Inklusion im Elementarbereich. Pädagogische, gesellschaftliche, politische und ökonomische Voraussetzungen sowie Möglichkeiten der Umsetzung


Bachelorarbeit, 2019

80 Seiten, Note: 1,2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Abkürzungsverzeichnis

2. Einleitung / Problemstellung

3. Begriffsdefinition Behinderung

4. Begriffsdefinition Heterogenität

5. Heterogenitätsdimensionen in der Frühpädagogik
5.1 Entwicklungsgefährdete Kinder
5.2 Kinder mit besonderem Verhalten
5.3 Sprachauffälligkeiten
5.4 Mehrsprachige Kinder
5.6 Sinnes- und Körperbeeinträchtigungen
5.7 Von Armut bedrohte Familien

6. Geschichtliche Hintergründe – von Exklusion zur Inklusion

7. Begriffsdefinitionen Exklusion, Separation, Integration und Inklusion
7.1 Exklusion
7.2 Separation
7.3 Integration
7.4 Inklusion

8. Unterscheidung zwischen Integration und Inklusion

9. Voraussetzungen und Schwierigkeiten der Inklusion im Elementarbereich
9.1 pädagogische Voraussetzungen und Schwierigkeiten
9.2 gesellschaftliche Voraussetzungen und Schwierigkeiten
9.3 politische Voraussetzungen und Schwierigkeiten
9.4 Ökonomische Voraussetzungen und Schwierigkeiten

10. Die Rheinland-Kita-Studie
10.1 Ergebnisse der qualitativ-empirischen Onlinebefragung
10.2 Ergebnisse der qualitativ-empirischen Vertiefungsstudie
10.3 Ausblick der Studie

11. Ergebnisse und Möglichkeiten der Umsetzung in der Praxis
11.1 Pädagogische Möglichkeiten der Umsetzung in der Praxis
11.2 Gesellschaftliche Möglichkeiten der Umsetzung in der Praxis
11.3 Politische Möglichkeiten der Umsetzung in der Praxis
11.4 Ökonomische Möglichkeiten der Umsetzung in der Praxis

12. Schlussbetrachtung

13. Literatur- und Quellenverzeichnis

1. Abkürzungsverzeichnis

FInK Förderung der Inklusion in Kindertageseinrichtungen; andere Bezeichnung für die Kindpauschale des Landschaftsver-bands Rheinland

KiBiz Kinderbildungsgesetz, Gesetz zur frühen Bildung und Förde- rung des Landes Nordrhein-Westfalen

KmB Kinder mit Behinderung

LVR Landschaftsverband Rheinland

NAP Nationaler Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland

RKS Rheinland-Kita-Studie

SGB Sozialgesetzbuch

UN-BRK Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen

UN-KRK Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen

2. Einleitung / Problemstellung

Die Bedeutung der Kindertagesstätte als erster außerfamiliärer Bildungs- und Betreuungsort hat in jüngster Vergangenheit immer mehr zugenommen. Der Elementarbereich wird als eigener Bildungsbereich verstanden, um den Grundstein für Bildungs- und Chancengleichheit zu legen. Zudem rückt das Thema Inklusion immer stärker in den Fokus der Pädagogik. Ausgrenzung soll vermieden, umfassende Teilhabe ermöglicht werden. Hier ist auch die Betreuung in Kindertagesstätten zumeist der erste Ort, an welchem Kinder die Vielfalt der Gesellschaft erleben und erfahren können.

Der Begriff der Inklusion ist selbst in der Pädagogik oft nicht ausdifferenziert, wird unterschiedlich verstanden und somit Auswirkungen auf die pädagogische Praxis. Die Definition als auch Umsetzung inklusiver Pädagogik stellt alle Beteiligten vor neue Herausforderungen und Schwierigkeiten. Der Unterschied zwischen Integration und Inklusion wird auch auf Grundlage der vielen Heterogenitätsdimensionen betrachtet.

Aufgrund der Bedeutung von Inklusion von Geburt an und des neuen Bildungsverständnisses des Elementarbereichs befasst sich diese Arbeit zuerst mit den Aspekten der Heterogenität sowie des geschichtlichen Hintergrunds welche zum heutigen Verständnis von Inklusion führten. Des Weiteren werden die einzelnen Bereiche, welche zur Umsetzung von Inklusion von Bedeutung sind, in Hinblick auf deren Voraussetzungen und Schwierigkeiten betrachtet. Die Ergebnisse der Rheinland-Kita-Studie fließen zusätzlich mit ein, wenn es um die Frage geht, wie Inklusion gelebt werden kann. Hierzu werden die Bereiche Pädagogik, Gesellschaft, Politik und Ökonomie eingehend auf ihre Voraussetzungen und Schwierigkeiten beleuchtet, um am Ende Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten.

3. Begriffsdefinition Behinderung

Auch wenn Behinderung nur ein Aspekt von Diversität und Vielfalt in der Frühpädagogik ist, so ist es doch der Teilbereich, der den meisten als erstes in den Sinn kommt, wenn von Inklusion die Rede ist. Da sich die Definition von Behinderung im Kontext der Inklusion stark von früheren Annahmen unterscheidet und für das Verständnis von Inklusion von Bedeutung ist, wird dieser Aspekt kurz genauer erläutert.

Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, kurz UN-BRK genannt, definiert Behinderung wie folgt:

„ Zu den Menschen mit Behinderungen z ä hlen Menschen, die langfristige k ö rperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeintr ä chtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigen Teilhabe an der Gesellschaft hindern k ö nnen. “

(Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011: 10).

Die deutsche Gesetzgebung ergänzt diese Definition noch um den Zusatz, dass diese Barrieren „ mit hoher Wahrscheinlichkeit l ä nger als sechs Monate ( … ) “ andauern und der K ö rper und Gesundheitszustand von dem f ü r das Lebensalter typischen Zustand abweicht. “ (§2 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX, vgl. Stascheit 2017).

