Strukturprobleme und Entwicklungspotenziale des heutigen Irak


Examensarbeit, 2005

92 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Fragestellungen
1.2 Aufbau der Arbeit

2. Historischer Abriss des Landes
2.1 Geschichte bis zur Gründung 1921
2.1.1 Die altorientalischen Reiche
2.1.2 Die arabisch-islamische Blütezeit
2.1.3 Die osmanische Herrschaft
2.2 Vom Königreich zur Republik (1920-1958)
2.2.1 Die Gründung des modernen Irak
2.2.2 Zwischenkriegsjahre und „Scheinunabhängigkeit“
2.2.3 Der Zweite Weltkrieg und die Folgen
2.2.4 Das Ende der Monarchie
2.3 Von der Republik zur Diktatur (1958-1979)
2.3.1 Das republikanische Experiment
2.3.2 Konsolidierung der Baath-Partei
2.4 Von der Diktatur zum Neubeginn (1979-2003)
2.4.1 Errichtung der Diktatur
2.4.2 Der irakisch-iranische Krieg (1. Golfkrieg)
2.4.3 Die Annexion Kuwaits (2. Golfkrieg)
2.4.4 Irak unter dem Embargo
2.4.5 Der Irak im Visier des Anti-Terror-Krieges der USA (3. Golfkrieg)
2.4.6 Zusammenbruch und Chaos

3. Strukturprobleme des „neuen“ Irak
3.1 Das Aufbrechen alter ethnischer Probleme
3.1.1 Die Schiiten - Übernahme der politischen Führung?
3.1.2 Die Sunniten - Vom Herrscher zum Beherrschten?
3.1.3 Die Kurden - Abspaltung oder Mitgestaltung?
3.2 Der Wiederaufbau des Irak - Hoffnungen und Realitäten
3.2.1 Zielvorstellungen für einen Neuanfang
3.2.2 Was lief bis jetzt verkehrt?
3.2.3 Das Problem der anhaltenden Gewalt und des importierten Terrors
3.2.4 Das Problem der Arbeitslosigkeit
3.2.5 Das Problem der Korruption
3.3 Die Bedeutung des Erdöls für Konflikt, Kooperation und Gewalt im Irak und in der Golfregion
3.3.1 Die strukturelle Prägekraft des Erdöls
3.3.2 Öl als strategisches Potenzial im Irak
3.3.3 Öl und Geostrategie

4. Wohin geht der Weg? - Szenarien und Entwicklungspotenziale des zukünftigen Irak
4.1 Chancen für einen demokratischen Irak?
4.1.1 Die Option einer kurzfristigen Besatzung
4.1.2 Die Option einer langfristigen Besatzung
4.1.3 Wer hat eigentlich Interesse an einem demokratischen Irak?
4.2 Autoritäres Marionettenregime?
4.2.1 Wer übernimmt die Macht?
4.2.2 (über-)regionale Auswirkungen?
4.3 Fragmentierung des Irak?
4.3.1 Auseinanderbrechen und regionale Erneuerung?
4.3.2 (Koordinierte) Teilung?

5. Schlussbemerkungen und Ausblick

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Tab. 1: Vermutete Kosten für den irakischen Wiederaufbau (Schätzung der Weltbank)

Tab. 2: Vermutete Anzahl der Aufständischen im Irak

Tab. 3: Vermutete Anzahl der Ausländer unter den Aufständischen im Irak

Tab. 4: Arbeitslosenquote des Irak seit Mai 2003

Tab. 5: Erdölexport des Irak seit Mai 2003

Tab. 6: Priorität der Regierungsaufgaben nach Ansicht der irakischen Bevölkerung

Abb. 1: Der Fruchtbare Halbmond

Abb. 2: Das Sykes-Picot Abkommen von 1916

Abb. 3: Das Sunnitische Dreieck

Abb. 4: Die Flugverbotszonen im irakischen Luftraum während des UN Embargos

Abb. 5: Der Dritte Golfkrieg 2003

Abb. 6: Anschläge auf irakische Erdölpipelines, Förderanlagen und Personal

Abb. 7: Anzahl getöteter nicht-irakischer Zivilisten (inkl. Unternehmer) seit Mai 2003

Abb. 8: Anzahl monatlich getöteter irakischer Ordnungskräfte (Militär und Polizei)

Abb. 9: Gefallene US Soldaten seit dem 19.März 2003

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Das Gebiet des heutigen Irak, die fruchtbare Region um die beiden Ströme Euphrat und Tigris, gehört zu den ältesten Kulturlandschaften der Welt. Nach dem Untergang der alten orientalischen Hochkulturen und Reiche wurde es zum Mittelpunkt des Perserreiches und ab dem achten Jahrhundert zum Kernraum des islamischen Weltreiches. Bis 1918 war es Teil des Osmanischen Reiches und stand nach Gründung des modernen Irak 1921 unter briti- scher Mandatsherrschaft. Das mit reichen Ölvorkommen gesegnete Land konnte seine volle Unabhängigkeit nur unter großen Opfern erkämpfen. Immer wieder wechselnde Staatsfor- men, Regierungsumstürze und Putschversuche, Interventionen externer Großmächte und fortwährende Konflikte mit den Nachbarstaaten ließen die Bevölkerung auch in der Folge- zeit kaum zur Ruhe kommen. Saddam Hussein und sein totalitäres Unterdrückungsregime seit 1979 sowie drei Kriege führten den Irak schließlich an den Rand des Abgrundes. Die große Masse der Iraker hatte unter drei Dekaden baathistischer Herrschaft nicht nur nahe- zu alle bürgerlichen Rechte verloren, sondern litt auch unter großen wirtschaftlichen und menschlichen Repressalien.

Der Irak wurde 2003 durch einen heftigst umstrittenen Militäreinsatz unter Führung der USA und Großbritanniens von dem Regime Saddam Husseins befreit und steht an einem Neuanfang. Zunächst waren die allierten Streitkräfte darum bemüht, die Kontrolle sowohl über den Sicherheitsapparat des Landes als auch über die wirtschaftlichen Ressourcen wie über die Verfassungsgebung zu behalten. Vor diesem Hintergrund kam es zu einem An- wachsen des bewaffneten Widerstandes gegen die Besatzungstruppen, welcher sich zu- nächst auf das sogenannte „Sunnitische Dreieck“ um Bagdad konzentrierte, zunehmend jedoch auch den kurdischen Norden und den schiitischen Süden erfasst.

Erfolg wie Misserfolg beim laufenden gesellschaftlichen und politischen Umbruch im Irak sind davon abhängig, ob die irakischen Gegebenheiten und das komplizierte Beziehungsge- flecht, welches die Heterogenität des Landes widerspiegelt, in der Art und Weise verstan- den und bewertet werden können, dass nach der Übergangsphase eine Regierung gebildet werden kann, welche innerhalb der irakischen Gesellschaft die nötige Legitimität besitzt. Letzten Endes ist es jetzt Aufgabe der Koalitionstruppen und, trotz aller vorherigen Diffe- renzen, auch der internationalen Gemeinschaft, die unterschiedlichen irakischen Ansprüche auf Macht und Einfluss zu navigieren und dem Übergangsprozess eine sichere Grundlage zu bieten.

Ob und wann dieser Prozess zu einem Ende kommt ist aktuell indes nicht absehbar. Das gesamte irakische Staatsgebilde und seine Institutionen leiden unter großen Strukturproblemen wie Arbeitslosigkeit und anhaltender politischer Gewalt, dessen Lösungen bislang auf sich warten lassen. Trotz vorhandener Potenziale, allem voran der Erdölreichtum des Landes, bleibt die Zukunft des Irak ungewiss.

1.1 Fragestellungen

Der Anspruch an die umfassende Sichtweise auf die Strukturprobleme und die Entwicklungspotenziale des heutigen Irak erfordert eine vielseitige Herangehensweise an die konkreten Phänomene, die den Konflikt konstituieren.

Bevor Probleme und Potenziale erötert und analysiert werden können, kommt man nicht umhin, sich ausführlich der jüngeren Geschichte des Irak zu widmen. Will man sich der ganzen Komplexität des irakischen Problems nähern und den Versuch unternehmen, diese zu verstehen, muss man die Geschichte des Landes kennen. Der rote Faden wird in diesem Teil von der Frage bestimmt: Was hat den Irak zu dem gemacht, was er heute ist? Eine weitere Teilfrage, welche einer Beantwortung bedarf, ist: Was sind die materiellen und ökonomischen Triebkräfte des Geschehens, welche das externe Interesse immer wieder auf den Irak und dessen Ressourcen, wie etwa das Öl, lenkten?

