stattdessen die Kosten des Nicht-Beitrittes. Wer nicht Mitglied einer Gewerkschaft sei, bekomme keine Arbeit, wer austreten wolle, verliere seinen Job. Allerdings kritisiert Crouch den closed shop dahingehend, dass dadurch Kritik an der Gewerkschaftsführung und innerorganisationalen Fehlentwicklungen aus Angst vor Ausschluss aus der Gewerkschaft und – dem damit einhergehenden Jobverlust – ausbliebe. Besser sei es daher, die Kosten der Mitgliedschaft zu senken.

Außerdem ist die von Olson vorgeschlagene Kosten-Nutzen-Abwägung vor dem Gewerkschaftsbeitritt Crouch zufolge in vielen Fällen zu komplex; ein Vorwurf, der auch von anderen Autoren gegenüber der Politischen Ökonomie erhoben wurde (z.B. Nienhüser 1986). Aus Sicht von Crouch zählt dagegen bei der Entscheidung für oder gegen eine Mitgliedschaft die Akzeptanz von Gewerkschaften im individuellen Umfeld und am Arbeitsplatz bzw. durch den Arbeitgeber wesentlich mehr, als das Verhältnis von Kosten und Nutzen. Trotzdem spielt der Nutzen aber eine gewisse Rolle.

Crouch führt zwei Dimensionen der „Nützlichkeit“ einer Mitgliedschaft ein, die ihm zufolge das Verhältnis von Individuen zu gewerkschaftlicher Organisierung maßgeblich beeinflussen. Das ist erstens die Abhängigkeit des Einzelnen von kollektivem Handeln zur Erreichung von Zielen und zweitens die Leichtigkeit, mit der das Kollektiv zur Interessendurchsetzung „benutzt“ werden kann. Je vollständiger beide Voraussetzungen erfüllt seien, desto wahrscheinlicher sei der Beitritt zur Gewerkschaft. Dies, so Crouch, sei hauptsächlich vom beruflichen Status, man könnte auch sagen, von der Stellung im Beruf des Einzelnen abhängig. Aber auch die Größe und der Wettbewerbsdruck eines Unternehmens, das Geschlecht und die Ethnizität eines potentiellen Mitgliedes seien wichtige Faktoren, die die unterschiedlichen Organisationsgrade verschiedener Berufs- und Gesellschaftsgruppen bzw. unterschiedlicher Unternehmensgrößen und -arten erklären können. Wie Abbildung 3 zeigt, ist es insbesondere für Angestellte (white-collars) unwahrscheinlich, dass sie von gewerkschaftlicher Organisierung profitieren können.

Abb. 3: Dimensionen der Nützlichkeit von kollektiver Organisation

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Crouch 1982, S. 68

Crouch macht dafür die eingangs erwähnte Abhängigkeit der Beitrittsentscheidung von der Akzeptanz im betrieblichen Umfeld, und im Besonderen von der Akzeptanz des Arbeitgebers verantwortlich. Angestellte hätten traditionell eher individuelle Verträge und Verhältnisse zum Arbeitgeber und seien grundsätzlich eher seiner Diskriminierung ausgesetzt. Sofern der Arbeitgeber also den Gewerkschaftsbeitritt nicht befürworte, sinke die Wahrscheinlichkeit des Beitritts auf null, da auch die beiden Dimensionen der Nützlichkeit im Falle individueller Arbeitsverhältnisse nicht kostensenkend wirken könnten. Übertragen auf die Problematik der hochqualifizierten Fach- und Führungskräfte wird hier aus nutzen- bzw. motivationstheoretischer Sicht deutlich, warum die Gewerkschaften mit relativ großen Schwierigkeiten bei der Organisierung zu kämpfen haben, insbesondere wenn die im folgenden Kapitel behandelten Charakteristika von Wissensarbeit und ihrer Organisierbarkeit in die Überlegungen mit einbezogen werden.

Ein letzter von Crouch an Olsons Theorie kritisierter Punkt betrifft die These, dass Gewerkschaften aufgrund ihrer Größe letztlich anonyme Massenorganisationen seien, in der der Einzelne nicht zähle. Crouch erwidert diesbezüglich, dass auf Arbeitsplatzebene ein hohes Maß an Eigeninitiative und Aktivität in einem gewerkschaftlichen Kontext festzustellen und zudem über die betrieblichen Gewerkschaftsrepräsentanten die Verbindung zur Zentralorganisation gesichert sei.

Insgesamt sieht Crouch also wesentlich weniger Probleme für Gewerkschaften, Mitglieder zu werben und zu binden als Olson. Dies liegt zum einen daran, dass er von einem anderen, differenzierteren Nutzenbegriff ausgeht, der nicht die Organisierung in Gewerkschaften als Ganze in Frage stellt, sondern lediglich die Wahrscheinlichkeit einer Mitgliedschaft bestimmter Beschäftigtengruppen problematisiert. Zweitens setzt er die Bedeutung des individuellen Nutzenkalküls gegenüber der Olson’schen Theorie deutlich herab und geht stattdessen davon aus, dass die Akzeptanz einer Gewerkschaftsmitgliedschaft im persönlichen und betrieblichen Umfeld das wichtigste Kriterium bei der Beitrittsentscheidung spielt. Durch staatliche Anerkennung (evtl. verbunden mit korporativen Arrangements) und Parteienunterstützung könne dazu beigetragen werden, dass diese Entscheidung zugunsten der Gewerkschaften ausfalle.