Somit ist der aktuelle Begriff der Behinderung so zu verstehen, dass es sich hier nicht nur um individuelle Eigenschaften einer Person handelt, sondern Behinderung im Kontext der Gesellschaft und den Möglichkeiten der Teilhabe gesehen werden muss. Der Begriff der Behinderung und was darunter zu verstehen ist befindet sich in Abhängigkeit vom Verständnis für Menschen mit Behinderung (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011: 6).

Der Behinderungsbegriff sowie die Art und Weise wie damit umgegangen wird ist gekoppelt an das Bewusstsein der Gesellschaft für die Thematik als auch der Bemühungen um die gleichberechtige Teilhabe aller Menschen.

Da Inklusion nicht nur Kinder mit Behinderung einschließt, werden die betroffenen Personengruppen im nächsten Abschnitt dargestellt.

4. Begriffsdefinition Heterogenität

Zu Beginn soll kurz der Begriff der Heterogenität beleuchtet werden, da er für das Verständnis von Inklusion und ihrer Dimensionen von Wichtigkeit ist.

Der Duden definiert Heterogenität als „Verschiedenartigkeit, Ungleichartigkeit, Uneinheitlichkeit im Aufbau, in der Zusammensetzung“ (Duden online). In der Inklusionsdebatte wird meist die Personengruppe der Menschen mit Beeinträchtigung in den Fokus gerückt, ohne zu wissen, dass es sich hier um eine bedeutend umfangreichere Gruppe an Menschen handelt, die in den Mittelpunkt der Diskussion rücken müssen. Heinzel und Prengels Definition von Heterogenität ist ausführlicher:

„ Mit dem Begriff der Heterogenit ä t werden Verh ä ltnisse zwischen Verschiedenen, die einander nicht untergeordnet sind, gefasst. Mit einer solchen sozialphilosophisch begr ü ndeten, hierarchiekritischen Zielsetzung tritt im Bildungswesen die inklusive P ä dagogik an, um heterogene Lerngruppen, also Gruppen aus gleichberechtigten und verschiedenen Lernenden zu verwirklichen. “ (Prengel/Heinzel 2012).

Entscheidend ist folglich der Gedanke der Gleichberechtigung trotz jeglicher Verschiedenheiten, d.h. es erfolgt im Bildungswesen keine Differenzierung in Kinder mit Lernschwierigkeiten, Sprachbarrieren oder geringerem sozioökonomischen Status, sondern alle partizipieren in gleicher Weise und miteinander am Bildungsgeschehen.

5. Heterogenitätsdimensionen in der

Frühpädagogik Aspekte, die zu Benachteiligung führen können, sind neben Behinderungen vor allem soziale Benachteiligung, Geschlecht, Migration und Alter. Da das Feld der Frühpädagogik hier im Mittelpunkt steht, werden im Folgenden die Faktoren genannt, welche Kinder zumeist in ihrer Entwicklung gefährden (vgl. Haubner 2011: 28).

5.1 Entwicklungsgefährdete Kinder

Entwicklungsgefährdung bezeichnet Kinder ohne gesicherte Diagnose für deren Auffälligkeit und ist abzugrenzen von der Entwicklungsverzögerung. Entwicklungsgefährdung wird als Wechselwirkung zwischen Kind und Umwelt verstanden, was neben Risiko- auch Schutzfaktoren ermöglicht (vgl. Albers 2012: 40). Entwicklungsgefährdungen können in vielfältiger Weise auftreten, sind teilweise auch nur temporär, wie z.B. belastende Situationen durch Trennung der Eltern. Hier ist ein umfassender Blick auf die Lebenswelt des Kindes gefragt, um entwicklungsgefährdende Strukturen zu erkennen und diese bei Bedarf anzusprechen. Da das Neunte Sozialgesetzbuch in § 1, Absatz 2 klar die besonderen Bedürfnisse von behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern nennt, ist der Auftrag deutlich. Kinder, bei welchen entwicklungsgefährdende Aspekte beobachtet werden, stehen unter dem besonderen Schutz des Gesetzes und haben somit Anrecht auf besondere Leistungen (vgl. SGB IX, §1, Abs. 2, Stascheit 2017).

5.2 Kinder mit besonderem Verhalten

In Mittendrin statt nur dabei von 2012 zitiert Albers treffend Myschker (2008) zur Verhaltensstörung bei Kindern. So wird sie als ein unzureichend angepasstes Verhalten des Kindes an die zeit- und kulturspezifischen Normen und Erwartungen beschrieben. Ohne pädagogisch-therapeutische Hilfe beeinträchtige dieses Verhalten die Entwicklungs-, Lern- und Arbeitsfähigkeit. Solche Auffälligkeiten können sich durch aggressives Verhalten oder Hyperaktivität bemerkbar machen (vgl. Albers 2012: 41 f.). Hier ist gut ausgebildetes und professionelles pädagogisches Personal gefragt, welches zum einen die verschiedenen Ausprägungen und Möglichkeiten von auffälligem Verhalten bei Kindern kennt und zum anderen über die nötige Methodenkompetenz verfügt, mit diesen Kindern fach- und sachgerecht zu arbeiten. Nicht zu vernachlässigen ist hierbei die Wichtigkeit von professioneller Elternarbeit, um hier die Familien in dieser anspruchsvollen Lebenssituation zu unterstützen und zu begleiten.

5.3 Sprachauffälligkeiten

Ein zu geringer Wortschatz, Störungen des Lauterwerbs, der Grammatik oder des Wortschatzes sowie Störungen in der Kommunikation werden unter Sprachauffälligkeiten verortet. Bei Störungen des Sprachverständnisses, des Wortschatzes und der Laut-, Wort- und Satzbildung spricht man von einer Sprachentwicklungsstörung, kurz SES genannt (vgl. Deutscher Bundesverband für Logopädie e.V. 2013). Pfluger-Jakob nennt in ihrem Beitrag von 2003 die Gruppen, in welche der Sprachwissenschaftler Wolfgang Wendlandt die Sprachstörungen unterteilt: Störungen des Sprechens und der Sprache, Störungen des Sprechablaufs, Störungen der Kommunikation und Störungen der Stimme und des Stimmklangs (vgl. Pfluger-Jakob 2003: 55 f.).

