Was jedem der sich schon einmal mit Kafkas Werk auseinander gesetzt hat sofort auffällt, ist die komplizierte Vater-Sohn-Beziehung. Alle Texte von Kafka wurden hinsichtlich dieser Problematik mehrfach untersucht und gedeutet: Der tyrannische Vater, der das Leben seines Sohnes zerstörte oder aber der Vater der ihm durch sein autoritäres, erniedrigendes Verhalten das Schreiben erst ermöglichte. Viele Interpretationen, zu Kafkas Vaterkonflikt in seinen Texten und auch zu seiner Beziehung zum eigenen Vater wurden veröffentlicht und finden rege Aufmerksamkeit.
Aber warum litt Kafka als Sohn anscheinend so extrem unter seinem Vater und warum soll der Vater als Hintergrund seiner Texte und all seiner Probleme gelten? Oft sind Väter strenger als Mütter, oft sind sie selten zu Hause, häufig fehlt ihnen aufgrund beruflicher Auslastung die Zeit, um ihren Kindern die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken, und es gibt (heute mehrfach als zu Kafkas Lebenszeit) auch alleinerziehende Mütter. Die meisten Kinder konnten und können mit diesen Problemen umgehen und begnügen sich, wenn sie von dem Vater nicht die gewünschte Anerkennung bekommen, mit der Liebe und Aufmerksamkeit ihrer Mutter.
Die Betonung des Vaters in vielen Texten Kafkas zeigt, dass das Verhältnis Kafkas zu seiner Mutter scheinbar kein Ausgleich für den jungen Franz gewesen sein konnte. Anscheinend drehte sich alles nur um den Vater. Und die Mutter, die bei den meisten Kinder zumindest in den ersten Lebensmonaten die einzige Bezugsperson ist, wurde nicht als Bezugsperson von ihm ausgewählt und/oder akzeptiert.
Warum dieses Familienverhältnis so kompliziert war und vor allem welche Rolle die Mutter für das Leben Kafkas und seine Werke hatte, all diese Fragen möchte ich versuchen in dieser Arbeit aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten.
Als erstes werde ich die biographischen Hintergründe der Familie Kafkas beleuchten und meinen Schwerpunkt dabei, wie auch in allen weiteren Kapiteln, hauptsächlich auf die Mutter Julie Kafka und ihr Verhältnis zu ihrem Sohn Franz legen. Im nächsten Schritt möchte ich die Erzählung Die Verwandlung mit ihrer Mutterkonstellation vorstellen, um anschließend anhand der Erzählung und dem biographischem Hintergrund verschiedene Ansätze zur Deutung der Mutterfigur zu versuchen.
Ich möchte keine ausschließliche biographische Deutung der Texte durchführen, werde mich jedoch häufig auf persönliche Daten beziehen, da diese viele Anhaltspunkte für das Verständnis Kafkas von...
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Wichtige biographische Hintergründe für die Mutter-Konstellation bei Kafka
- Die leibliche Mutter: Julie Kafka, geborene Löwy
- Die innerfamiliäre Kindheit Franz Kafkas
- Merkmale der Beziehung zwischen Mutter Julie und ihrem Sohn Franz
- Die Beziehung aus der Sicht der Mutter
- Eine erste Beschreibung und Deutung der Mutterfigur in der Erzählung Die Verwandlung
- Erster Teil der Erzählung
- Zweiter Teil der Erzählung
- Dritter und letzter Teil der Erzählung
- Die Gestaltung der Mutter in Die Verwandlung unter Berücksichtigung biographischer und psychologischer Problemaspekte
- Der ödipale Konflikt und andere psychologische Argumente für das Mutterbild Kafkas und die Gestaltung der Mutterfigur
- Mögliche Gründe für die Passivität der Mutter Samsa ihrem Sohn Gregor gegenüber
- Die Bedeutung von Ersatzmüttern für Kafka und Gregor Samsa
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit untersucht die Rolle der Mutter in Franz Kafkas Leben und Werk, insbesondere in seiner Erzählung „Die Verwandlung“. Dabei liegt der Fokus auf der Analyse der Mutter-Sohn-Beziehung und der Gestaltung der Mutterfigur in der Literatur. Ziel ist es, die komplexen und ambivalenten Aspekte der Beziehung zwischen Kafka und seiner Mutter Julie zu beleuchten und durch biographische und psychologische Perspektiven zu interpretieren. Die Arbeit befasst sich auch mit möglichen Ursachen für die Passivität der Mutterfigur in „Die Verwandlung“ und der Bedeutung von Ersatzmüttern in Kafkas Leben und Werk.
- Die Mutter-Sohn-Beziehung in Franz Kafkas Leben und Werk
- Die Gestaltung der Mutterfigur in „Die Verwandlung“
- Biographische und psychologische Hintergründe für das Mutterbild Kafkas
- Der ödipale Konflikt und seine Auswirkungen auf die Mutter-Sohn-Beziehung
- Die Rolle von Ersatzmüttern in Kafkas Leben und Werk
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel stellt die wichtigen biographischen Hintergründe für die Mutter-Konstellation bei Kafka vor. Es fokussiert auf die Familie Kafka und insbesondere auf die Beziehung zwischen Franz Kafka und seiner Mutter Julie. Das zweite Kapitel analysiert die Mutterfigur in Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ und stellt fest, wie sie im ersten, zweiten und dritten Teil der Erzählung dargestellt wird. Im dritten Kapitel werden die Gestaltung der Mutter in „Die Verwandlung“ unter Berücksichtigung biographischer und psychologischer Aspekte, wie dem ödipalen Konflikt, analysiert. Der Fokus liegt auf der Passivität der Mutter Samsa gegenüber ihrem Sohn Gregor und auf der Bedeutung von Ersatzmüttern in Kafkas Leben und Werk.
Schlüsselwörter
Franz Kafka, Mutter-Sohn-Beziehung, „Die Verwandlung“, Mutterfigur, biographische Hintergründe, psychologische Aspekte, ödipaler Konflikt, Passivität, Ersatzmütter.
- Arbeit zitieren
- Cornelia Tietzsch (Autor:in), 2006, Zum Mutterbild Kafkas -Die Gestaltung der Mutter in Kafkas Erzählung 'Die Verwandlung' unter Berücksichtigung biographischer Hintergründe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58322