1.3 Sozialstrukturelle Rahmenbedingungen

Der Wandel der Sozialstruktur einer Gesellschaft wirkt sich in vielfältiger Weise auf das Handeln von Gewerkschaften aus, sind sie doch soziale Akteure, die den Anspruch haben, große Teile der Gesellschaft in der ökonomischen und politischen „Arena“ zu repräsentieren. Ändern sich sozialstrukturelle Faktoren wie etwa der Modus der Organisation und Regulation von Arbeit in weiten Teilen der Arbeitsgesellschaft, so kann dies die Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Institutionen wie der industriellen Beziehungen und ihrer kollektiven Akteure gefährden. Ebbinghaus und Visser (1998) haben gezeigt, dass die aktuellen sozialstrukturellen Entwicklungen alle europäischen Staaten gleichermaßen betreffen. Diese gegenwärtig zu beobachtenden „Megatrends“ haben ihre Wurzeln in der Entwicklung der europäischen Nationen von Industrie- zu postindustriellen Gesellschaften. Im Folgenden soll dieser Wandel mit den theoretischen Konzepten der Wissensgesellschaft, der Wissensarbeit und des Arbeitskraftunternehmers treffend charakterisiert und gezeigt werden, wie sich diese Entwicklungen qualitativ in der zunehmenden Bedeutung des Sozialtypus’ der Fach- und Führungskraft und auf seine gewerkschaftliche Organisierbarkeit auswirken. Mit der Darstellung der wichtigsten Ergebnisse einer Studie des Rates der Europäischen Fach- und Führungskräfte EUROCADRES soll im Anschluss die quantitative Seite dieser Entwicklungen gezeigt werden.

1.3.1 Wissensgesellschaft und Wissensarbeit

Willke spricht von einer Wissensgesellschaft oder wissensbasierten Gesellschaft, „wenn die Strukturen und Prozesse der materiellen und symbolischen Reproduktion einer Gesellschaft so von wissensabhängigen Operationen durchdrungen sind, dass Informationsverarbeitung, symbolische Analyse und Expertensysteme gegenüber anderen Faktoren der Reproduktion vorrangig werden“ (Willke 2001, S. 380). Wissensgesellschaften sind damit postindustrielle Gesellschaften, klassische Produktionfaktoren der Industriegesellschaft (Land, Kapital, Arbeit) treten gegenüber dem Faktor Wissen in den Hintergrund. Der in der Definition Willkes verwendete Begriff „symbolische Analyse“ geht auf einen Aufsatz von Robert B. Reich zurück, der die Arbeit in der postindustriellen Gesellschaft in drei Typen klassifizierte und die Symbolanalytiker als Protagonisten bei der zukunftsträchtigen Entwicklung „intelligenter Produkte“ sah. „Routinemäßige Produktionsdienste“ seien dagegen zunehmend von ihrer Auslagerung in Niedriglohnländer bedroht, Arbeitsplätze im Bereich „kundenbezogene Dienste“ zwar grundsätzlich nicht verlagerbar, jedoch aufgrund der Freisetzung von Arbeitskräften aus der Produktion von zunehmender Konkurrenz gekennzeichnet. Die Zukunft gehöre aber denjenigen, die durch den strategischen und effizienten Einsatz von Wissen – auf Grundlage hoher Bildungsabschlüsse – „Probleme identifizieren, lösen und vermitteln, indem sie Symbole manipulieren“ (Reich 1993, S. 199). Sieht man Symbolanalytiker generell als Akademiker, so hat Willke recht, wenn er den stark gestiegenen Akademikeranteil in der Bundesrepublik seit den Sechzigerjahren[5] als Indiz für die Existenz der Wissensgesellschaft deutet. Ähnliche Entwicklungen zeigen die Statistiken für alle europäischen Staaten. Beispielsweise Schwemmle (2003) verweist auf starke Zugewinne von Wissensarbeitern gegenüber anderen Beschäftigungsformen. Während die Zahl der Wissensarbeiter in der EU und den USA jährlich um 3,3% steige, nehme die Zahl der Güterproduzenten um jährliche 0,2% ab (siehe Abbildung 4).

Willke definiert drei Kriterien, die erfüllt sein müssen, will man von einer wissensbasierten Ökonomie sprechen. Diese sieht Willke in der Wissensarbeit, der „intelligenten Organisation“, die „intelligente Güter“ produziert. Alle drei Kriterien hält er für erfüllt. Er weist aber gleichzeitig darauf hin, dass für die Behauptung, man lebe in einer wissensbasierten Gesellschaft, es nicht ausreiche, dass nur ein einzelnes gesellschaftliches Funktionssystem wissensbasiert funktioniere. Vielmehr müssten dazu alle gesellschaftlichen Teilsysteme, insbesondere die Politik, um sich zu reproduzieren, regelmäßig auf spezialisiertes Wissen zurückgreifen.