5.4 Mehrsprachige Kinder

Für Bildungs- und Betreuungseinrichtungen stellen Kinder mit einer anderen Familiensprache als Deutsch eine besondere Herausforderung dar. Um das natürliche Interesse der Kinder an Sprache und Kommunikation zu erhalten und ihnen ein Sprachniveau zu ermöglichen, in welchem sie in soziale Interaktion treten können, ist die Gestaltung einer sprachanregenden Umgebung und Betreuung nötig (vgl. Albers 2012: 60). Aufgrund der großen kulturellen und sprachlichen Heterogenität ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Mehrsprachigkeit bzw. Deutsch als Zweitsprache im Feld der Frühpädagogik nötig.

5.6 Sinnes- und Körperbeeinträchtigungen

Sinnes- und Körperbeeinträchtigungen treten in sehr unterschiedlichen Formen auf. So können die Einschränkungen des Kindes im optischen, auditiven, taktilen oder motorischen Bereich liegen oder es ist von einer geistigen Beeinträchtigung betroffen. Körperbeeinträchtigungen können in unterschiedlichster Weise auftreten, indem Sinnesorgane wie z.B. Augen oder Ohren nicht richtig arbeiten, spastische Lähmungen der Extremitäten oder das Fehlen dieser. Geistige Behinderung bedeutet, es liegt eine Minderung der Intelligenz vor. Bei Erwachsenen bedeutet dies, dass der gemessene Intelligenzquotient von 50-69 Punkten reicht, hier spricht man von einer leichten Intelligenzminderung. Zwischen 20 und 49 Punkten ist von einer mittelgradigen geistigen Behinderung die Rede. Bei einem IQ unter 20 Punkten handelt es sich um eine schwerste Intelligenzminderung (vgl. ICD-10 Code o.J.). Da soziale und umweltbedingte Faktoren immer mit der Beeinträchtigung in Abhängigkeit stehen, machen sich die Auswirkungen der Intelligenzminderung von Kind zu Kind unterschiedlich bemerkbar.

5.7 Von Armut bedrohte Familien

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit definiert Armut wie folgt:

„ Als absolute Armut ist dabei ein Zustand definiert, in dem sich ein Mensch die Befriedigung seiner Grundbed ü rfnisse nicht leisten kann. Relative Armut beschreibt Armut im Verh ä ltnis zum jeweiligen Umfeld eines Menschen. “ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung o.J.).

Neben den ökonomisch-materiellen Problemen, also der Befriedigung der Grundbedürfnisse, umfasst Armut jedoch ebenso die Dimensionen soziale, kulturelle und emotionale Armut. Bei von Armut bedrohten Familien ist es wichtig, die betroffenen Kinder insofern zu stärken, um mit ihren Lebensbedingungen besser umgehen und Resilienz gegenüber schwierigen Lebenssituationen entwickeln zu können (vgl. Albers 2012: 44ff.).

6. Geschichtliche Hintergründe – von Exklusion zur Inklusion

Da Umwelt- und Kulturgeschichte großen Einfluss auf die Definition des Begriffs Behinderung hat (vgl. Mürner/Sierck 2013: 10), so haben sich auch die Begrifflichkeiten sowie der Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigung im vorherigen Jahrhundert stark verändert. Im folgenden Abschnitt erfolgt ein geschichtlicher Überblick über die Veränderungen im Bereich der Akzeptanz und den Umgang mit Behinderungen und Diversität ab 1900 bis heute.

Verschiedenheit der Ausdrücke um 1900 – Invalide, Krüppel, Gebrechliche

Anders als heute gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch keinen Überbegriff, der alle Menschen mit Behinderung umfasst hätte. Es gab die „Gebrechlichen“ und „Invaliden“, worunter gemeinhin Menschen verstanden wurden, die zur Ausübung eines Berufes oder des Militärdienstes unbrauchbar waren (vgl. Schmuhl 2010 zitiert nach Mürner/Sierck 2013: 12). Abgrenzung erfuhren Betroffene durch weitere negativ behaftete Bezeichnungen wie „Krüppel“ oder „Missgeburt“, wobei sich ersteres zum Großteil auf die Massen an Kriegsversehrten des Ersten Weltkriegs bezieht. Die Abgrenzung und somit Separation, also räumlicher Trennung von Menschen mit und ohne Behinderung wurde durch die Einrichtung der „Krüppelfürsorge“ ausgebaut und manifestiert (vgl. Mürner/Sierck 2013: 12 f.).

Das „Krüppelfürsorgegesetz“

Seit Ende des 19. Jahrhunderts werden auch Kinder mit Behinderung in die Schulpflicht mit einbezogen (vgl. Wocken 2009: 11). In Deutschland gab es seit 1891 ein Gesetz, welches die Belange und Hilfen für geistig Beeinträchtigte, Blinde und Taubstumme regelte. 1906 eröffnete in Berlin die erste „Krüppelheil-und Erziehungsanstalt für Berlin-Brandenburg“, vierzehn Jahre später definierte das preußische „Krüppelfürsorgegesetz“ diese Heime als Anstalt, „in welcher durch gleichzeitiges Ineinandergreifen von Klinik, Schule, Berufsausbildung und Berufsberatung der Krüppel zur wirtschaftlichen Selbstständigkeit gebracht werden soll“ (vgl. Mürner/Sierck 2013: 20 f.). Hier werden explizit auch Kinder und Jugendliche angesprochen, deren Schulbildung sowie weitere Ausbildung durch dieses abgegrenzt von Kindern ohne Beeinträchtigung stattfinden soll. Ab 1920 wurden Land- und Stadtkreise mit dem sog. „Krüppelfürsorgegesetz“ dazu verpflichtet, Maßnahmen für körperlich beeinträchtigte Menschen zu ergreifen und ihnen Fürsorge zukommen zu lassen. (vgl.ebd. 39).