Mit den historischen Zusammenhängen als Grundlage wird der Versuch unternommen, sich den aktuellen Strukturproblemen und Entwicklungspotenzialen zu nähern. Die Leitfragen in diesem Abschnitt sind: Kann das Projekt einer „externen Demokratisierung“ auf einen Staat wie den Irak überhaupt angewendet werden? Kann der Irak, angesichts seiner Geschichte, überhaupt als föderativer Staat regiert werden? Was kann eine zukünftige irakische Regie- rung tun, um die Strukturprobleme des Landes zu lösen? Welche Entwicklungspotenziale besitzt der Irak?

Die Beantwortung dieser Fragen sollen dabei helfen, das vielschichtige Beziehungsgeflecht, welches den Irak umgibt, zu verstehen und einzuordnen.

1.2 Aufbau der Arbeit

Zunächst erfolgt im zweiten Kapitel ein geschichtlicher Abriss der jüngeren Geschichte des Irak. Vollständigkeit soll hier nicht das wichtigste Qualitätsmerkmal sein. Gleichwohl wird ein wissenschaftlich fundierter Überblick des modernen Irak gegeben, welcher anhand der wichtigsten historischen Akteure und der herausragenden historischen Einschnitte heutige Ereignisse und Zusammenhänge verständlicher machen will. Diesem Anliegen entsprechend, werden immer wieder Bezüge zur Gegenwart aufgezeigt.

Die Strukturprobleme, welche die Entwicklung im Irak aktuell belasten, werden im dritten Kapitel dargelegt. Zunächst werden die Verhältnisse und Prozesse der verschiedenen Akteu- re im Irak besprochen, wobei besonderes Augenmerk auf deren aktuelle Situation und deren zukünftige Stellung gelegt werden soll. Daraufhin wird der Wiederaufbauprozess im Irak kritisch aufgearbeitet. Anschließend soll die herrausragende Stellung des irakischen Erdöls gesondert betrachtet werden.

Im vierten Kapitel werden einige Entwicklungsszenarien des Irak vorgestellt. Anhand ver schiedener Prämissen wird hier analysiert, welche Vorraussetzungen wahrscheinlich zu einer einheitlichen Demokratie, zu einem autoritären Staat oder zu einer (gewaltsamen) Teilung führen würden.

Abschließend folgen im fünften Kapitel einige zusammenfassende Schlussbemerkungen. Zudem werden Überlegungen angestellt, welches Szenario für den Irak am wahrschein- lichsten ist.

2. Historischer Abriss des Landes

Kaum ein Land des Nahen und Mittleren Ostens ist durch so viele und lang andauernde Konflikte gegangen wie der Irak. Wie andere Länder der Region ist der Irak von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs nach deren strategischen Bedürfnissen erschaffen worden, unabhängig von den großen religiösen und ethnischen Gegensätzen, die im neu geschaffenen Irak augenfällig gewesen sein müssen und bis heute andauern.

Wer dieses Land heute verstehen will, muss seine Geschichte kennen. Beschäftigt man sich mit dieser, erkennt man den Ersten Weltkrieg schnell als Dreh- und Angelpunkt, denn bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts spielten die drei osmanischen Verwaltungsbezirke Mos- sul, Bagdad und Basra keine große Rolle in der internationalen Politik. Jedoch kann der heutige Irak, wie beispielsweise der Anspruch auf Kuwait oder die Rolle der Schiiten, nicht durch die letzten 100 Jahre seiner Geschichte erklärt werden. Aus diesem Grunde soll der geschichtliche Abriss mit einem Überblick über die historischen Fundamente des modernen Irak beginnen.

2.1 Geschichte bis zur Gründung 1921

Das Gebiet des heutigen Irak gehört mit zu den ältesten Kulturlandschaften der Erde, da es zum Gebiet des sogenannten „Fruchtbaren Halbmonds“gehört Jäger und Sammler gingen in diesem Gebiet bereits im 10. und 9. Jahrtausend v. Chr. zum Ackerbau über und betrieben Viehhaltung. Dauerhafte Besiedlung ist im heutigen Nordirak seit dem 7.Jahrtausend v. Chr. nachgewiesen. Vereinfacht lässt sich die Vorgeschichte des modernen Irak in drei Hauptabschnitte gliedern.

2.1.1 Die altorientalischen Reiche

Das fruchtbare Schwemmland am Unterlauf von Euphrat und Tigris wurde ab dem 4. Jahr- tausend v. Chr. von den Mesopotamiern in Besitz genommenen und urbar gemacht. Parallel zu den Ägyptern bildete sich hier zwischen 3200 und 2800 v. Chr. die Hochkultur der Su- merer heraus. Hier entstand beispielsweise mit der Keilschrift eine der frühesten Schriften der Menschheit. Um 2000 v. Chr. verfielen die sumerischen Städte durch Erschöpfung und Versalzung der Böden. Weiter nördlich entstand aber nahezu gleichzeitig ein weiteres Groß- reich mit Babylon als Mittelpunkt. Das etwa 500 Jahre währende altbabylonische Reich brachte eine der ersten Rechtssammlungen der Menschheit hervor. Von 1500 bis ca. 500 v. Chr. war zunächst Assyrien und später das neubabylonische Reich die vorherrschende Macht im Zweistromland. Letzteres zerfiel 539 v. Chr. unter dem Ansturm der persischen Achäminiden. Zwei Jahrhunderte später begründete Alexander der Große mit der Eroberung Babyloniens die hellenistische Ära Mesopotamiens. Die Alexander nachfolgende Diadochen- linie regierte das Land die nächsten 200 Jahre lang. Anschließend folgte eine lange Zeit der Herrschaft weiterer persischer Dynastien bis es Mitte des 7. Jahrhunderts n. Chr. zur arabischen Eroberung Mesopotamiens kam (Vgl. hierzu auch ABDULRAHMAN 1984, S. 8ff, FÜRTIG 2003b S. 11f und TRIPP 2000 S. 9ff).

2.1.2 Die arabisch-islamische Blütezeit

Die letzte persische Dynastie der Sassaniden brach zwischen 633 und 640 unter dem Druck der aus der arabischen Halbinsel herandrängenden islamisierten Araber zusammen. Der entscheidende Sieg gelang den Arabern 637 bei Qadisiyya. Dieses Datum ist insofern von Bedeutung, als dass Saddam Hussein sich dessen bediente, die „ewige“ Überlegenheit der Araber über die Perser zu symbolisieren und damit den ersten Golfkrieg gegen den Iran 1980 bis 1988 zu legitimieren. Obgleich das Zentrum dieser ersten islamischen Dynastie in Damaskus lag, entstanden im Irak relativ zügig Städte wie Basra und Kufa, von denen aus die Islamisierung des Landes rasch vorangetrieben werden konnte. Kalif Ali, der für den schi- itischen Islam von zentraler Bedeutung ist, wählte Kufa zu seiner Residenzstadt. Die heute heiligen Ortschaften des schiitischen Islams auf irakischem Boden lassen sich auf die Aus- einandersetzung der Söhne Alis, Hassan und Hussein, zurückführen. Gerade der gewaltvolle Tod des Hussein, er war 680 auf dem Weg nach Kufa in Kerbala in einen Hinterhalt geraten und ermordet worden, bedeutet für die Schiiten den Ausgangspunkt ihres Unterdrückten- daseins. Von da an führten die Sunniten, sie hatten den gesamten Machtbereich des schi- itischen Kalifats übernommen, die Geschicke des Zweistromlandes; zuerst aus Damaskus, später aus Bagdad. Doch die schiitische Bewegung brach nach der Niederlage von Kerbala keineswegs zusammen, das Gefühl der Ungerechtigkeit und die Ressentiments gegen das sunnitische Kalifat sollten sich in der Folgezeit noch verstärken. Der gewaltsame Tod des Hussein bei Kerbala macht diese Stadt im Irak zum Geburtsort des Schiismus. So kommt es auch heutzutage in den heiligen Städten des Irak zu massenhaft Selbstkasteiungen von schiitischen Gläubigen zu Ehren des ermordeten Hussein.