Abb. 4: Jahresdurchschnittliche Veränderungsraten von Beschäftigtengruppen in ausgewählten OECD-Ländern (EU & USA) 1992-1999

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Schwemmle 2003, S. 107

Die gegenwärtig beobachtbare öffentlich-private Gemeinschaftsproduktion sogenannter „Kollateralgüter“[6], sowie der Versuch der Politik, Legitimitätsverlusten bei der Entscheidungsfindung durch den routinierten Rückgriff auf Expertengremien entgegenzuwirken, sind für Willke somit weitere Indizien für den Wandel zur Wissensgesellschaft (Willke 2001). Verschiedene Autoren haben darauf hingewiesen, dass eine Wissensgesellschaft nur im Idealfall der Mehrheit der Bürger zu Gute komme, indem sie die breite Verfügbarkeit spezialisierten Wissens garantiere. Tatsächlich aber bestehe die Gefahr der gesellschaftlichen Spaltung durch den Einsatz von Wissen als exklusive Machtressource und ihre künstliche Verknappung als Folge von Kapitalinteressen (Negt 2003; Goergens 2003; Glotz 2003; Bsirske 2003).

Zentral für die vorliegende Untersuchung ist die Frage nach den Kennzeichen von Wissensarbeit und des Wandels der Arbeitsorganisation in „intelligenten Unternehmen“. Anschließend muss die Frage geklärt werden, wie sich dieser Wandel von Arbeit auf die Funktionsfähigkeit betrieblicher und überbetrieblicher Formen der Arbeitsregulierung auswirkt.

Wissensarbeit zeichnet sich Schwemmle (2003) zufolge nicht nur durch eine quantitative Zunahme nicht-manueller Tätigkeiten, sondern durch ihre Eigenschaft als qualitative gesellschaftliche Veränderung aus. Sie sei durch fast ausschließlich geistige Tätigkeiten und dem Zwang der „Wissensarbeiter“ zu hoher Qualifikation (Universität), sowie ständiger Weiterqualifizierung geprägt. Bei den Arbeitsinhalten sei eine Dominanz problemlösender gegenüber ausführenden Tätigkeiten, sowie ein geringer Routineanteil und ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit und Entscheidungsspielraum festzustellen. Auch für Töpsch et al. (2001) ist entscheidend, dass in einer Wissensgesellschaft die Mitarbeiter wissensbasierter Unternehmen in der Lage sind, zu Problemlösungen beizutragen und eigenverantwortlich mit Ressourcen umzugehen. Willke (2001) ergänzt diese Einschätzung um den Aspekt des Arbeitsergebnisses. Zunehmend würden „intelligente Produkte“ die Marktführung übernehmen, deren Wert nicht ihre Material- oder Produktionskosten, sondern das darin eingebettete Wissen in Form von Forschungs- und Entwicklungsarbeit bilde. Für Jürgens (1999) ist Wissensarbeit ein Teilbereich jeder Arbeit neben koordinierenden, administrativen und operativen Tätigkeiten. Es gebe nur eine kleine Gruppe überwiegender Wissensarbeiter. Jedoch zeigen die Daten von Heidenreich/Töpsch (1998), dass die Produktion wissens- und kommunikationsintensiver Dienstleistungen sehr wohl auch gesamtgesellschaftlich immer bedeutsamer wird (siehe Tabelle 1).

„Intelligente Organisationen“ bestehen zum einen aus „wissenden“ Personen, den Wissensarbeitern, und zum anderen aus gespeichertem Wissen, der organisationellen Intelligenz (Willke 2001). Die Steuerung von Unternehmen muss demzufolge durch das Management von Wissen erfolgen. Dabei ergeben sich allerdings Probleme der Bewertung von Wissen als Produkt der Arbeit und der Steuerung von Prozessen der Wissensproduktion. Durch neue Formen der Organisation von Wissensarbeit versuchen Unternehmen diesen Herausforderungen bei der Bewertung und Steuerung Herr zu werden. Diese neuen Formen sind zwar insgesamt noch recht vielfältig, lassen jedoch für die hochproduktiven, innovationszentrierten Kernbereiche der Wissensgesellschaft einen klaren Trend erkennen, wie Heidenreich und Töpsch (1998) festgestellt haben. Sie sprechen von C4-Organisationen, wobei die 4 Cs für competence, computer, culture und cooperation stehen.

Competence meint den stärkeren Einbezug der Mitarbeiter in die Steuerung. Wichtigste Mittel hierfür sind einerseits der Ersatz herkömmlicher arbeitszeitorientierter durch ergebnisorientierte Formen der Arbeitsorganisation und andererseits die Einführung nicht-hierarchischer, bereichsübergreifender Koordinierungs- und Kooperationsformen statt der tayloristischen Trennung von Planung und Ausführung. Indikatoren hierfür sind einerseits immer allgemeinere Zielvorgaben, die mit selbständiger Umsetzung und einem höheren Maß der Selbstverpflichtung der Beschäftigten einher gehen. Diese Zielvorgaben werden andererseits erreicht durch innerbetriebliche Aushandlungsprozesse zwischen einzelnen Abteilungen, die freie Wahl der zur Zielerreichung notwendigen Mittel durch die Beschäftigten und eine Form des Managements, das mehr und mehr soziale Koordinierungs-, Regulierungs- und Integrationsaufgaben horizontaler statt vertikaler Abstimmungsformen übernimmt.