Auslöschung zur Zeit des Nationalsozialismus

Während der Zeit der NS-Herrschaft wurde nur zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben unterschieden, das Recht auf Leben wurde den Personengruppen der Beeinträchtigten abgesprochen. Ab 1939 wurden unheilbar Kranke sowie Menschen mit Beeinträchtigung systematisch durch Gas oder mithilfe von Medikamenten umgebracht (vgl. ebd. 54 f.). Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) trat bereits sechs Jahre vorher in Kraft und ermöglichte es, dass Menschen, bei denen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kranker Nachwuchs zu erwarten sei, zwangssterilisiert wurden (vgl. ebd. 49). Die Jahre unter der Herrschaft der NSDAP und der Nationalsozialisten warfen alle Bemühungen um Menschen mit Beeinträchtigung zurück.

Nachkriegszeit und Sonderschulen

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und im Zuge des „Wirtschaftswunders“ gründeten sich bereits Ende der 1950er Jahre neben der staatlichen Fürsorge Elternvereinigungen (vgl. ebd. 61). Diese waren mit der Situation der Betreuung und Bildung unzufrieden und wünschten sich einen anderen Umgang mit ihren9 Kindern. Von 1960 bis in die 1980er Jahre hinein fand Bildung von Menschen mit Behinderung zum Großteil in eigens dafür eingerichteten Institutionen statt, differenziert nach Art der Beeinträchtigung (vgl. Haubner 2011: 14). So gab es eigens Schulen für Blinde, Gehörlose oder Kinder mit geistiger Beeinträchtigung. Die Sonderschulen waren als Institutionen für die Beschulung und Bildung solcher Kinder unabdingbar.

Ein erster Paradigmenwechsel in Richtung Integration geschah bereits 1959 in Dänemark mit dem „Gesetz über die Fürsorge für geistig Behinderte und andere besonders Schwachbegabte“. Hier wurde zum ersten Mal öffentlichkeitswirksam der Begriff des „Normalisierungsprinzips“ verwendet. Mürner und Sierck zitieren Walter Thimm (1936-2006) bezüglich der Normalisierung als einen Prozess, der die Lebensbedingungen von Menschen mit Beeinträchtigung so gestaltet, dass diese sich so selbstständig wie möglich mit ihren Lebensumständen auseinandersetzen können. Das Ziel sei „physische, soziale und personale Integration“ (Mürner/Sierck 2013: 70 f.). Nach 1945 waren die Bildungskarrieren von Kindern mit Beeinträchtigung noch vorgezeichnet und das ohne deren Beteiligung oder Mitbestimmung. Vom Sonderkindergarten in die Sonderschule, in Heimen und Sonderanstalten wohnend und in einer Werkstätte für Behinderte arbeitend (vgl. Mürner/Sierck 2015: 32). Der Gegenentwurf zu dieser Fremdbestimmung bildete eben das Normalisierungsprinzip. Dies bedeutet, dass Menschen mit Beeinträchtigung es ermöglicht werden muss, ein so normales Leben wie möglich zu führen (vgl. Mürner/Sierck 2013: 69). In Deutschland erfolgte dieser Prozess hin zur Integration erst später mit den Integrationsbemühungen.

Der Weg Richtung Integration

Neben der Gründung von Elterninitiativen welche als Ziel die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Beeinträchtigung hatten (vgl. Albers 2012: 9) wurden die Empfehlungen „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ durch die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates verabschiedet (vgl. Mürner/Sierck 2013: 80). Pädagogische Ansätze, welche nichtdifferenzierende Ansichten bezüglich der Bildung und Erziehung der Kinder haben, erfreuten sich ebenfalls ab den 70er Jahren zunehmender Beliebtheit.

So enthält die Reggio-Pädagogik in ihren Grundannahmen viele Aspekte, welche sich mit dem Gedanken der Integration gut ergänzen, wie z.B. Projektarbeit, der Raum als dritter Erzieher oder die Erzieher/innen als Bildungsbegleiter (vgl. Knauf 2005: o.A.)

Ab Mitte der 1980er Jahre nahmen die Bestrebungen zur Integration und Selbstbestimmung in Deutschland Fahrt auf, v.a. durch die Eigeninitiative vieler Betroffener und deren Zusammenarbeit in Zentren in welchen Fragen bezüglich Sicherstellung der Pflegeassistenz außerhalb des Betreuungsheimes genauso wie bezüglich Möglichkeiten der Freizeitgestaltung oder Mobilität geklärt (vgl. Mürner/Sierck 2013: 103). Gemeinsam forderten sie mehr Mitbestimmungsrechte und Partizipation.

Das am 01.01.1992 in Kraft getretene Betreuungsgesetz ersetzte das veraltete Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht. Es wurde klar formuliert, dass Betreuer immer an die Wünsche des Betreuten gebunden sind. Auch wurde der Assistenzbegriff intensiv diskutiert und der, bis dahin üblichen Betreuung gegenübergestellt. Um die vorherrschenden einseitigen Machtverhältnisse in Betreuungslagen aufzulösen, bietet das Modell der persönlichen Assistenz eine Antwort (vgl. ebd. 112 ff.). Bei diesem Modell können Betroffene selbst über ein Budget verfügen, mit welchem sie Pflege- oder Assistenzleistungen in Anspruch nehmen können.

Im folgenden Jahr hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf einer Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte eine Rede mit dem Titel „Es ist normal, verschieden zu sein“. Hierin benannte er konkret die Probleme, mit welchen sich Menschen mit Beeinträchtigung konfrontiert sehen und formulierte notwendige gesellschaftliche Veränderungen, u.a. dass Menschen ohne Beeinträchtigung ihre Wahrnehmung korrigieren und lernen müssen, Behinderung nicht als negativ behaftete Verschiedenheit aufzufassen (vgl. Richard von Weizsäcker, 1993). Auffallend ist hier, wie aktuelle die von ihm abgesprochenen Themen und Probleme auch heute noch sind.