Abb. 1: Der Fruchtbare Halbmond

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Fruchtbarer_Halbmond.JPG

In der Folgezeit wurde das Land durch einen wirtschaftlichen Aufschwung zum Zentrum der arabisch-islamischen Kultur. Im 7. und 8. Jahrhundert kam es zur Blüte von Handel, Handwerk und Landwirtschaft. Hierfür stehen Belege von Handelsverbindungen nach Südostasien und China sowie dem umfangreichen Ausbau der Bewässerungssysteme. Mit „1001 Nacht“ erreichten auch Kunst und Kultur eine Hochphase.

Zu dieser Zeit wurde die Unterteilung von Arabern und Nichtarabern durch die Unterscheidung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen ersetzt. Diese Neuordnung öffnete den Persern den Zugang zu höheren Ämtern, die Mitte des 10. Jahrhunderts auch die Macht im Reich übernahmen. Mitte des 13. Jahrhunderts eroberten die Mongolen das Zweistromland, welche sich dort für etwa 150 Jahre festsetzen sollten.

Unter den mongolischen Dynastien verfiel das Land und wurde 1400 von den Armeen Timurs verwüstet. Als Bagdad 1534 von den Osmanen erobert wurde, endete eine lange historische Epoche der Instabilität und des Niedergangs (Vgl. hierzu auch HALM 2001, S. 23ff, HEINE 2002, S. 13f und TRIPP 2000, S.12ff).

2.1.3 Die osmanische Herrschaft

Die Osmanen gliederten das Zweistromland, welches von der einheimischen arabischen Bevölkerung „Irak“ genannt wurde, ihrem Reich bis 1918 ein. Für die Osmanen hatte der Irak eine absolute Randlage, deshalb bedurfte es nach deren Ansicht keiner großen Auf- merksamkeit. Die osmanischen Statthalter waren viel mehr an persönlicher Bereicherung als an der Entwicklung des Landes interessiert. Infolgedessen verarmten große Teile des Landes und auch die lebensnotwendigen Bewässerungssysteme versandeten. Unter diesen Umständen konnten einzelne lokale Herrscher, welche lange Zeit als Verwalter eingesetzt waren, sich der osmanischen Oberherrschaft immer wieder entziehen.

Um Sezessionsbestrebungen entgegenzutreten, wurde der Irak 1831 der Direktverwaltung durch Istanbul unterstellt. Ende des 19. Jahrhunderts veranlassten die Osmanen eine Verwaltungsreform im Irak, die 1879 die selbstständige Provinz Mossul und 1884 die separate Provinz Basra entstehen ließ. Diese beiden Provinzen bildeten gemeinsam mit Bagdad die territorialen Vorläufer des modernen Irak.

In diese Zeit fällt der auch heute immer noch aktuelle irakische Anspruch auf Kuwait. Mitte des 18. Jahrhunderts erkannte die Herrscherfamilie von Kuwait die Oberhoheit des osma- nischen Reiches über ihren Herrschaftsbereich an. Nach der irakischen Verwaltungsreform und der Einrichtung der Provinz Basra, zahlte der Emir von Kuwait seine Tribute nun an diese nächstgelegene osmanische Provinz. Irakische Regierungen argumentierten bis heute, dass Kuwait dem Einzugsbereich des Gouverneurs von Basra unterstanden habe und durch Tributzahlung auch dessen Oberhoheit anerkannte. Deshalb wäre es nur legitim, dass ehe- mals abhängige Territorium wieder mit der ehemaligen Provinz zu vereinen (Vgl. STORCK/ LESCH 1990, S.10ff).

Zu dieser Zeit befand sich der „kranke Mann am Bosporus“, wie das im Niedergang befindli- che Osmanische Reich genannt wurde, nicht mehr in der Lage, sein Territorium zusammen- zuhalten. Einerseits hatten veraltete Strukturen und Korruption das Reich von innen heraus geschwächt, andererseits lud gerade diese Schwäche die europäischen Großmächte dazu ein, ihren Konkurrenzkampf um die Aufteilung der Welt auch auf osmanischem Territorium auszutragen. Die Briten sahen im Irak die Möglichkeit eines direkten Landweges zur indi- schen Kronkolonie und gründeten 1861 ein Monopol für den Schiffsverkehr auf dem Schatt al-Arab bis zum Hafen von Basra. Unterdessen plante das deutsche Kaiserreich den Bau einer Eisenbahnlinie in den Mittleren Osten, der sogenannten Bagdadbahn, und erhielt ge- gen den Einwand der Briten die Genehmigung aus Istanbul, den Eisenbahnbau bis zum Per- sischen Golf zu betreiben. Trotz dieser diplomatischen Niederlage gelang es der britischen Regierung, ihre Position durch Protektoratsabkommen mit ansässigen arabischen Führern zu festigen (Vgl. hierzu auch CLEVELAND 1994, S.190ff und HEINE 2002, S. 14f).

Nachdem das Osmanische Reich als Verbündeter des deutschen Kaiserreichs in den 1. Welt- krieg (1914-1918) eingetreten war, besetzten britisch-indische Verbände im November 1914 Basra und drangen von dort aus nach Norden vor. Nach längeren Kämpfen gegen deutsche und osmanische Truppen marschierten die Briten im März 1917 „als Freunde der Araber“ (FÜRTIG 2003b, S. 15) in Bagdad ein; im Oktober 1918 war Mesopotamien dann vollständig unter britischer Militärkontrolle. Die arabischen „Freunde“ litten allerdings in erster Linie durch grassierenden Hunger und Epidemien. 1917 kam es vielerorts im Lande zu Hungerre- volten. Als das Osmanische Reich am 30. Oktober 1918 kapitulierte, war den meisten Irakern deshalb das Ende des vierjährigen Krieges wichtiger als das Ende von 400 Jahren osmani- scher Fremdherrschaft.

2.2 Vom Königreich zur Republik (1920-1958)

Am Ende des Ersten Weltkriegs waren die Briten zumindest formal im Besitz eines Landes, das äußerst schwierig zu regieren war. Darüber hinaus waren endgültige Regelungen für das Erbe des Osmanischen Reiches noch nicht getroffen worden. Die Briten stützen sich bei der Verwaltung des Landes zunächst auf die vorhandenen sunnitischen Eliten sowie auf jüdische und christliche Minderheiten. Wieder einmal blieb die Mehrheit der Bevölkerung somit von den politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Die Verwaltungsmög- lichkeiten waren allerdings begrenzt, da sich die Alliierten Frankreich und England über die endgültigen Grenzen des werdenden Staates nicht einig waren. Um sich die Unterstützung der Araber bei einem militärischen Aufstand gegen das Osmanische Reich zu sichern, hatte die britische Regierung zu Beginn des Krieges einer Gruppe arabischer Führer für den Fall einer erfolgreichen Revolte und dem alliierten Sieg über das Osmanische Reich die Gewäh- rung eines unabhängigen arabischen Staates versprochen. Der Sharif von Mekka, Hus- sein, und seine Söhne Faisal und Abdallah, hatten daraufhin mit den Briten, angeführt vom berühmten Lawrence von Arabien, während des wenig später aufflammenden arabischen Aufstandes gegen die Osmanen, zusammen gearbeitet. Da die Araber ihren Teil der Abma- chung eingehalten hatten, gab es für die Iraker 1918 also allen Grund, von der Einlösung der britischen Versprechungen auszugehen. Was sie nicht wissen konnten, war, dass sich die britische Regierung schon 1916 mit Frankreich über die Aufteilung der arabischen Pro- vinzen des Osmanischen Reiches geeinigt hatte. Das nach den französischen und britischen Diplomaten Charles Francois Georges Picot und Sir Mark Sykes benannte Geheimabkommen bedeutete nichts weniger als den Bruch aller Zusagen gegenüber den Arabern (s. Abb. 2).

Abb. 2: Das Sykes-Picot Abkommen von 1916 Quelle: eigene Darstellung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Briten verletzten aber mit der Besetzung der Provinz Mossul sogar dieses Geheimab- kommen; die vermuteten reichen Erdöllagerstätten der Provinz stellten einen zu starken Anreiz dar. Zudem wollten sie die Provinz nicht der jungen türkischen Republik überlassen, welche von jener Zeit an immer wieder Ansprüche auf das Gebiet geltend machen wollte. Großbritannien wähnte seine Stellung sicher genug, um sich auf der Konferenz von San Remo am 25. April 1920 vom Völkerbund das Mandat über den Irak erteilen zu lassen und damit gleichzeitig den arabischen Forderungen endgültig eine Absage zu erteilen.