Tab. 1: Erwerbstätige in Deutschland nach Art der überwiegenden Tätigkeit (verschiedene Jahrgänge / bis 1991 alte Bundesländer)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Heidenreich/Töpsch 1998, S. 15

Mit computer meinen Heidenreich/Töpsch die bereichsübergreifende Verbreitung neuer Kommunikations- und Informationstechnologien in Unternehmen, die zur Abstimmung und Aushandlung zielorientierter Prozesse ergänzend zu nicht-informatisierten Abstimmungs- und Rückfragemöglichkeiten benutzt werden. Ein bloßer Ersatz hierarchischer Steuerung durch informatisierte Kommunikationssysteme sei demgegenüber ineffizient, da so keine Rückfrage- und Rekontextualisierungsmöglichkeiten gegegeben seien.

Culture meint die stärkere Sensibilität von Unternehmen für die symbolischen Aspekte organisationaler Prozesse. Damit sind Leitbilder und Metaphern gemeint, die Orientierungen von Handelnden bündeln, Handeln koordinieren und Managemententscheidungen legitimieren können.

Cooperation schließlich beschreibt Tendenzen der stärkeren Einbindung „lernender“ Organisationen in zwischen- und überbetriebliche Netzwerke. Produktions- und Innovationsprozesse seien zunehmend in Netzwerke aus Kunden, Lieferanten und Forschungseinrichtungen eingebettet.

Zusammenfassend trete an die Stelle der tayloristisch-hierarchischen Organisationssteuerung die Steuerung durch Definition der fachlichen, technischen, materiellen und kulturellen Kontextbedingungen für eigenständiges Handeln der Beschäftigten. Dies schließe die immer stärkere Mobilisierung des Engagements und der Initiative der Beschäftigten ein, die durch indirekte, ergebnisorientierte Steuerungs- und Koordinierungsprinzipien flankiert werden.

1.3.2 Arbeitkraftunternehmer und gewerkschaftliche Organisationsfähigkeit

Was bedeutet dies für die Arbeitsverhältnisse der Wissensarbeiter bzw. das Verhältnis der Wissensarbeiter zu ihrer Arbeit? Pongratz/Voß (2003) haben dies mit ihrem Konzept des „Arbeitskraftunternehmers“ anhand dreier Merkmale (Selbstkontrolle, Selbstökonomisierung, Selbstrationalisierung) zu beschreiben versucht. Selbstkontrolle, weil Arbeitnehmer zunehmend die Funktion der Umwandlung eines Arbeitskraftpotentials in Arbeitsleistung übernehmen, die früher dem Unternehmensmanagement mittels Steuerung durch Anweisung oblag. Selbstökonomisierung, weil Arbeitnehmer für die aktive Herstellung, das Betreiben und die Vermarktung der eigenen Arbeitskraft auf inner- und außerbetrieblichen Märkten immer mehr selbst verantwortlich sind. Selbstrationalisierung, weil nicht nur die Arbeitszeit, sondern zunehmend auch der gesamte Alltag und Lebenslauf von Arbeitnehmern auf die Produktion und Vermarktung der Arbeitskraft ausgerichtet ist. Allerdings ziehen Pongratz/Voß diese Erkenntnisse nicht aus Untersuchungen mit Fach- und Führungskräften, sondern aus Studien mit Angestellten. Ein Indiz dafür, dass die mit Wissensarbeit verbundenen Veränderungen der Arbeitsorganisation für breite Arbeitnehmerschichten Gültigkeit haben könnten.

Wie wirkt sich dies in der Praxis der täglichen Arbeit Hochqualifizierter aus? Wo Leistung immer mehr an der (fristgerechten) Erreichung von Zielen gemessen und selbst die Koordinierung der Arbeit immer mehr den Beschäftigten selbst überlassen wird, treten leistungsorientierte Bezahlung, flexibilisierte Arbeitszeiten und steigende Selbstbindung an unternehmerische Prinzipien an die Stelle von Tariflohn und geregelter Arbeitszeit. Dies bedeutet letztlich, dass ein größerer Teil des unternehmerischen Risikos an die Beschäftigten weitergegeben wird, indem Monatseinkommen und Wochenstunden von der persönlichen Leistungsfähigkeit abhängig gemacht werden. Gleichzeitig wird das Commitment der Wissensarbeiter an ihre Firma gefestigt und dafür gesorgt, dass sie das unternehmerische Gesamtwohl im Auge behalten. Eine klare Trennung zwischen Beruf und Privatleben weicht einer Überlappung beider Sphären zugunsten des Projekterfolges. Arbeitszeiten passen sich den Bedürfnissen von Projekten an und werden tendenziell ausgedehnt. In den Verträgen der Wissensarbeiter ist häufig keine explizite Regelung der Arbeitszeit zu finden, stattdessen jederzeit neu verhandelbare Zielvereinbarungen. Überstunden werden meist weder durch Freizeitausgleich noch finanziell kompensiert, sodass man hier von wahren „All-Inclusive-Verträgen“ sprechen kann. Die hohe Flexibilität bei der Projektbearbeitung – meist von den Beschäftigten selbst erwünscht – wirkt sich jedoch durch immer umfangreichere Zielvorgaben und engere zeitliche Budgets zunehmend negativ auf Gesundheit und Motivation der Wissensarbeiter aus.

