Auf Einladung der Zeitschrift „Das Gedicht“ wählte eine Jury aus 50 Literaturwissenschaftlern, Dichtern und Kritikern, darunter Heinz Ludwig Arnold und Hans Bender, im Herbst 1999 Gottfried Benn zum bedeutendsten Lyriker des 20. Jahrhundert im deutschen Sprachraum. Das Frühwerk des Dichters war nur einem verhältnismäßig kleinem Kreis von Lesern bekannt, nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich dieses Bild gewandelt. Benn beeinflußte mit den Thesen seiner Rede „Probleme der Lyrik“ in den 50er Jahren die Lyrik- Debatten in Deutschland und passt sich mit ihnen in die damalig zeitgenössische Literaturgeschichte ein. Den Vortrag hielt er am 21.04.1951 vor Studenten und Professoren an der Universität in Marburg, an der er selbst zwei Jahre lange Theologie und Philosophie studierte. Benn stieß mit seinen Theorien auf breite Zustimmung, sowohl bei der jungen Generation als auch bei den Literaturwissenschaftlern.
Gliederung
1. Rezensionssituation
2. Aufbau der Rede „Probleme der Lyrik“
2.1. Lyrik als Gebilde
2.2. Das lyrische Ich
2.3. Kontexte
3. Projektion der Theorie auf die Praxis: „Nur zwei Dinge“
4. Kritische Schlußbetrachtung
5. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Rezensionssituation
Auf Einladung der Zeitschrift „Das Gedicht“ wählte eine Jury aus 50 Literaturwissenschaftlern, Dichtern und Kritikern, darunter Heinz Ludwig Arnold und Hans Bender, im Herbst 1999 Gottfried Benn zum bedeutendsten Lyriker des 20. Jahrhundert im deutschen Sprachraum. Das Frühwerk des Dichters war nur einem verhältnismäßig kleinem Kreis von Lesern bekannt, nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich dieses Bild gewandelt. Benn beeinflußte mit den Thesen seiner Rede „Probleme der Lyrik“ in den 50er Jahren die Lyrik-Debatten in Deutschland und passt sich mit ihnen in die damalig zeitgenössische Literaturgeschichte ein. Den Vortrag hielt er am 21.04.1951 vor Studenten und Professoren an der Universität in Marburg, an der er selbst zwei Jahre lange Theologie und Philosophie studierte. Benn stieß mit seinen Theorien auf breite Zustimmung, sowohl bei der jungen Generation als auch bei den Literaturwissenschaftlern.
Hans Bender bezeichnete 1955 den Vortrag als „Ars poetica“[1] für junge Lyriker. „Ars poetica“ (lat.: Dichtkunst) meint die Stilisierung des programmatischen Vortrags zu einer Richtlinie für die Schaffung von moderner Lyrik. Auch Karl Krolow, Lyriker der deutschen Nachkriegsliteratur, räumt Benn einen bedeutenden Einfluß auf die dichtende und Dichter lesende Jugend der 50er Jahre ein, die in Benn ein Vorbild sahen: „Sein Vokabular lag in der Luft [...]. Die Reizwirkung, die von ihm ausging, schien unbegrenzt.“[2]
Eine Reihe westeuropäischer Dichter und Literaturwissenschaftler vertrat eine philologische Interpretationstheorie, die mit den Benn’schen Vorstellungen zusammentraf: Lyrik sollte eine Alternative zur chaotischen Wirklichkeit bilden; sie wurde als zweckfrei und rein gedeutet, d.h. der Autor als Person sowie außerliterarische Gesichtspunkte, in politischer, sozialer oder historischer Hinsicht, werden beiseite gelassen. Mit dieser Bewältigungsformel konnte sich die von der eigenen geschichtlichen Erfahrung enttäuschte deutsche Intelligenz identifizieren: „Benns rigider Appell zu politischer Abstinenz, sein strikter Antikommunismus, seine ästhetische Kapitalismussympathie und nicht zuletzt seine poetischen Durchhalteparolen machten ihn in Westberlin und Westdeutschland trotz der scheinbaren Esoterik und Isolation mehr und mehr zu einer repräsentativen Figur.”[3]
Peter Rühmkorf setzte sich von der enormen Wirkung des Benn’schen Sounds ab, indem er 1958 mit scharfem Witz und ebenso ins Ästhetische wie ins Politische zielender Polemik sein „Lied der Benn-Epigonen“ im Stil Benns schrieb, das sich parodistisch auf die suggestive Wirkungsgeschichte Benns bezieht. 1960 bezeichnet er Benn allerdings dann doch als einen wichtigen Lehrmeister der Nachkriegslyriker[4].