Als die neuen Machthaber in Russland die Bestimmungen des Sykes-Picot Abkommens nach der Oktoberrevolution 1918 publik machten, wurde den Arabern die wahren Absichten Groß- britanniens auch im Irak offenkundig: die direkte Kontrolle des Landes. Schon Ende 1918 hatten erste Unruhen das Land erfasst und im August 1920 befanden sich weite Teile Iraks, bis auf Bagdad und die Provinzhauptstädte Basra und Mossul, nicht mehr unter britischer Kontrolle. Bemerkenswert war die Zusammenarbeit der schiitischen Bevölkerungsmehrheit und den sunnitischen Arabern, die unter den Osmanen privilegiert gewesen waren und sich jetzt gemeinsam gegen die britische Vorherrschaft auflehnten. Die Wucht dieser sogenann- ten „Revolution von 1920“ hatte die Briten völlig überrascht, da in London die feste Über- zeugung vorherrschte, dass die einheimische Bevölkerung zur Selbstverwaltung nicht in der Lage war („white man´s burden“). Als die Briten ihre Truppenkontingente verstärkten und auch noch Flugzeuge zur Bekämpfung der Aufständischen einsetzten, brach der Aufstand zusammen. Durch die Niederschlagung dieser „Revolution von 1920“ war den Briten jedoch klar geworden, dass eine administrative Lösung für den Irak gefunden werden musste, die zumindest von den wichtigen Teilen der Bevölkerung akzeptiert wurde (Vgl. hierzu auch SLUGLETT 1976, S. 28ff und PRESTON 2003, S. 230ff).

2.2.1 Die Gründung des modernen Irak

Im März 1921 beschlossen die Briten auf der Konferenz von Kairo den Übergang von einer direkten zu einer indirekten Herrschaft im Irak. Dafür bot sich aus britischer Sicht Faisal, Sohn von Sharif Hussein und Spross der Haschimiten-Dynastie aus dem Hijaz an. Durch seine Herkunft und seine Stellung als prominenter Sunnit besaß dieser im Irak keine eigene Basis und war daher auf britisches Wohlwollen angewiesen. Nichtsdestoweniger stammte er jedoch aus der Familie des Propheten Muhammad und verfügte von daher über eine gewisse religiöse Autorität, der sowohl von sunnitischer wie auch von schiitischer Seite Achtung entgegengebracht wurde.

Trotz der offenkundigen Risiken nahm Faisal das britische Angebot an, König des Irak zu werden. Er brachte eine Reihe von Beratern mit ins Land, welche an den Vorbereitungen ei- ner verfassungsgebenden Versammlung teilnahmen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gehörten alle Berater Faisals der sunnitischen Konfession an. Natürlich blieben die Briten aber die entscheidende Kraft im Irak. Vor allem im Bereich der Außenpolitik und der militärischen Fragen behielten die Briten weiterhin die Entscheidungsgewalt. Die Rolle Großbritanniens wurde am 10. Oktober 1920 im sogenannten britisch-irakischen „Bündnisvertrag“ festgeschrieben. London verpflichtete sich für den Irak innerhalb einer zwanzigjährigen Vertragslaufzeit die Aufnahme in den Völkerbund zu erwirken, die Mandatsherrschaft zu beenden und das Land in die Unabhängigkeit zu entlassen. Damit war die indirekte Herrschaft für zwei Jahrzehnte festgeschrieben (Vgl. DANN 1988, S. 94f).

Aus heutiger Sicht muss die nun folgende Ausformulierung einer nach westlichem Vor- bild erarbeitete irakische Verfassung als Fehler angesehen werden, da die politische Praxis im Irak auf Formen traditioneller Loyalitäten beruhte und Parteien nach britischem Vorbild nicht mal im Ansatz bekannt waren. Zudem könnte man das irakische politische System mit einigem Recht als Machtdreieck, bestehend aus herrschendem König, sunnitischer Elite und britischen Beratern, beschreiben. Kein Teil dieses Dreiecks war daran interessiert, ihren Ein- fluss mit Kräften außerhalb des Machtgefüges, wie etwa mit Schiiten und Kurden, zu teilen. Obwohl Faisal und seine Regierung um die Brisanz dieses Vertrages und dessen wahrschein- lich negativen Konsequenzen wussten, mussten sie bis auf wenige Abänderungen diesem Vertrag zustimmen. Trotz der eigenen Verfassung blieb der Irak de facto Mandatsgebiet des Völkerbundes unter Aufsicht Großbritanniens (Vgl. HEINE, S. 44ff).

2.2.2 Zwischenkriegsjahre und „Scheinunabhängigkeit“

Trotz aller Widrigkeiten wurde im Irak eine allgemeine Verwaltung eingerichtet und eine Armee gegründet. Zusammen bildeten diese Umstände eine wichtige Voraussetzung für die Modernisierung des Landes. Insbesondere die Armee sollte in den folgenden Jahrzehnten zu einem der entscheidenden Machtfaktoren werden.

Die folgenden Jahre waren von den fortlaufenden Bemühungen König Faisals gekennzeich- net, zumindest die Schiiten mit seinem Regime zu versöhnen. Diese Bemühungen waren allerdings langfristig angelegt, die irakischen Schiiten drängten aber auf schnelle Verbes- serungen ihrer Situation (Vgl. ebd., S. 47). So kam es immer wieder zu Konflikten wie bei- spielsweise Angriffe auf Bahn- und Telegrafenlinien. Hintergrund dieser Konflikte war die fortwährende Auffassung der Schiiten, dass sie schlechter gestellt waren als die Sunniten. Darüber hinaus hatte sich seit Mitte der 20er Jahre, aufgrund des großen Einflusses der Bri- ten auf allen Verwaltungsebenen, eine starke arabisch-nationalistische Strömung im Land herausgebildet. Unter diesen Voraussetzungen waren die Jahre 1925 bis 1930 gekennzeich- net durch die in regelmäßigen Abständen aufflammenden Auseinandersetzungen zwischen einer pro-britischen irakischen Elite und jener wachsenden Bevölkerungsschicht, welche die Macht der Briten im Irak einzudämmen versuchte.

Aus innen- wie außenpolitischer Sicht war die Abhängigkeit der regierenden Elite von den Briten problematisch, denn der Irak lief Gefahr, in die Konflikte Großbritanniens verwickelt zu werden. Zudem war der politische Bewegungsspielraum im Irak eng verbunden mit den innenpolitischen Verhältnissen in Großbritannien. Als im Jahre 1929 die Labour-Partei in London an die Macht gekommen war, sah König Faisal die Möglichkeit einer formalen Neu- ordnung der Verhältnisse im Irak. Er ernannte einen seiner engsten Vertrauten, den ehema- ligen osmanischen Offizier Nuri al-Said, zum Ministerpräsidenten. Jener war wegen seiner Durchsetzungsfähigkeit und seiner anglophilen Grundhaltung bei den Briten sehr geschätzt und wurde der erste „starke Mann“ des Irak. Er verkörperte wie kein anderer die Allianz zwischen der Monarchie und der pro-britischen Elite, die für den Status Quo im Irak eintrat. Demzufolge wurde die nationalistische und später auch die kommunistische Opposition großen Repressalien ausgesetzt, was al-Said zu einem der meist gehassten Männer im Irak machen sollte.

Nichtsdestoweniger war um 1930 der öffentliche Druck im Irak so stark angewachsen, dass die Briten einer Veränderung des „Bündnisvertrags“ von 1920 zustimmten. Dieser neue Ver- trag von 1930 trat am 3. Oktober 1932 in Kraft, als der Irak in den Völkerbund aufgenom- men wurde, das Mandat erlosch und formal die Unabhängigkeit begann. Die Mehrheit der irakischen Bevölkerung empfand aber keine rechte Freude, denn der von Nuri al-Said unter- zeichnete Vertrag sicherte Großbritannien auch dauerhafte Privilegien zu, u.a. die Konsul- tationspflicht beim zukünftigen britischen Botschafter, das Durchmarschrecht für britische Truppen im Kriegsfall und die Kontrolle des Erdölsektors (Vgl. FÜRTIG 2003b, S. 28). Die „Iraq Petroleum Company“ (IPC) sollte für die nächsten drei Jahrzehnte unangefochten in britischem Besitz bleiben und dabei faktisch ein Monopol über die irakische Erdölwirtschaft besitzen.