Die Bezahlung besteht zu einem gewissen Prozentsatz aus variablen Anteilen, die sich an der individuellen Leistung und am Abschneiden des Unternehmens orientieren. Das Versprechen an die hochqualifizierten Wissensarbeiter, durch hohe Leistungsbereitschaft eine überdurchschnittliche Entlohnung erzielen zu können, kann jedoch bei konjunkturellen Schwankungen theoretisch der Realität von „Nullrunden“ Platz machen, während Tarifgehälter „normaler“ Angestellter stetig ansteigen. Kotthoff (n.n.e.) resümiert diese Entwicklungen der Destandardisierung und der Deregulierung von Arbeitsverhältnissen mit der These, dass sich unter außertariflich (AT) bezahlten Hochqualifizierten, früher einmal gesellschaftlich privilegiert, eine breite Gruppe von Experten bilde, die aus ihrer Berufsausbildung keine Ansprüche auf Privilegierung und Exklusivität im Unternehmen und in der Gesellschaft mehr ableiten können. Diese Gruppe könne unter dem Begriff „Schein-AT“ bzw. „AT-Light“ zusammengefasst werden, deren Entwicklung zu einer „neuen Mittelschicht“ der Wissensgesellschaft untersucht werden müsse.

Trotz dieser Trends zur Nivellierung gilt Wissensarbeit gemeinhin als „regulationssperrig“ (Töpsch et al. 2001) im Sinne gewerkschaftlicher Formen der kollektiven und einheitlichen Regelung von Arbeitsverhältnissen. Dies liegt zum einen an der hohen intrinsischen Motivation und dem immer noch (erwarteten) privilegierten Status der betroffenen Beschäftigten, die wenig von traditionellen Formen der Regulierung halten. Teilweise sind sie aber auch formell (AT-Status) von der kollektiven Regulierung ausgeschlossen oder ist durch das hohe Maß an Selbstorganisation kaum eine äußere Rahmensetzung möglich. Töpsch et al. (2001) haben beispielsweise festgestellt, dass insbesondere in wissensbasierten Wirtschaftszweigen mit hochqualifizierten Beschäftigten und gering standardisierten Arbeitsprozessen sich eine Form der individualisierten Arbeitsregulation verbreitet hat. Weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer gehören dort Verbänden an und es wird bewusst auf die Gründung von Betriebsräten und auf Tarifverträge verzichtet. Stattdessen gelten lediglich gesetzliche Mindeststandards und das individuelle Verhandlungsergebnis. In den Arbeitsverträgen werden meist nur das (leistungsbezogene) Gehalt, Qualifizierungsansprüche, Karrierechancen sowie „Incentives“ und variable Leistungen geregelt. Die Arbeitszeit ist dagegen kaum geregelt und wird meist mit den obligatorischen 40 Stunden angegeben. Ein Ausgleich für Überstunden ist nur selten vorgesehen. Entscheidend sind dagegen die zwischen Unternehmens- bzw. Projektleitung und dem Beschäftigten ausgehandelten Zielvereinbarungen. Auch die Konfliktlösung erfolgt ausschließlich bilateral, meist direkt mit dem Vorgesetzten oder bei Bedarf mit dem Management. Das unter diesen Angestellten verbreitete Selbstverständnis speist sich aus dem Ethos des professionellen Spezialisten und einer starken Bindung zu Team und Firma. Für kollektive Interessenvertretung bleibt hier fast kein Raum, insbesondere dann nicht, so Töpsch et al. weiter, wenn es sich um kleine und junge Unternehmen handelt, die keinerlei Tradition der verbandlichen Arbeitsregulation kennen.

Andererseits sind wesentliche Ursachen für die bislang wenig erfolgreichen bzw ausgebliebenen Versuche kollektiver Regulation im Wissenssektor die geringe Flexibilität und Innovativität der Gewerkschaften, denen es bislang nicht gelungen ist, einen flächendeckenden Regulationsrahmen für wissensbasierte Arbeitsplätze zu schaffen. Vorhandene Anstrengungen richten sich meist auf die Regulation großer und älterer Unternehmen, die bereits auf eine Tradition kollektiver Verhandlung zurückblicken können und noch nicht aus ihrem Arbeitgeberverband ausgetreten sind. Dort versuchen die Gewerkschaften unternehmensbasierte „Maßanfertigungen“ der Arbeitsregulation bereitzustellen. Diese Verlagerung der industriellen Beziehungen auf die Unternehmensebene kann allerdings für die Gewerkschaften problematisch sein, wenn nämlich gewerkschaftliche Unternehmenspräsenz und Tarifdeckung äquivalent werden, da dann ein wesentliches Angebot der Gewerkschaften, die flächendeckende Bereitstellung kollektiver Leistungen auch für Nicht-Mitglieder, entfällt (Töpsch et al. 2001, S. 321). Bei den Wissensarbeitern selbst stoßen die Gewerkschaften währenddessen wegen ihrer Starrheit, Unflexibilität und ihrer verkrusteten Strukturen auf Ablehnung.