„Salamanca-Erklärung“ und ein Paradigmenwechsel

Der nächste große Schritt hin zur Inklusion geschah 1994, als am 10. Juni die „Salamanca-Erklärung und der Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse“ verabschiedet wurde. Auf der vom 7. bis zum 10. Juni 1994 abgehaltenen Weltkonferenz mit insgesamt 300 Vertreterinnen und Vertretern von 92 Regierungen und 25 internationale Organisationen, wurde das Recht eines jeden Kindes auf Bildung bekräftigt und zum gemeinsamen Ziel erklärt. Vereinbart wurden hier u.a. gemeinsame Leitlinien für nationale und internationale Maßnahmen. Diese Leitlinien beziehen sich auf Organisation und Politik, Faktoren der Beschulung, die Rekrutierung und Ausbildung pädagogischen Personals, externe unterstützende Systeme, Perspektiven in der Gemeinde sowie notwendige finanzielle Mittel (vgl. UNESCO 1994: 1 ff.). Der Begriff der „Inklusion“ taucht in dieser Erklärung erstmals auf, ersetzt jedoch den Begriff der Integration nicht (vgl. Mürner/Sierck 2013: 118).

Im selben Jahr verdeutlichte ein Zusatz in Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes die veränderte Haltung gegenüber Beeinträchtigung und deren Auswirkungen (vgl. ebd. 121). So heißt es seitdem: „ Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden “ (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, entnommen aus Stascheit 2017).

Ende der 1990er Jahre schritt der Paradigmenwechsel für Menschen mit Beeinträchtigung auch in Deutschland weiter voran. Die Leitgedanken der Selbstbestimmung und Teilhabe ersetzten den bis dahin geltenden Ansatz der Fürsorge, deutlich geworden im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) (vgl. Knospe/Papadopoulos 2015: 77). In letzterem heißt es in § 1, Abs. 1, Satz 1 „ Ziel des Gesetzes ist es, die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung zu beseitigen und zu verhindern sowie eine selbstbestimmte Lebensf ü hrung zu erm ö glichen. “ (entnommen aus Stascheit 2017). Hierdurch wurde aus Selbstbestimmung und Teilhabe ein Gesetzesanspruch.

Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen - UN-BRK

International hat die UN-Konvention zu den Rechten behinderter Menschen, erschienen im Jahr 2006, die gesellschaftliche Entwicklung maßgeblich beeinflusst Haubner 2011: 20). Deutschland unterzeichnete im März 2007 als einer der ersten Staaten dieses Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung, Originaltitel „Convention of the United Nations on the rights of persons with disabilities“. Am 03.05.2008 trat das Übereinkommen in Kraft und war ab dem Zeitpunkt völkerrechtlich wirksam. Dieses enthält insgesamt 50 Artikel, beginnend mit Begriffsbestimmungen (Art. 2), Allgemeinen Grundsätzen und Verpflichtungen (Art. 3 und 4), den Rechten der Menschen mit Beeinträchtigung (z.B. Art. 10, 11 und 13) und die Artikel, welche sich präzise an Themen Empowerment (Selbstbefähigung), Teilhabe und Partizipation (Art. 19, 20, 24, 27, 29 und weitere) richten (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011).

Das Bundesteilhabegesetz

Knapp zehn Jahre später erfolgte auf bundespolitischer Ebene der nächste, dringend erforderliche Schritt mit der Verabschiedung eines neuen Gesetzes zur besseren Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigung. Das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen, auch Bundesteilhabegesetz genannt wurde in Zusammenarbeit mit Betroffenen und Verbänden entwickelt und zwischenzeitlich adaptiert. Das Gesetz trat am 01.01.2017 in Kraft, weitere Reformstufen sollen bis 2023 folgen. Verbesserungen der Lebenssituation von Menschen mit Beeinträchtigung sind u.a.: Änderungen im Schwerbehindertenrecht, Verbesserung der Einkommens- und Vermögenssituation, Erhöhung des Schonvermögens, Verbesserungen im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben sowie Veränderungen im SBG IX. Ab 2020 sollen weitere Anpassungen im Neunten Sozialgesetzbuch sowie weitere Verbesserungen bei der Einkommenssituation erfolgen. Eine entscheidende Änderung: die Eingliederungshilfe soll aus der Sozialhilfe herausgelöst werden, was mehr individuelle Selbstbestimmung und Teilhabechancen möglich macht (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2016: Art. 1, 2, 19, 20, 21, 25a).

7. Begriffsdefinitionen Exklusion, Separation, Integration und Inklusion

7.1 Exklusion

Als Exklusion ist nach Prof. Dr. Wocken ein Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben zu verstehen, ohne dass Teilhabe und Partizipation eine Rolle spielen. Kinder mit Beeinträchtigung wurden früher als „nicht bildungsfähig“ angesehen (vgl. Wocken 2009: 11). Exklusion spricht den Betroffenen jedwedes Recht auf Beteiligung an der Gesellschaft und Bildung ab (vgl. Haubner 2011: 14). Eine Möglichkeit, sich wieder in die Gesellschaft zurückzuführen, besteht nur, wenn das Defizit oder der Mangel gänzlich beseitigt wurde.

7.2 Separation

Separation definiert sich durch die räumliche Trennung von Menschen mit und ohne Behinderung, also durch die Trennung unterschiedlicher Gruppen (vgl. Haubner 2011: 14). Kinder erhalten Zugang zu schulischer Bildung über das Sonderschulwesen und werden in speziellen Schulen unterrichtet, den sog. „Sonderschulen“ (vgl. Wocken 2009: 11). Man ging davon aus, dass eine gemeinsame Betreuung oder Beschulung nicht möglich sei. Erwachsene Menschen mit Beeinträchtigung leben in eigens dafür eingerichteten Heimen und Anstalten und arbeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderung an dafür vorgesehenen Sonderarbeitsplätzen (vgl. Mürner/Sierck 2015: 32). Menschen mit besonderen Bedarfen oder Beeinträchtigungen spielen keine Rolle im öffentlichen Bild und Bewusstsein der Gesellschaft.