Mit internationaler Anerkennung und der Unabhängigkeit des Landes wurde die Stellung der Minderheiten, vor allem der Kurden, diskutiert. Die Briten hatten 1920 den irakischen Teil Kurdistans in ihr Mandatsgebiet eingegliedert um zu verhindern, dass dieser an die jun- ge türkische Republik fällt. Zudem sicherten sie sich die Kontrolle über die Erdölvorkommen im Gebiet um Kirkuk und die vornehmlich sunnitische Bevölkerung der Provinz verbesserte das Zahlenverhältnis gegenüber der schiitischen Bevölkerungsmehrheit. Hingegen interner Streitigkeiten herrschte in den Kurdengebieten insofern Einigkeit, dass man einer Zentral- regierung in Bagdad ablehnend gegenüberstand. Den kurdischen Unabhängigkeitsbestre- bungen zum Trotz einigten sich die Briten 1923 auf der Konferenz von Lausanne mit Kemal Atatürk über die Neuordnung der modernen Türkei. Ein „Nebenprodukt“ dieser Konferenz war die Tatsache, dass sich der kurdische Traum von einem eigenen Staat, trotz anders lau- tender Versprechungen der Briten im Vertrag von Sévres 1920, in Luft auflöste. Enttäuscht forderten die Kurden nun zumindest ein hohes Maß an Autonomie in ihren nordirakischen Siedlungsgebieten, welche aufgrund der Erdölfördergebiete um Kirkuk und Mossul sowohl von London als auch von Bagdad abgelehnt wurde. Daraufhin verloren die Kurden ihren Glauben an britische, wie irakische Versprechungen. So kam es in den 30er Jahren immer wieder zu kurdischen Aufständen gegen die irakische Regierung, die zumeist blutig niedergeschlagen wurden.

An dieser Stelle soll noch auf die Rolle einer weiteren Minderheit und die Probleme ihrer Integration in den Irak kurz eingegangen werden. Die im Irak siedelnden Assyrer wurden von den Muslimen im Irak für illoyal dem Staat gegenüber gehalten. Es kam immer wieder zu arabischen und kurdischen Übergriffen auf die Assyrer, welche sich diskriminiert und ver- unsichert fühlten. Mit der Unabhängigkeit des Landes wurden diese Gefühle noch verstärkt, was zu ersten Auswanderungsbewegungen führte. Erneute irakische Übergriffe weiteten sich zu blutigen Pogromen aus, welche eine fast vollständige assyrische Auswanderung aber auch weltweite Proteste auslöste. Nichtsdestoweniger spielten die Assyrer in der Geschichte des Iraks längst nicht die Rolle, die die Kurden einnahmen (Vgl. hierzu auch ebd., S. 30f und HEINE, S. 52).

Die knappe Dekade zwischen der formalen „Unabhängigkeit“ und dem irakischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg war durch extreme politische Unsicherheit gekennzeichnet. Be- zeichnend hierfür sind 12 verschiedene Regierungen, die zwischen 1932 und 1939 die Mi- nisterien in Bagdad besetzten. Die Ursachen der Instabilität sind sowohl bei den national gesinnten Irakern mittlerer und unterer sozialer Schichten, die bis zur realen Unabhän- gigkeit weiterkämpfen wollten, als auch bei ethnischen und religiösen Gruppierungen, die nach mehr Mitspracherecht im neuen Staat oder nach Autonomie sinnten, zu suchen (Vgl. FÜRTIG 2003b, S.30ff). Hinzu kam, dass König Faisal 1933 während einer Europareise völlig überraschend verstarb und dessen junger Sohn al-Ghazi den Königsthron bestieg. Ob der Unerfahrenheit des jungen Mannes, versuchten nun nicht nur der irakische Hof und ihm nahe stehende Politiker, sondern auch britische Berater al-Ghazi für ihre Politik zu nutzen, was ihnen anfänglich auch gelang. Doch trotz aller Unerfahrenheit sollte die starke nati- onalistische Einstellung des Thronfolgers weiterreichende Auswirkungen für die politische Zukunft des Irak haben. Am augenscheinlichsten waren diese Veränderungen bei der iraki- schen Armee zu beobachten, denn al-Ghazi nutzte die nationale Gesinnung vieler Offiziere, um die pro-britischen Politiker um Nuri al-Said zu entmachten. Es kam zu immer neuen militärischen Drohgebärden und Machtdemonstrationen, die den Beginn einer neuen politi- schen „Kultur“ kennzeichneten, welche den Irak bis zum Beginn der Baath-Herrschaft über- schatten sollte: der permanent drohende Eingriff des irakischen Militäres in die politische Entwicklung des Landes.

Der glühende Nationalismus des Königs und seines Ministerpräsidenten Sulaiman zeigten sich auch in anderer Hinsicht. Über eigene Rundfunksender wurde arabisch-nationalisti- sches Gedankengut verbreitet; die Sendungen waren gespickt von anti-britischen Ressen- timents und erhoben erstmals Anspruch auf Kuwait. Diese Umstände ließen diese pan-ara- bischen Offiziere mit dem europäischen Faschismus liebäugeln. Sie wollten die Errichtung eines real unabhängigen arabischen Staates mit Hilfe der Achsenmächte Deutschland und Italien erreichen. Deutschland startete eine kulturpolitische Offensive und einen umfang- reichen Propagandafeldzug, woraufhin eine paramilitärische Organisation nach Vorbild der Hitlerjugend entstand. Bemerkenswert ist hierbei, dass sich König al-Ghazi in seiner Gesin- nung mit vielen seiner Untertanen einig war (Vgl. hierzu auch ebd. S. 35 und HEINE, S. 55f). Die Regierung in London reagierte aufgrund der heraufziehenden Kriegsgefahr besorgt auf die Entwicklung im Irak und veranlasste den pro-britischen Generalstabschef Fauzi im De- zember 1938 den bisherigen Ministerpräsidenten seines Amtes zu entheben und ihn durch den verlässlichsten Sachverwalter britischer Interessen im Irak, Nuri al-Said, zu ersetzen. Als König al-Ghazi am 3. April 1939 an den Folgen eines Autounfalls starb, war die Mehrzahl der Iraker davon überzeugt, dass der Tod entweder auf al-Said oder direkt auf die Briten zurückzuführen sei. Auch heute überwiegt in weiten Teilen der irakischen Bevölkerung noch diese negative Haltung gegenüber der britischen Irakpolitik.

Da der Sohn von al-Ghazi, Faisal II., erst vier Jahre alt war, wurde Adb al-Illah, ein Bruder von König Faisal, am 6. April 1939 zum Regenten ernannt. Das politische Tagesgeschäft überließ dieser weitestgehend Nuri al-Said, er selbst war politisch wenig ambitioniert, galt als intrigant und brutal und war vorwiegend auf persönliche Bereicherung aus. Demzufolge wurde er von vielen Beobachtern als der „böse Geist“ (ebd., S. 55) des irakischen Königshauses beschrieben. Da er sich mit al-Said im Gespann aber konsequent die britische Unterstützung zusicherte, konnte er sich der Gunst Londons sicher sein. Konsequenterweise brach die nun erneut pro-britische Führung des Irak mit Kriegsausbruch des Zweiten Weltkriegs die diplomatischen Beziehungen mit Deutschland wieder ab.

2.2.3 Der Zweite Weltkrieg und die Folgen

Die Spannungen zwischen den nationalistischen pro-deutschen Kräften und der britisch- freundlichen Führung des Iraks hatten mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs einen Höhepunkt erreicht. Besondere Bedeutung für eine Verschärfung der anti-britischen Hal- tung in der irakischen Öffentlichkeit galt dem Wirken von Haji Amin al-Husseini, dem im Oktober 1939 nach Bagdad emigrierten Großmufti von Jerusalem. So lehnten nationalisti- sche Politiker und die überwiegende Mehrheit der Iraker auch die britische Forderung ab, dass sich der Irak im Kampf gegen die Achsenmächte den Alliierten anschließen sollte. Die irakische Regierung unter Rashid al-Ghaliani, Nuri al-Said war im März 1940 frustriert zu- rückgetreten, bestand allerdings auf die Neutralität des Landes. 1941 kam es dann zum britisch-irakischen Krieg, nachdem die irakische Regierung den Briten die 1930 vertraglich zugesicherten Durchmarschrechte verweigerte. Möglicherweise nahmen die Briten dieses Ereignis als willkommene Gelegenheit, die militärische Kontrolle im Irak zurück zu erlan- gen. Den britischen Truppen gelang es relativ schnell, gegen die unerfahrenen irakischen Kräfte die Oberhand zu gewinnen. Darüber hinaus fiel der von der irakischen Führung er- hoffte, deutsche militärische Beistand verhältnismäßig klein aus und hatte keinen Einfluss auf das Geschehen. Nach der irakischen Niederlage wurde das Land von 100.000 britischen Soldaten erneut besetzt, was für viele Iraker gleichbedeutend war mit einem Rückfall in die Mandatszeit. Der vorübergehend geflüchtete Regent setzte am 9. Oktober 1941 Nuri al-Said erneut als Ministerpräsidenten ein, der unter Bedingungen des Kriegsrechts rigoros mit Gegnern abrechnen konnte. Die politisch führenden Nationalisten wurden entweder hingerichtet oder in britischen Lagern festgesetzt. In diesen Lagern wurden unter den iraki- schen Nationalisten Kontakte geknüpft, die in der Nachkriegszeit die politische Entwicklung im Irak entscheidend beeinflussen sollten (Vgl. ebd., S. 58). Diese Ereignisse vertieften den Gegensatz zwischen Anhängern und Gegnern des britischen Einflusses weiter. Der Regent und Nuri al-Said hatten sich in den Augen der irakischen Öffentlichkeit endgültig als Mari- onetten Großbritanniens entpuppt.