Nachdem Töpsch et al. die Strategien der IG Metall und ver.dis untersucht haben, kommen sie zu dem Schluss, dass herkömmliche Schutz- und Regelungsleistungen von den Wissensarbeitern genauso wenig nachgefragt werden, wie ihre bestehenden kollektiven und selektiven Güter. Man müsse sich zukünftig mangels Alternativen auf die Schaffung selektiver Dienstleistungen für die jungen, hochqualifizierten Wissensarbeiter konzentrieren. Der derzeitig noch verbreitete Glaube an die „Verelendungsthese“, daran also, dass mit sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen auch die momentan noch hoch motivierten Arbeitskraftunternehmer gewerkschaftlichen Schutz nachfragen werden, sei dagegen aufgrund des anzunehmenden Rückgriffs der Hochqualifizierten auf alternative Konfliktregelungsformen zu kurz gegriffen.

1.3.3 Fach- und Führungskräfte in Europa (EUROCADRES 2005)

Um die gesellschaftliche Relevanz der hochqualifizierten Wissensarbeiter zusätzlich zu untermauern, wird im Folgenden eine quantitative Querschnittstudie des Europäischen Rates der Fach- und Führungskräfte (EUROCADRES) vorgestellt, die im Jahr 2005 durchgeführt wurde. Fach- und Führungskräfte werden in diesem Forschungsbericht als Angestellte mit höherem Bildungs- und Berufsabschluss definiert, deren Arbeit von überwiegend intellektuellen Aufgaben gekennzeichnet ist, die ein hohes Maß an Urteilskraft, Initiative und Verantwortlichkeit fordern. In bestimmten Fällen (Führungskräfte) kommt noch weitere Verantwortlichkeiten für die Planung, Führung, Kontrolle und Koordinierung der Tätigkeiten eines Teils eines Unternehmens oder einer Organisation, einschließlich der damit einhergehenden Aufsicht über andere Personen hinzu. Explizit von dieser Gruppe ausgeschlossen sind Führungskräfte der höchsten Ebene, denen weitreichende Befugnisse von ihrem Arbeitgeber übertragen wurden. Diese Definitionen decken sich größtenteils mit den oben referierten Kennzeichen von Wissensarbeit(ern), wodurch die im Folgenden einheitliche Verwendung des Begriffs „Fach- und Führungskräfte“ gerechtfertigt scheint, zumal er einen Unterschied zwischen hochqualifizierter Expertenarbeit (Fachkräfte) und der optionalen Übernahme von Führungsverantwortung (Führungskräfte) macht. Dies ist bei der Darstellung der gewerkschaftlichen Handlungsperspektiven weiter unten hilfreich.

Fach- und Führungskräfte haben sich mit durchschnittlich 17,5% der Beschäftigten (2002) in den letzten Jahren zu einer wichtigen Gruppe am Arbeitsmarkt entwickelt. Fast jeder sechste abhängig Beschäftigte in Europa ist eine Fach- oder Führungskraft. Dabei gibt es allerdings relativ große Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Ländern. Während in Nordwest- und Osteuropa sowie den Benelux-Staaten überdurchschnittlich viele Fach- und Führungskräfte festzustellen sind, gibt es in Mittel- und Südeuropa relativ wenige (siehe Abbildung 5). Dies könnte mit den Unterschieden zwischen Bildungssystemen und bei der Qualität von Ausbildungsabschlüssen zu tun haben. Beispielsweise gilt das deutsche duale System der Berufsausbildung allgemein als sehr leistungsfähig, was die Qualifikation der Absolventen angeht. Diese werden jedoch nicht automatisch als Fach- und Führungskräfte betitelt, während die Absolventen der britischen Bachelor-Studiengänge trotz teilweise ähnlichem Qualifikationsniveau selbstverständlich zu dieser Gruppe gezählt werden. Ausdrücklich wird auch von EUROCADRES auf diese Verzerrungsgefahr hingewiesen, sodass Rückschlüsse auf die tatsächliche Zahl der Hochqualifizierten auf Basis dieser Daten nicht ratsam erscheinen und diese lediglich einen Anhaltspunkt geben sollen.

Abb. 5: Fach- und Führungskräfte in EU-Ländern

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: EUROCADRES 2005

Das gemeinsame Ziel der EU-Staaten, zukünftig 3% des BIP für Forschung und Entwicklung aufzuwenden, wird zukünftig zu einem weiteren Anstieg der Zahl hochqualifizierter Beschäftigter führen.