7.3 Integration

Der Begriff der Integration [lat. integratio – dt. Wiederherstellung, Erneuerung] wird im alltäglichen Sprachgebrauch meist im Zusammenhang mit Migration verwendet, hat jedoch eine umfassendere Bedeutungsdimension. Integration nimmt die Verschiedenheit und die Unterschiede als Maßstab. Sie richtet ihren Schwerpunkt auf die besonderen Bedürfnisse der Betroffenen, sie werden sozusagen über ihre Behinderung definiert. Die Sicht auf diesen Personenkreis ist meist defizitorientiert. Aus den besonderen Bedarfen und Ansprüchen werden Maßnahmen abgeleitet, die nachträglich hinzugefügt oder verbessert werden.

Wenn beispielsweise für ein gehörloses Kind Gebärdentafeln angeschafft werden oder für ein körperbeeinträchtigtes Kind im Rollstuhl Rampen im Kindergarten montiert werden. Solche besonderen Interventionen werden meist zeitlich, örtlich und personell begrenzt gesetzt. Integration geschieht dort, wo gerade ein konkreter Fall vorliegt (vgl. Kopp-Sixt 2012: 6). Integration hat einen guten Ansatz, nämlich dass man Menschen aufgrund von Andersartigkeit nicht permanent aus der Gesellschaft ausschließen kann und darf. Man möchte ihnen Mittel zur Verfügung stellen, mit denen das unterscheidende Merkmal verringert wird oder Fähigkeiten erworben werden, damit diese Personengruppen sich in die Gesellschaft integrieren können.

7.4 Inklusion

Im Duden wird Inklusion im Bereich der Soziologie als „ gleichberechtigte Teilhabe an etwas “ und in Bezug auf Pädagogik als „ gemeinsame Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder in Kinderg ä rten und [Regel]schulen “ (Duden online) definiert. Jedoch bedeutet Inklusion mehr als Teilhabe und gemeinsame Erziehung, es beschreibt ein verändertes Bild auf die Menschen und die Gesellschaft per se. Inklusive Pädagogik geht von den Besonderheiten und individuellen Bedürfnissen eines jeden Kindes aus, sie hat den Anspruch, die Antwort auf die Heterogenität aller Kinder zu sein (vgl. Verband katholischer Kindertageseinrichtungen Bayern e.V. 2016: 8).

Nach Prof. Dr. Timm Albers kann „Inklusion (…) als Prozess des Strebens nach größtmöglicher Partizipation und des aktiven Verhinderns von Exklusion verstanden werden“ (Albers 2016: 2). Auch die deutsche UNESCO-Kommission beschreibt Inklusion als einen Prozess, der die Kompetenzen des Bildungssystems dahingehend stärken möchte, dass alle Lernenden erreicht werden. Dies umfasst Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Ebenfalls wird hier die Reduzierung von Exklusion und die verstärkte Partizipation genannt und Inklusion als übergreifendes Prinzip beschrieben, welches Bildungspolitik und -praxis leiten soll (vgl. Römer 2014: 9).

Normierungen führen zu Exklusion, weshalb Inklusion sich dadurch auszeichnet, dass Vielfalt der normale Zustand ist. Kinder und auch Erwachsene müssen in ihrer Unterschiedlichkeit, in ihrer ganzen Persönlichkeit wahrgenommen werden und nicht anhand einzelner Merkmale, welche gefühlt nicht der „Norm“ entsprechen. Der Mensch muss ganzheitlich in seiner aktuellen Lebenslange gesehen werden (vgl. Wagner in Handbuch Inklusion – Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung 2017: 14). Heterogenität ist somit der einzig natürliche Zustand.

Die Umsetzung in der Praxis erweist sich aufgrund von notwendigen Zuschreibungen um z.B. spezielle Hilfen oder intensivere Betreuung zu erhalten, als äußerst schwierig, da hier immer wieder mit Etikettierungen gearbeitet wird, um einen besonderen Bedarf festzustellen.

Durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention ist das Leitbild der Inklusion in Kindertagesstätten keine Frage der Sinnhaftigkeit mehr, sondern verbindliches Völkerrecht. Dadurch ergibt sich für die pädagogische Praxis die Frage nach der konkreten Umsetzung und wie sichergestellt werden kann, dass inklusive Bildung und Betreuung flächendeckend und für alle Kinder sichergestellt werden kann (vgl. Heimlich in Inklusion – Kinder mit Behinderung 2013: 25).

8. Unterscheidung zwischen

Integration und Inklusion Der Begriff der Inklusion wird in der pädagogischen Diskussion und Praxis fälschlicherweise oft mit dem Begriff der „Integration“ gleichgesetzt. Jedoch handelt es sich bei genauerer Betrachtung um zwei grundverschiedene pädagogische Konzepte und Menschenbilder. Diese Unterscheidung der Begrifflichkeiten ist für die Praxis, als auch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik äußerst bedeutsam.