Für eine ethnische Gruppe waren die Folgen des britisch-irakischen Krieges besonders gravierend: Nach dem Zusammenbruch der irakischen Verteidigung kam es in Bagdad zu Pogromen gegen die alteingesessene jüdische Bevölkerung, bei denen die britischen Be- satzungstruppen nicht eingegriffen haben sollen. Diese Pogrome waren ein Gemisch aus indoktrinierter Nazi-Ideologie und Enttäuschungen über die fehlgeschlagene britische Poli- tik im Mandat Palästina. Diese Vorgänge führten zu einer massenhaften jüdischen Auswan- derung nach Israel. Der daraus resultierende Verlust für die Wirtschaft und das intellektuelle Leben im Irak sollte langfristige negative Folgen haben (Vgl. ebd., S. 59).

Die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs waren im Irak eine Zeit des politischen Stillstands. Im ersten Jahrzehnt der Nachkriegszeit kann der Irak mit einiger Berechtigung als ein „Bauer im Ost-West-Schach“ (FÜRTIG 2003b, S. 41) bezeichnet werden.

Im Jahre 1948 gab es mit Saleh Jabr zwar erstmals einen schiitischen Ministerpräsidenten, die beiden führenden Persönlichkeiten im Land blieben aber König Abd al-Illah und Nuri al- Said. Diese kontrollierten mit ihren Sicherheitsdiensten das Land, vor allem die nationalisti- sche und die kommunistische Opposition. Von diesen beiden Oppositionsgruppen bekamen insbesondere die Nationalisten, nach der erfolgreichen Revolution der freien Offiziere um Gamal Abdel Nasser in Ägypten, wie in allen anderen arabischen Ländern auch, starken Auftrieb. Der auf Nasser zurückzuführende pan-arabische Nationalismus stand jedoch in Konkurrenz mit den sozialistischen Vorstellungen der in den 40er Jahren in Syrien entstan- denen Baath-Partei2. Beide Ideologien standen hingegen wieder eindeutig in Opposition zur britischen und amerikanischen Politik in der arabischen Welt. Hinzu kamen die iraki- schen Kommunisten, die, wie nahezu alle kommunistischen Parteien der 50er Jahre, ebenso deutlich in ihrer anti-amerikanischen und anti-britischen Haltung mit den Nationalisten übereinstimmten.

2.2.4 Das Ende der Monarchie

Im Mai 1953 erreichte Faisal II. die Volljährigkeit und bestieg den Thron. Anders als sein fast gleichaltriges haschemitisches Familienmitglied Hussein in Jordanien interessierte er sich weniger für Politik, sondern überließ das politische Tagesgeschäft weiterhin seinem Onkel al-Illah und vor allem Nuri al-Said. Während Ägypten und Syrien nach und nach zu Klientelstaaten der Sowjetunion wurden, bemühte sich Nuri al-Said im Irak eine westliche Gegenfront gegen dieses linksgerichtete Regime aufzubauen. Unter der Führung von al- Said wurde der Irak Mitglied eines, unter amerikanischer Führung aufgebauten, westlichen Verteidigungsbündnisses, welches zum Ziel hatte, die Staaten des Warschauer Paktes einzu- kreisen: der Bagdad Pakt. Dieses Bündnis wurde zwischen dem NATO-Mitglied Türkei, dem Irak, Iran, Pakistan und Großbritannien geschlossen und spielte eine wichtige Rolle bei der Sicherung des westlichen Übergewichts in der strategisch bedeutenden Region des Nahen und Mittleren Ostens. Gegen diese offensichtlich pro-westliche Politik kam es in allen gro- ßen irakischen Städten zu kommunistisch und nationalistisch motivierten Demonstrationen und Ausschreitungen, welche aber auch soziale Gründe hatten. Nachdem viele Stammes- führer von ihren Stammesangehörigen immer höherer Pachtzahlungen verlangten, hatte seit Beginn der 50er Jahre eine ganz erhebliche Landflucht eingesetzt. Diese Landflucht wurde vor allem durch die junge Stammesbevölkerung mit Schulbildung getragen, welche nicht länger bereit waren, dass bestehende System zu ertragen (Vgl. HEINE 2004, S. 61). Zu jener Zeit konnte Nuri al-Said das Regime nur durch das regelmäßig wiederkehrende Aus- rufen des Kriegsrechts am Leben erhalten, was eine Abschaffung der mühsam errungenen bürgerlichen Rechte mit sich brachte. So beendete er die Straßenunruhen im Oktober 1952, indem er die Aufstände, welche die sofortige Aufhebung des Vertrags von 1930 und die Ab- schaffung des Zweiklassenwahlrechts zum Ziel hatten, blutig niederschlagen ließ. Genauso setzte er im Herbst 1956 Artillerie und Flugzeuge gegen Demonstranten ein, die gegen die irakische Beteiligung auf Seiten des britischen Bündnispartners im 2. Nahostkrieg gegen Ägypten mit seinem Präsidenten Nasser protestierten. Die noch junge irakische „Wieder- geburts“-(Baath)-Partei hatte während dieser Proteste Ihre Feuertaufe erhalten. Sie kamen mit anderen Oppositionsparteien nach den gescheiterten Aktionen des Jahres 1956 zu dem Schluss, dass man das bestehende Regime nur durch eine Bündelung der Kräfte stürzen könne. Daraufhin wurde die „Front der Nationalen Einheit“ (FNE) gegründet, welche im März 1957 mit fünf „nationalen Forderungen“ an die Öffentlichkeit trat: Absetzung Nuri al-Saids und Auflösung des Parlaments, Austritt aus dem Bagdad-Pakt und strickte außenpolitische Neutralität, Beendigung aller Formen ausländischer Einmischung, Aufhebung des Kriegs- rechts und Freilassung aller politischen Gefangenen sowie demokratische Freiheiten. Diese Forderungen gingen weitestgehend mit den Gefühlen der irakischen Bevölkerungsmehrheit konform (Vgl. HEINE 2004, S. 61).

Einmal mehr sollte nun die irakische Armee zu einem wichtigen Teil der irakischen Ge- schichte werden. In der Armee spiegelte sich die politische Einstellung der irakischen Gesell- schaft wieder. Die Generalität wurde vom bestehenden Regime hervorgebracht und wollte es deshalb auch erhalten. Demgegenüber stammten die mittleren Ränge und die jüngeren Offiziere teilweise aus mittleren und unteren Gesellschaftsschichten und träumten entwe- der nationalistische oder sogar kommunistische Umsturzideen. Nuri al-Said konnte sich in der Folgezeit immer weniger auf die Armee verlassen, welche sich nicht mehr für die Unter- drückung regionaler Nationalbewegungen instrumentalisieren lassen wollte.

Als Ägypten und Syrien sich zur „Vereinigten Arabischen Republik“ (VAR) zusammenschlos- sen, fürchteten die USA und Großbritannien um ihren „Verteidigungsring“. Sie ermutigten Nuri al-Said eindringlich auf diesen Zusammenschluss mit einer Allianz zwischen den be- nachbarten Monarchien Irak und Jordanien zu antworten3. Als 1958 im Libanon ein heftiger Bürgerkrieg ausbrach, bat der jordanische König um irakische Truppen für die Sicherung sei- ner Grenzen zum Libanon. Als die nach Jordanien abkommandierten irakischen Streitkräfte stattdessen auf Bagdad marschierten, besiegelte diese Befehlsverweigerung das Schicksal der Monarchie.