Zu der oben aufgestellten These, dass Hochqualifizierte noch immer an einen priviliegierten Status innerhalb der abhängig Beschäftigten glauben, passen die Daten der EUROCADRES-Studie zur ökonomischen Situation der Fach- und Führungskräfte. Die meisten Befragten haben keine Probleme mit ihrem Auskommen. Trotzdem gaben nur 50-60% ein „gutes“ Auskommen an, gerade in Osteuropa überwiegen diejenigen Fach- und Führungskräfte, die Schwierigkeiten bzw. ein „geht gerade so“ bezüglich ihres derzeitigen Einkommens angaben. Auch Arbeitslosigkeit ist für Fach- und Führungskräfte offenbar eine reale Erfahrung geworden. 15-20% sagten je nach Land aus, zwischen zwei Arbeitsverhältnissen schon einmal mehr als drei Monate arbeitslos gewesen zu sein. Die These vom exklusiven sozio-ökonomischen Status und der hohen Arbeitsplatzsicherheit, die hochqualifizierte Experten früher gehabt haben mögen, scheint insgesamt gesehen so nicht mehr in jedem Fall zuzutreffen. Eine Art kollektive „Deprivation“, an der Gewerkschaften anknüpfen könnten, ist jedoch auf der Basis dieser Daten (noch) nicht gegeben.

Die Verbreitung flexibilisierter Arbeitsverträge unter Hochqualifizierten wird auch von der EUROCADRES-Studie thematisiert. Durchschnittlich 10-15% der Fach- und Führungskräfte haben variable Gehaltsanteile, 16% der Fach- und 8% der Führungskräfte haben befristete Verträge. Außerdem zeigen die Daten, dass der Anteil der Selbständigen besonders unter Führungskräften mit mehr als 50% beträchtlich ist.

Interessant sind die Daten zur wöchentlichen Arbeitszeit von Fach- und Führungskräften. Sie liegt im Schnitt bei 44 Stunden und damit deutlich höher als die normalerweise vertraglich vereinbarten 40 Wochenstunden. Während Fachkräfte im Schnitt wöchentlich fünf Überstunden machen liegt dieser Wert für Führungskräfte bei durchschnittlich sieben Stunden pro Woche. Die oben getroffenen Aussagen, dass Hochqualifizierte meistens nicht mit einer Kompensation von Mehrarbeit rechnen können, wird von der Studie ebenfalls bestätigt.

Diese Arbeitsintensivierung bleibt nicht ohne psychische und physische Folgen. 20-25% der Befragten leiden unter Rückenschmerzen, 30-40% beschwerten sich über zu viel Stress am Arbeitsplatz. Verglichen mit allen Arbeitnehmern scheint insbesondere die hohe Belastung durch Stress ein typisches Problem von Fach- und Führungskräften zu sein. Zwischen 73 und 95% der Fach- und Führungskräfte gaben eine hohe oder übermäßig hohe Arbeitsbelastung an.

Insgesamt bestätigt die EUROCADRES-Studie die Tendenzen, die bereits in den theoretischen Vorüberlegungen zu Wissensarbeit dargestellt wurden. Danach sehen sich die Wissensarbeiter hauptsächlich mit einer Ausdehnung der Arbeitszeit konfrontiert, die wegen der grundsätzlich ausbleibenden Vergütung von Überstunden im Ergebnis zu niedrigeren Stundenlöhnen führt. Durch befristete Verträge und häufige Selbständigkeit sehen sich auch Hochqualifizierte tendenziell eher als früher mit drohender Arbeitslosigkeit konfrontiert. Interessant ist nun zu sehen, in welchem Verhältnis Fach- und Führungskräfte gegenüber Gewerkschaften stehen.

Tab. 2: Organisationsgrade der Fach- und Führungskräfte (EU-20)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: EUROCADRES 2005

Wie Tabelle 2 zeigt, sind Fach- und Führungskräfte im europäischen Durchschnitt kaum schlechter organisiert als alle abhängig Beschäftigten. Auch der Anteil derer, die niemals Gewerkschaftsmitglied waren, ist bei beiden Gruppen gleich. Interessant ist, dass ein relativ hoher Anteil der Führungskräfte früher einmal Mitglied war, sich aber zum Austritt entschlossen hat. Hinsichtlich dieses Befundes müssten sich die Gewerkschaften offenbar auch darauf konzentrieren, Hochqualifizierte als Mitglieder zu behalten, und nicht nur, sie anzuwerben, auch wenn dies natürlich nicht aus dem Blickfeld geraten darf, sind doch vor allem Führungskräfte deutlich unterrepräsentiert. Möglicherweise lassen diese Fakten aber auf Prozesse von Einstellungsänderungen schließen, die mit Karriereverläufen und damit gekoppelter, vermutlich enger werdender Managementbindung einhergehen. Gewerkschaften müssten sich dann gegenüber Karrieristen anders darstellen, um sie als Mitglieder zu halten zu können.

Ebenfalls interessant ist der Zusammenhang zwischen der Existenz einer gewerkschaftlichen Vertretung am Arbeitsplatz und der Gewerkschaftsmitgliedschaft von Fach- und Führungskräften, den die Studie nahe legt. 90% der organisierten Fach- und Führungskräfte haben demnach eine gewerkschaftliche Vertretung direkt am Arbeitsplatz, während fast die Hälfte der Nicht-Organisierten keine gewerkschaftlichen Repräsentanten im Unternehmen haben. Auch Colin Crouch, dessen Theorie des Gewerkschaftsbeitrittes im nächsten Kapitel ausführlicher behandelt wird, geht implizit von einem Zusammenhang zwischen Gewerkschaften am Arbeitsplatz und der Beitrittsmotivation aus. Diesbezüglich stellte EUROCADRES den Fach- und Führungskräften die Frage nach den „gefühlten“ bzw. erwarteten Einflusschancen der Gewerkschaft am Arbeitsplatz. Im Vergleich zu allen Beschäftigten ergeben sich hier kaum negative Abweichungen, teilweise bewerten Fach- und Führungskräfte sogar höher als der Durchschnitt aller Beschäftigten. Beides zeigt, wie wichtig es für die Gewerkschaften wäre, auch in den kleinen und jungen Unternehmen der Wissensindustrie Fuss zu fassen, um dort Fach- und Führungskräfte anwerben zu können.