Die Schwierigkeiten der Integration zeigen sich dadurch, dass Kindern in ihrer Bildungslaufbahn Begriffe wie „sonderpädagogischer Förderbedarf“ oder bestimmte Diagnosen, also Behinderungsbegriffe, zugeschrieben werden. Daraus ergibt sich dann die Zuweisung von Ressourcen. Inklusion fordert die Abkehr von Ressourcen für Einzelne, sondern Ressourcen für heterogene Systeme und den Abbau von Barrieren, so dass ausnahmslos alle in vollem Umfang partizipieren können (vgl. Booth/Ainscow 2017: 56 und Wocken 2009: 16 f.). In der Praxis zeigt sich diese Defizitorientierung dadurch, dass für Kinder mit erhöhtem Betreuungsbedarf erst ein gewisses Antragsverfahren durchlaufen müssen, um eine optimale Entwicklungsbegleitung in der Kindertagesstätte als auch die dafür notwendige Finanzierung zu erhalten. Es muss eine Einrichtung gefunden werden, die solche Kinder aufnimmt, es folgen diverse Gespräche, ein ärztliches Gutachten sowie ein Antrag auf Eingliederungshilfe beim Bezirk ist nötig (vgl. Verband katholischer Kindertageseinrichtungen Bayern e.V. 2016: 44 ff.). Dies alles stellt für betroffene Familien eine gewisse Hürde dar; besonders schwierig wird es bei Familien mit Migrationshintergrund und eventueller Sprachbarriere.

Bei der Inklusion geht es nicht darum, die Andersartigkeit zu akzeptieren. Es handelt sich um eine Grundhaltung und Überzeugung, dass man Menschen nicht zuerst kategorisieren muss, um sie dann in die Gesellschaft aufzunehmen. Alle müssen von Beginn an die gleichen Chancen und Voraussetzungen haben. Inklusion setzt somit einen Perspektivwechsel voraus, eine Abkehr von der defizitorientierten Förderung des beeinträchtigten Individuums hin zu einer Veränderung des Systems, einem Abbau von Barrieren und hin zu niederschwelligen Angeboten und spezifischen, individuell gewünschten Hilfeleistungen (vgl. Friederich in Inklusion – Kinder mit Behinderung 2013: 20).

Unterschiede sind die Normalität und werden nicht als Makel aufgefasst. Bei der Inklusion geht es nicht darum, dass alle als „gleich“ angesehen werden (vgl. Kobelt Neuhaus in Handbuch Inklusion – Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung 2017: 119), Vielfalt darf und muss gesehen werden. Jedoch wird diese Vielfalt nicht negativ oder als außerhalb der Norm bewertet.

Inklusion umfasst immer auch die Dimensionen der Teilhabe, der Vielfalt und des Diskriminierungsverbots (vgl. Rudolf 2017: 37). Diese gleichberechtigte Teilhabe am politischen, gesellschaftlichen und sozialen Leben begründet sich aus den Menschenrechten (vgl. ebd. 13). Somit ist Inklusion Grundrecht eines jeden Menschen. Im Gegensatz dazu beschreibt Wocken Integration als Antragsrecht, dem entsprochen werden kann oder auch nicht (vgl. Wocken 2009: 14).

Wenn Inklusion bedeutet, Exklusion zu reduzieren, so darf Inklusion nie nur auf Menschen mit Beeinträchtigung bezogen werden, denn Barrieren ergeben sich ebenso für Menschen aufgrund ihres Alters, Geschlechts, sozioökonomischen Status oder Herkunft (vgl. Booth/Ainscow 2017: 32). Inklusion muss immer die Heterogenität aller Menschen im Blick haben und sich nicht auf Personen beschränken, die von der allgemein gültigen Norm abweichen. Hinz bringt dies auf den Punkt, indem er Heterogenität als Normalität beschreibt und darstellt, dass dies insofern Auswirkungen auf die Pädagogik hat, als dass sobald nicht mehr festzustellen sei, wo das „deutsche Kind“ endet und das Kind mit Migrationshintergrund anfängt oder ab wann sonderpädagogischer Förderbedarf beginnt (vgl. Hinz 2002: 7 f.).

9. Voraussetzungen und Schwierigkeiten der Inklusion im Elementarbereich

9.1 pädagogische Voraussetzungen und Schwierigkeiten

Im Rahmen der Inklusionsdebatte stehen die pädagogischen Fachkräfte im Mittelpunkt. Sie fungieren als Verbindung zwischen der Theorie und der pädagogischen Praxis. Die Möglichkeiten inklusiv zu arbeiten sind ebenso vielfältig wie die einzelnen Kinder, welche in den Einrichtungen begleitet und betreut werden. Kindertageseinrichtungen müssen für sich klären, wie sie den Weg der Inklusion gehen möchten. Voraussetzungen und Schwierigkeiten der inklusiven pädagogischen Praxis werden im Folgenden aufgezeigt und erläutert.

Bedeutung des Elementarbereichs als erster außerfamiliärer Bildungsort

Inklusive Bildung schließt den Elementarbereich mit ein und betont die Wichtigkeit von inklusiver frühkindlicher Bildung und Förderung vor dem Schuleintritt (vgl. Heimlich in Inklusion – Kinder mit Behinderung 2013: 29). Kindertagesstätten als erster außerfamiliärer Bildungsort erfüllen einen doppelten Teilhabeauftrag indem sie zum einen die Teilhabe der Eltern ermöglichen, da diese einer Erwerbstätigkeit nachgehen können, zum anderen ermöglichen sie die Teilhabe an Bildung und Partizipation der Kinder (vgl. Friederich/König in Inklusive sprachliche Bildung 2016: 11 ).

Verändertes Verständnis von Behinderung

Die UN-Behindertenrechtskonvention beschreibt Behinderung nicht mehr als subjektives Defizit, sondern als einen Prozess zwischen Mensch und Umwelt. So werden Menschen durch Teilhabebarrieren von außen behindert, anstatt dass sie selbst behindert sind. Dieses veränderte Verständnis von Behinderung und dessen Umgang muss nun von pädagogischen Fachkräften gelebt und gefordert werden, um inklusive Praxis zu ermöglichen.