Die entscheidenden Aktionen des 14. Juli 1958 lagen in den Händen der beiden Offiziere General Abd al-Kasim Qasim und Oberst Abd al-Salam Arif. Beide entstammten der unte- ren Bevölkerungsschicht und waren durch ihre nationalistischen Überzeugungen schon in der Militärakademie von Bagdad aufeinander aufmerksam geworden. In dem Marschbefehl nach Jordanien sahen beide Offiziere die Möglichkeit zum Handeln. Am Morgen dieses 14. Juli zogen die Truppen in Bagdad ein und besetzten den Königspalast; Arif verkündete von der Rundfunkstation das Ende des alten Regimes und den Beginn einer neuen Republik. Im Palast herrschten wohl bis zuletzt Unstimmigkeiten unter den Offizieren über die Hand- habung der Königsfamilie. So wollten einige den „unpolitischen“ und vor allem bei jungen Irakern beliebten König Faisal II. zu Ehren seines „pan-arabischen“ Vaters schonen. Letztlich setzte sich aber die Meinung durch, dass der Monarchie keine Möglichkeit auf Wiederein- führung gegeben werden soll (Vgl. ebd., S.55). Also wurden Faisal, Adb al-Ilah und nahezu die gesamte Königsfamilie an Ort und Stelle erschossen. Nach Bekanntwerden der Ermor- dung der Königsfamilie stellten gegnerische oder unentschlossene Militäreinheiten ihren Widerstand ein. Im Laufe des Tages eskalierte die Situation in Bagdad: Der Leichnam von Abd al-Ilah wurde vor dem Verteidigungsministerium aufgehängt, das elitäre Bagdad-Hotel gestürmt und jordanische Minister sowie westliche Geschäftsleute entführt und getötet. Bewohner der ärmeren Viertel Bagdads plünderten den Palast und zahlreiche öffentliche Gebäude. 1958 wurde also das entstandene Machtvakuum in ähnlicher Weise wie auch 45 Jahre später schnell durch Gesetzlosigkeit gefüllt. General Qasim musste das Kriegsrecht ausrufen und Panzer auffahren lassen, konnte den Volkszorn jedoch solange nicht beru- higen, wie der verhasste Ministerpräsident Nuri al-Said noch auf freiem Fuß war. Dieser wurde erst zwei Tage später, als Frau verkleidet, auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft entdeckt und auf der Stelle getötet. Eine aufgebrachte Menge riss seinen Körper in Stücke. Durch den erfolgreichen Putsch hatte das westliche Verteidigungsbündnis einen schweren Rückschlag erlitten. Kurzzeitig forderten manche Diplomaten sogar einen NATO Einsatz. Nachdem sich die Putschisten allerdings endgültig durchgesetzt hatten, kamen westliche Diplomaten zu der Erkenntnis dass der Irak für sie verloren war. Dreizehn Tage nach der Re- volution wurde eine provisorische Verfassung proklamiert, die allerdings lediglich die Herr- schaft der Offiziere Qasim und Arif über die Republik Irak bemäntelte (Vgl. BATATU 1976, S. 802ff).

Mit dem Sturz der Monarchie endet ein Kapitel der irakischen Geschichte und ein neues begann.

2.3 Von der Republik zur Diktatur

In den nächsten zehn Jahren nach 1958 sollte der Irak eine Reihe von Umsturzversuchen und anarchieähnliche Zustände erleben müssen. Hatte die Bevölkerung dem neuen Regime anfangs eine Welle der Begeisterung entgegengebracht, war diese in großen Teilen der Gesellschaft einer misstrauischen Zurückhaltung gewichen. Auch zu Zeiten der Monarchie hatte es schon einige Putschversuche und politische Morde gegeben, diese sollten aber von nun an im Irak auf der Tagesordnung stehen.

Es muss festgehalten werden, dass die politische Entwicklung im Irak ein höheres Maß an Gewalt mit sich brachte als in anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Die Kenntnisnahme dieser Feststellung ist wichtig, will man die politische Entwicklung verstehen, die der Irak genommen hat und heute noch nimmt.

2.3.1 Das republikanische Experiment

Der irakische Umsturzversuch hatte mit vergleichbaren Umsturzversuchen der Region gemein, dass es zunächst keine konkreten politischen Pläne für die Zeit nach der erfolgreichen Machtübernahme gab. Zudem war das Verhältnis unter den Putschisten von Beginn an gespannt. Sie gehörten verschiedensten gesellschaftlichen Schichten an und waren sowohl von religiöser als auch von politischer Einstellung unterschiedlichster Auffassung. Die Beseitigung der pro-britischen Monarchie kann dementsprechend als der kleinste gemeinsame Nenner bezeichnet werden (Vgl. HEINE 2002, S. 66f).

In der Außenpolitik wurde die Richtung der neuen Regierung jedoch schnell deutlich: So wurde die Allianz mit Jordanien beendet, der Bagdadpakt boykottiert und diplomatische Beziehungen mit China und der Sowjetunion aufgenommen. 1959 sah sich die britische Regierung gezwungen, ihre letzten beiden Stützpunkte im Irak zu schließen und ihre Trup- pen abzuziehen. Im gleichen Jahr verließ der Irak endgültig den Bagdadpakt, der daraufhin unter dem Namen Central Treaty Organization (CENTO) neu strukturiert wurde. Im Jahre 1961 machte sich Präsident Qasim daran, die Macht der ausländisch kontrollierten IPC auf- zulösen. Auch in der Innenpolitik gab es etliche Reformbestrebungen, wie beispielsweise die Legalisierung von Parteien und Gewerkschaften oder die Verabschiedung neuer Sozialgeset- ze. Auf dem Wirtschaftssektor wurden die Prioritäten des alten Regimes nahezu umgekehrt: Von nun an stand die Industrie an der Spitze der Ausgaben, während die Landwirtschaft am Ende rangierte. Im Zuge der Agrarreform von 1958 sollte etwa die Hälfte des landwirt- schaftlich nutzbaren Bodens umverteilt werden, was die politische Kraft der Stammesführer und Landlords, welche zu den Stützen des alten Regimes zählten, brechen sollte (Vgl. FÜR- TIG 2003b, S.59f).

Diese Reformenbestrebungen waren aber von Beginn an mit gewaltigen Problemen behaf- tet, denn schon bald setzten die eingangs bereits erwähnten Meinungsverschiedenheiten über den weiteren politischen Kurs des Irak ein. In aller Deutlichkeit zeigte sich jetzt das Problem der „künstlichen“ Staatswerdung. Die verschiedenen Ethnien und Religionsgemein- schaften des nun souverän gewordenen Irak fragten sich nun, da es keine Repressionen von außen mehr gab, was sie eigentlich in diesem gemeinschaftlichen Staat zusammenhielt. Damals wie heute verstanden sich 75 - 80% der Iraker als Araber, 15 - 20% als Kurden sowie 5% als Turkmenen, Assyrer und andere. Gemäß ihrer Religion standen die Muslime mit einer Mehrheit von 97% einer Minderheit der 3 % Christen gegenüber. Genauso wie heute lag der entscheidende Faktor in der ethnischen Aufteilung der Muslime, von denen etwa 2/3 Schiiten und etwa 1/3 Sunniten waren. Diese Unterscheidung wird im Irak noch durch eine Vielzahl vertikaler (Araber, Kurde, Schiit, Sunnit usw.) und horizontaler (soziale Ober-, Mittel-, Unterschicht) Trennlinien erweitert. Hinzu kommt, dass sich soziale, ethische und konfessionelle Kategorien häufiger durch unterschiedliche Stammes-, Sippen- oder Fa- milienzugehörigkeit überschneiden. Folgerichtig kam es 1958, ähnlich wie heutzutage, zu starken zentrifugalen Tendenzen.

Diese Tendenzen waren bei allen Volksgruppen, vor allem aber bei den irakischen Kurden, zu beobachten. Nachdem sowohl die Briten während ihrer Mandatszeit als auch die Re- gierungen unter der Monarchie ihnen kein höheres Maß an Selbstbestimmung zugestehen wollten, setzten sie nun alle Hoffnungen auf die Republik. Für viele der pan-arabischen Offiziere galt die kurdische Autonomie aber als Verrat am irakischen Einheitsstaat, was kur- dischen Hoffnungen erneut einen Rückschlag beibrachte (Vgl. hierzu auch DANN 1969, S. 36ff und IBRAHIM 1983, S. 24ff). Ab dem Sommer 1961 setzten die Kurden nicht weiter auf Verhandlungen, sondern griffen zu militärischer Gewalt. Die Eskalation der kurdischen Fra- ge markierte den Anfang eines Dauerkrieges zwischen der kurdischen Minderheit und der republikanischen Zentralregierung, welcher bis 1975 andauern sollte.