1.4 Externes Handlungsumfeld

Unter dem externen Handlungsumfeld soll hier ein extra-organisationales Setting verstanden werden, das zu einem gegebenen Zeitpunkt die Handlungen und Handlungsalternativen der Gewerkschaft beeinflusst. Anders als bei den institutionellen Rahmenbedingungen, die zumeist auch formell bestehen, handelt es sich bei diesem Setting um „weiche“ Faktoren, die eher gefühlt, als gemessen werden können. Dazu gehören etwa das gesellschaftliche „Klima“ gegenüber Gewerkschaften, an dessen Kreation häufig die Massenmedien teilhaben oder der Wettbewerb um Mitglieder zwischen Gewerkschaften. Auch eine de facto geänderte Politik von Verhandlungspartnern (z.B. Kampagnen von Arbeitgeberverbänden), die jedoch noch nicht in offizielle Agenden gegossen ist, gehören in diese Kategorie.

2. Binnenfaktoren

2.1 Theorie der Gewerkschaften

Um vorab zu klären, was im Einzelnen unter dem Begriff „Gewerkschaft“ verstanden wird, welche Funktionen und Aufgaben ein Verband erfüllen muss, um sich als Gewerkschaft beispielsweise von Berufsverbänden oder Bürgerinitiativen abzugrenzen, sollen im Folgenden einige klassische Theorien der Gewerkschaften kurz dargestellt werden. Sie entstammen der Einführung in die „Soziologie der Industriellen Beziehungen“ von Walther Müller-Jentsch (1997).

Nach einer Definition von Sydney und Beatrice Webb (1895) sind Gewerkschaften „dauerhafte Verbindungen von Lohnarbeitern zum Zwecke der Aufrechterhaltung oder Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen“. Die charakteristischen Methoden zur Erfüllung dieser Aufgaben sind die gegenseitige Versicherung, die kollektive Vertragsschließung und die gesetzliche Verfügung. Die erste Methode beschreibt die älteste Form gewerkschaftlicher Funktionen: die Einrichtung von Hilfskassen zur Unterstützung bei Einkommensverlusten infolge sozialer und persönlicher Notfälle. Die zweite Methode ist die später zum „Kerngeschäft“ der Gewerkschaften gewordene Tarifpolitik. Drittens bezieht sich auf die politische Einwirkung auf die Gesetzgebung zugunsten der Lohnarbeiter.

[...]


[1] gegenüber 29,4% in der gesamten Gesellschaft (Quelle: Statistisches Bundesamtes 2004)

[2] kollektive Interessenvertretung nach außen

[3] z.B. bessere Arbeitsbedingungen, Interessenvertretung, Lohnsteigerung...

[4] und damit zur Zahlung eines Beitrages zurm Kollektivgut

[5] von 2,9% 1960 auf 11,5% 1993; Quelle: FAZ Nr. 81 vom 5.4.1995, S. 15

[6] damit meint Willke den Aufbau wissensbasierter Infrastrukturen (Verkehrssteuerung, Hochleistungsdatennetze), der nur durch die Kooperation des Staates mit privaten Unternehmen möglich sei

Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
Ein Ding der Unmöglichkeit? Anwerbung und Organisierung von Fach- und Führungskräften in europäischen Gewerkschaften
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Soziologie )
Note
1,7
Autor
Jahr
2006
Seiten
113
Katalognummer
V57896
ISBN (eBook)
9783638522168
ISBN (Buch)
9783656314554
Dateigröße
891 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Auf der Basis einer qualitativen Studie (Leitfadeninterviews)in 9 europäischen Gewerkschaften in 7 Ländern (GB,A,D,S,FL,B,DK) wurde der Umgang dieser Gewerkschaften mit der Gruppe der hochqualifizierten Fach- und Führungskräfte untersucht. (Wie) Gelingt es, sie als Mitglieder zu werben, obwohl gerade sie als traditionell gewerkschaftsfern gelten?
Schlagworte
Ding, Unmöglichkeit, Anwerbung, Organisierung, Fach-, Führungskräften, Gewerkschaften, europäische Gewerkschaften, Fach- und Führungskräfte, ver.di, IG Metall, EUROCADRES, TU, IDA, ERTO, sif, GPA, connexx.av, Amicus, LBC-NVK, Neo-Korporatismus
Arbeit zitieren
Michael Grindmayer (Autor:in), 2006, Ein Ding der Unmöglichkeit? Anwerbung und Organisierung von Fach- und Führungskräften in europäischen Gewerkschaften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57896

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