Pädagogische Maßnahmen müssen immer im Kontext zwischen Kind und Umwelt gesehen werden, dass ein Miteinbeziehen des Umfeldes und der Lebenswelten des Kindes geschehen muss, um sich von der Diagnose und defizitorientierten Förderung des behinderten Kindes zu entfernen. Neben diesem ökologischen Verständnis von Bildung und Inklusion beschreibt Heimlich auch das interaktionistische Verständnis von Behinderung. Etikettierungen der Kinder haben negative Auswirkungen auf deren weiteres Leben und ihre Bildungslaufbahn. Das Betreuen in Sondereinrichtungen führt zu sozialer Ausgrenzung und verfehlt somit ihr Ziel. Um Behinderung als soziale Folge zu verhindern, ist ein Ausbau von inklusiven Angeboten in Regelkindertagesstätten nötig. Auch die medizinische Sichtweise von Behinderung hat sich durch das Behinderungsverständnis der UN-BRK geändert und muss in die pädagogische Praxis Einzug erhalten. So wurde Behinderung früher mit Krankheit gleichgesetzt, heute werden die Aspekte von Beeinträchtigung differenzierter betrachtet. Dies bedeutet nicht, dass Kinder nicht die für ihre besonderen Bedarfe notwendigen medizinischen Leistungen erhalten sollen. Jedoch sollen die Kinder nicht mehr unter dem Aspekt ihrer Krankheit betrachtet werden, sondern in ihrer jeweiligen Lebenssituation und wie diesen Kindern geholfen werden kann, selbstständig, aktiv und nach ihren Wünschen an der Gesellschaft teilzuhaben (vgl. Heimlich in Inklusion – Kinder mit Behinderung 2013: 26 f.).

Inklusive pädagogische Haltung als notwendige Voraussetzung in der Frühpädagogik

Die eigenen Werte von Frühpädagoginnen und -pädagogen sowie ihre Haltung zur Inklusion gelten als wichtigste Ressource für inklusive Bildung (vgl. Heimlic1h9 in Inklusion – Kinder mit Behinderung 2013: 31). Im Sinne der UN-BRK müssen pädagogische Fachkräfte einen Perspektivwechsel vornehmen, um inklusive Pädagogik möglich zu machen. Pädagoginnen und Pädagogen müssen in der Lage sein, die eigene Wahrnehmung in Bezug auf behindernde Situationen reflektieren zu können sowie Barrieren für die Teilhabe von Kindern zu identifizieren, um diese dann abzubauen. Somit wird deutlich, dass für gelingende Inklusion ab dem Elementarbereich ein verändertes Bewusstsein von Seiten der pädagogischen Fachkräfte in Bezug auf Behinderung und inklusive Arbeit notwendig ist.

Nicht nur ein verändertes Verständnis von Behinderung bzw. behindernden Strukturen muss sich in der Frühpädagogik etablieren. Pädagogische Fachkräfte müssen auch ein Verständnis für die anderen Heterogenitätsdimensionen haben. So spielt auch geschlechtsbewusste Pädagogik im Rahmen der Inklusionsdebatte in den Kindertagesstätten eine Rolle. Das frühere pädagogische Ziel der „Gleichbehandlung“ wird abgelöst von der Überzeugung, dass Jungen und Mädchen als Gruppe Unterschiede aufweisen als auch innerhalb der Geschlechter eine große Vielfalt besteht. Individuelle Selbstbildungsprozesse der Kinder müssen im Fokus der pädagogischen Arbeit stehen und im Kontext geschlechtsbewusster Pädagogik ermöglicht werden (vgl. Rohrmann in Handbuch Inklusion – Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung 2017: 93-97). Die Kinder brauchen offene und neugierige pädagogische Fachkräfte, welche statt unreflektierter Gleichbehandlung aller Kinder die geschlechtsbezogenen Fragen und Themen der Kinder ernst nehmen (vgl. ebd. 104). Die Vielfalt der einzelnen Kinder als auch ihrer Bedarfe stellen hohe Herausforderungen an die elementarpädagogische Praxis.

Inklusion im Elementarbereich und notwendige pädagogische Kompetenzen

Heimlich beschreibt Kompetenz als „(…) Sachverstand bzw. die Fähigkeiten eines Menschen(…)“ (Heimlich in Inklusion – Kinder mit Behinderung 2013: 49). In der Pädagogik bezieht sich der Kompetenzbegriff sowohl auf die sachlichen Fähigkeiten als auch auf die Berufsethik und die Reflexion der eigenen Haltung gegenüber Kindern mit Beeinträchtigung (vgl. ebd. 49).

Heimlich beschreibt inklusive Frühpädagogik in Bezug auf die beteiligten Fachkräfte als Handlungskompetenz. Diese setzt sich aus personalen, sozialen und Fachkompetenzen zusammen. Pädagogische Fachkräfte müssen zur intensiven Selbstreflexion fähig sein, eine hohe Kommunikationsfähigkeit besitzen als auch Kenntnisse im Bereich Entwicklungspsychologie, Soziologie sowie der Planung, Gestaltung, Durchführung und Evaluation inklusiver Spiel-und Lernsettings aufweisen (vgl. ebd. 52). Bei Wagner wird die Handlungskompetenz um den Begriff der Werteorientiertheit ergänzt. Diese Kompetenz umfasst die Bereiche der Analyse-, Reflexions-, Methoden-, Fach-und Kooperationskompetenz (vgl. Wagner in Handbuch Inklusion – Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, 2017: 25).

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Ende der Leseprobe aus 80 Seiten

Details

Titel
Inklusion im Elementarbereich. Pädagogische, gesellschaftliche, politische und ökonomische Voraussetzungen sowie Möglichkeiten der Umsetzung
Hochschule
DIPLOMA Fachhochschule Nordhessen; Zentrale
Note
1,2
Autor
Jahr
2019
Seiten
80
Katalognummer
V583403
ISBN (eBook)
9783346205698
ISBN (Buch)
9783346205704
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bachelorthesis, Inklusion, Integration, Pädagogik, Heterogenität, Diversität
Arbeit zitieren
Melanie Wimmer (Autor:in), 2019, Inklusion im Elementarbereich. Pädagogische, gesellschaftliche, politische und ökonomische Voraussetzungen sowie Möglichkeiten der Umsetzung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/583403

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