Ein weiterer Umstand, welcher die junge Republik aufs äußerste belastete, war das Zerwürf- nis der beiden Schlüsselfiguren der Revolution, General Abd al-Kasim Qasim und Oberst Abd al-Salam Arif. Letzterer wünschte, dass sich der Irak politisch ähnlich wie Ägypten entwi- ckeln würde und ließ sich gleichzeitig im Irak als Revolutionsheld feiern, ohne Qasim auch nur zu erwähnen. Jener befürchtete nun, dass Arif, wie Nasser in Ägypten, seine Mitstreiter ausschalten wolle4. Nachdem Qasim Arif nicht von einer Union mit Syrien und Ägypten ab- bringen konnte, wurde Arif von allen Ämtern enthoben, festgenommen und zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt.

Im Irak standen sich nun zwei Strömungen gegenüber; einem von Qasim unterstützten national-patriotischen Flügel, der zunächst einen irakischen Einheitsstaat zum Ziel hatte, und einem pan-arabischen Flügel um Arif, der eine sofortige Vereinigung mit der VAR an- strebte. Die Mehrheit der Bevölkerung war eher dem zweiten Flügel, einem Sammelbecken aus Veteranen der Unabhängigkeitspartei, Nasseristen und Mitgliedern der Baath-Partei, zugetan (Vgl. FÜRTIG 2003b, S. 62f). Um diesem erdrückenden Übergewicht gegenüberzu- treten, stützte sich Qasim mehr und mehr auf die Kommunistische Partei des Irak (IKP). Die Popularität der IKP war in den letzten Jahren vor allem bei den Kurden und Schiiten stark angewachsen und so sah sie sich in der Lage, ihre Anhänger in kürzester Zeit zu mobilisie- ren und die Kontrolle über verschiedene Gewerkschaften, Verbände und Organisationen zu übernehmen (Vgl. BATATU 1976, S.897f). In der Folgezeit stellten sowohl die Kommunisten als auch die andere Seite Milizen auf. Ein Mitglied der irregulären Truppe der Baath-Partei war ein junger Mann aus Tikrit: Saddam Hussein.

Im März 1959 eskalierte es anlässlich einer kommunistischen Demonstration in Mossul zwi- schen beiden Flügeln. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Kommunis- ten und Nationalisten, welche einige führende Offiziere zu einem Staatsstreich nutzen woll- ten. Es kam zu anarchieähnlichen Zuständen in der Stadt, in denen einzelne Armeeeinheiten gegeneinander kämpften, kurdische und arabische Milizen mit ansässigen Stämmen und Clans aneinander gerieten. Letztendlich konnten regierungstreue Truppen die Aufstände niederschlagen.

In den folgenden Wochen und Monaten kam es immer wieder zu bewaffneten Aufständen, Demonstrationen und Straßenkämpfen; so im Mai 1959 in Bagdad oder im Juli 1959 in Kir- kuk. Für Präsident Qasim galt es nun, Gefahren aus verschiedenen Richtungen abzublocken, denn der Irak stand zu dieser Zeit unmittelbar vor einer kommunistischen Machtübernah- me, genauso wie vor einem Militärputsch der Nationalisten unter Führung der Baath-Partei. Nach dem gescheiterten Attentat auf Qasim am 7. Oktober 1959, an dem auch Saddam Hussein beteiligt war, war der Präsident in der Überzeugung bestärkt, dass er ein „über den Parteien stehender Vater der Nation“ (FÜRTIG 2003b, S. 66) sei. In der Realität verlor er aber zusehends die Bindung zu seinem Volk, das seine Herrschaft immer mehr als Diktatur empfand.

Wie vor ihm schon König Ghazi oder Nuri al-Said versuchte er mit einer Angliederung Kuwaits von innenpolitischen Problemen abzulenken, fand aber keine internationale oder zumindest innerarabische Unterstützung für dieses Vorhaben. Der Einmarsch britischer und saudi-arabischer Truppen in das Scheichtum veranlasste Qasim schließlich, die Unabhängigkeit Kuwaits anzuerkennen.

Nach Auflösung der VAR sah Qasim sich von der „pan-arabischen Gefahr“ befreit, was ihm zum Verhängnis werden sollte. Als er 1962 fast die gesamte Armee zur Niederschlagung kurdischer Aufstände in den nördlichen Irak entsandte, war die Gelegenheit für die nationa- listischen und baathistischen Offiziere gekommen, Qasim zu beseitigen. Im Februar 1963 besetzten die Putschisten unter Abd al-Salam Arif das Militärlager Abu- Ghuraib bei Bagdad, welches vierzig Jahre später durch den Folterskandal zu trauriger Be- rühmtheit kommen sollte. Von diesem Stützpunkt aus wurde die Absetzung Qasims verkün- det. Dessen Anhänger kamen nun zum Verteidigungsministerium, um Qasim zu verteidigen. Dieser verweigerte aber sowohl die Herausgabe von Waffen an die ihn unterstützende Men- ge als auch die Bewaffnung der kommunistischen Milizen. Warum Qasim so handelte, wird für immer sein Geheimnis bleiben; wahrscheinlich sah er in den Kommunisten nie mehr als eine Hilfstruppe. So konnten die Baathisten trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit nach zwei Tagen heftiger Gefechte mit einer zumeist spartanisch bewaffneten Menge die Oberhand gewinnen und das Verteidigungsministerium einnehmen. Qasim und seine Führungsriege wurden auf Anordnung des von den Putschisten gegründeten „Nationalen Rates des Revo- lutionären Kommandos“ (NRRK) am 9. Februar 1963 standrechtlich erschossen.

2.3.2 Konsolidierung der Baath-Partei

Obwohl die Baath-Partei und die IKP von Beginn an in einem Konkurrenzverhältnis standen, war die Brutalität, mit welcher die Baath-Partei nach ihrer Machtergreifung die Kommunis- ten bekämpfte, fast unerklärlich. Die folgenden sechs Monate waren von solcher Gewalt und Grausamkeit gezeichnet, wie sie der Nahe und Mittlere Osten seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hatte. Die neu aufgestellte, 35000 Mann zählende „Nationale Garde“ der Baath-Partei verfolgte und eliminierte rigoros alle politischen Gegner; hauptsächlich die Kommunisten. Diese wurden von der Führungsriege bis hin zum einfachen Sympathisanten ohne Prozess und nach teilweise schweren Folterungen ermordet. Ob dieser systematischen Ausschaltung der Kommunisten wurden immer wieder Vermutungen laut, dass der ame- rikanische Geheimdienst CIA der Baath-Partei Mitgliedslisten der IKP zugespielt hatte, um den „Klassenfeind“ im Irak unschädlich zu machen (Vgl. hierzu auch ebd., S.71 und HEINE 2002, S. 73).

[...]


1 Der vollständige Name lautet: „Hisb al-Baath al-Arabi al-Ischtiraki” („Sozialistische Partei der ara- bischen Wiedergeburt”). Motto der Partei wurden die drei Schlagworte „Einheit“ (im Sinne der Einrichtung eines einheitlichen arabischen Reiches), „Freiheit“ (im Sinne restloser Beseitigung ausländischer Vorherrschaft) und „Sozialismus“ (im Sinne des Aufbaus „gerechten“ Gesellschaftsordnung).

2 Die Gründung der „Arabischen Föderation“ vom 14. Februar 1958 wurde durch die Tatsache erleichtert, dass die beiden jungen Könige, Faisal II im Irak und Hussein in Jordanien, miteinander verwandt waren.

3 Gamel al-Nasser hatte die „Galionsfigur“ der ägyptischen Revolution von 1952, Ali Muhammad Nadjib, kurze Zeit später entmachtet.

Ende der Leseprobe aus 92 Seiten

Details

Titel
Strukturprobleme und Entwicklungspotenziale des heutigen Irak
Hochschule
Universität Hamburg
Note
2,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
92
Katalognummer
V58106
ISBN (eBook)
9783638523912
ISBN (Buch)
9783638693875
Dateigröße
5549 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Strukturprobleme, Entwicklungspotenziale, Irak
Arbeit zitieren
Thomas Drews (Autor:in), 2005, Strukturprobleme und Entwicklungspotenziale des heutigen Irak, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58106

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