Der Einfluss von Gottfried Benn ließ Ende der 50er nach und die Lyrik wandte sich allmählich von der monologisierenden, hermetischen Dichtung ab, die ihre eigene Wirklichkeit schafft, wieder der Wirklichkeit zu.
So kontrovers die Auseinandersetzungen um Werk und Person auch verliefen, der Inthronisierung zum Klassiker der Moderne widersprach niemand und sie gilt auch heute noch.
2. Aufbau der Rede „Probleme der Lyrik“
Benn ordnet sich durch seine Rede bewußt in die europäischen und weltliterarischen Strömungen der Moderne ein. Nicht umsonst nennt der Dichter eine Fülle von Namen, die beinah ausnahmslos auf diese Tradition aus dem 19. und 20. Jahrhundert weisen. Er entfaltet den berühmten Stammbaum der modernen Lyrik von Baudelaire über Rimbaud und Mallarmé zu Valéry, Pound und Eliot, erwähnt auch George, Rilke und Hofmannsthal, dazu die Expressionisten, die italienischen Futuristen und die Surrealisten. Vor allem hebt er den überragenden Rang Friedrich Nietzsches hervor. Sie alle, mit ihren Werken und Thesen, sind die Vorbilder, zu denen sich die „Probleme der Lyrik“, die Summe seiner ästhetischen Anschauungen, bekennen.
Benn setzt sich in seinem Vortrag mit der Frage auseinander, worin das Wesen moderner Lyrik besteht. Seine Argumentation beschäftigt sich zunächst mit Lyrik als Gebilde, geht dann auf das lyrische Ich ein und erschließt zuletzt das Thema der Kontexte, wobei die Sujets sich natürlich gegenseitig druchdringen und Benn dabei mit Gedankensprüngen und Vor- und Rückbezügen arbeitet. Allein schon über die Gliederung wird dem Leser sichtbar, dass der Kontext wohl kaum das Gedicht bestimmt, sondern sich das Gedicht autonom und monologisch verstehen lässt.
Den Rahmen der Rede bildet eine Zitatenklammer, wobei die einzelnen Glieder der Argumentationskette innerhalb des Vortrags ebenfalls von Zitat zu Zitat springen. Der Autor entwirft damit eine Geschichte der modernen Lyrik, in die er sich selbst einreiht. Weiterhin geht er darauf ein, was ein modernes Gedicht ist und wie es entsteht. Er charakterisiert es als selbstreflexiv, d.h. dass dieses Kunsprodukt seine eigene Hervorbringung thematisiert. Schließlich muss sich der Leser mit dem Begriff der Artistik auseinandersetzen als Charakteristikum moderner Lyrik, bis er dann eine Art Multiple Choice-Test erklärt bekommt, mit dessen Hilfe er leicht unterscheiden kann, ob das Gedicht zur Moderne gehört oder nicht. Die Form als das Entscheidende und das Wort als Mysterium werden hervorgehoben.
Das Wesen des Lyrikers wird bestimmt und innerhalb des Kampfes gegen die Mitte positioniert, die der modernen Lyrik Zynismus vorwirft. Da „der Lyriker gar nicht genug wissen [kann]“[5], setzt sich Benn auch mit dem Thema der Kontexte auseinander. Dabei geht er auf die Genetik, die Physik und die Technik ein.
2.1. Lyrik als Gebilde
Benn beginnt mit der konsequenten Trennung von Poetischem und Lyrik, also von
Gelegenheitslyrik und „gemachten“ Gedichten, was er mit einem Zitat des Literaturwissenschaftlers Professor Ernst Robert Curtius untermauert. Genauso gut hätte Benn hier auch Thomas Stearns Eliot zitieren können, der ebenfalls zwischen dem „Poesie-Begriff [und dem] bloße[n] Versmachen“ unterscheidet. John Ciardi trifft dieselbe Unterscheidung in dem Sammelwerk „Mid-Century American Poets“, das er selbst herausgegeben hat und das auf dem amerikanischen Fragebogen an Lyriker beruht, den Benn mehrfach erwähnt[6].
Der Diskurs über die Geschichte der modernen Lyrik, mit dem Benn fortfährt, wurzelt in der Festlegung, dass das moderne Gedicht ein Kunstprodukt ist und „damit verbindet sich die Vorstellung von Bewußtsein, kritischer Kontrolle und [...] Artistik.“[7] Im Laufe des Vortrags werden diese Begriffe erklärt, während der Begriff des Bewußtseins und die kritische Kontrolle auf das lyrische Ich zurückzuführen sind und die Artistik, auf konfuse Weise erläutert, lediglich die Selbstreflexivität der Kunst beinhaltet. Die Herstellung des Gedichts selbst rückt in das Blickfeld der Interpretation, was Benn ausdrücklich als einen modernen Zug charakterisiert[8]. Er bezieht sich auf Paul Valéry, der im Entstehen eines Kunstwerks ebenfalls ein Kunstwerk sieht.
Nach einer kurzen Vorausdeutung auf das Thema des Wortes an sich als weitere Eigentümlichkeit der Moderne leitet Benn zu seinen Ausführungen über die Entwicklung der modernen Lyrik über. Dabei benennt er Gérard de Nerval als Quelle der modernen Dichtung, der zusammen mit Charles Baudelaire Stéphane Mallarmé beeinflußte, wobei Mallarmé „der erste [bleibt], der eine Theorie und Definition seiner Gedichte entwickelte“[9]. Nun zählt Benn weitere Namen auf, in repräsentativer Weise gleich mit dazugehöriger Nationalität: Paul Verlaine, Arthur Rimbaud, Paul Valéry, Guillaume Apollinaire und die Surrealisten André Breton und Louis Aragon ebenfalls alle aus Frankreich; die englischsprachigen Schriftsteller treten durch Thomas Stearns Eliot, Wystan Hugh Auden, Henry Miller und Ezra Pound auf; aus Litauen wird O. V. de Milosz und als Amerikaner Saint-John Perse angeführt; Wladimir Majakowski aus Rußland und Vitezslav Nezval aus der ehemaligen Tschechoslowakei; schließlich werden die Deutschen Stefan George, Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal genannt.
Auf die Avantgardisten in Deutschland sowie in Europa geht Benn näher ein. Die expressionistische Lyrik findet ihren Ausgangspunkt in Deutschland 1911 in den Gedichten von Alfred Lichtenstein und Jacob van Hoddis, obwohl Georg Heym, Georg Trakl und Franz Werfel als die eigentlichen Repräsentanten gelten. Weiterhin hebt Benn die Erscheinung des Manifests der Futuristen 1909 hervor, in der er das Gründungsereignis der modernen Kunst in Europa sieht[10]. Über den Dadaismus und den Lettrismus äußert sich Benn eher abfällig, da „das abendländische Gedicht immer noch von einem Formgedanken zusammen gehalten wird und sich durch Worte gestaltet, nicht durch Rülpsen und Husten.“[11] Mit zwei Literaturhinweisen zu experimenteller Lyrik leitet der Autor zum nächsten Thema über.
Den Begriff der Artistik definiert Benn als den „Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden“[12]. Weiterhin benutzt er Worte wie Nihilismus, Transzendenz und Ausdruckswelt, schafft es aber nicht den Schleier von Mystik aufzuheben, womit er in der Unverständlichkeit verweilt. In den literaturwissenschaftlichen Texten, die sich mit Benn und seiner Rede „Probleme der Lyrik“ beschäftigen, tauchen kaum klare Aussagen über den Ausdruck Artistik auf, statt dessen werden stets Zitate aus der Rede benutzt, um den Begriff zu erklären. Artistik ist wohl gleichzusetzen mit Kunst bzw. Künstlichkeit, die den Nihilismus, also im Grunde das Nichts, mit Inhalten füllt, die sie wiederum aus sich selbst schöpft, d.h. sich selbstreflexiv ausdrückt. Benn nennt auch zu diesem Thema seine Quellen: „In unser Bewußtsein eingedrungen war dieser Begriff [der Artistik] durch Nietzsche, der ihn aus Frankreich übernahm“[13], und vor ihm besprachen schon Gustave Flaubert, Novalis, Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe diese Ästhetik.
[...]
[1] Diese Bezeichnung findet man im Vorwort des Sammelbandes „Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten.“, den Hans Bender 1955 in Heidelberg herausgegeben hat. Siehe Reinhold Grimm: Die problematischen Probleme der Lyrik. 1967.
[2] Karl Krolow: Aspekte zeitgenössischer deutscher Lyrik. 1963.
[3] Jürgen Schröder: Gottfried Benns späte Lyrik und Lyriktheorie. 1980.
[4] Peter Rühmkorf: Aufsatz über das Lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen. 1960. Siehe Peter Schünemann: Gottfried Benn. 1977. S. 140.
[5] Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: Dieter Wellershoff (Hrsg.): Gottfried Benn. Essays – Reden – Vorträge. Gesammelte Werke Band I. Stuttgart: Klett-Cotta 2002 (Elfte Auflage). S. 523.
[6] Reinhold Grimm: Die problematischen Probleme der Lyrik. S. 213.
[7] Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. S.495.
[8] Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. S. 496.
[9] Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. S. 497.
[10] Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. S. 498.
[11] Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. S. 499.
[12] Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. S. 500.
[13] Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. S. 500.
- Arbeit zitieren
- Corinna Schultz (Autor:in), 2006, Probleme der Lyrik: Gottfried Benns Lyriktheorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58105
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