Die Ästhetisierung des Bösen in Roberto Bolaños Werk "Estrella distante"


Bachelorarbeit, 2015

33 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Die Ästhetik des Bösen und das Abjekte - Eine theoretische Basis
2.1 Peter-André Alts Studie zur Ästhetik des Bösen
2.2 Julia Kristeva und der Begriff des Abjekten
2.3 Conclusio

3. Analyse der Darstellung von Gewalt und Horror in Estrella distante
3.1 Die Rezeption des Horrors der Pinochet-Diktatur und des Nationalsozialismus
3.2 Carlos Wieder/Alberto Ruiz-Tagle: Die Inkarnation des mal absoluto
3.2.1 Die Darstellung der Persönlichkeit Wieders/Ruiz-Tagles
3.2.2 Die Kunstdarbietungen des Protagonisten: el arte nuevo
3.2.3 Exkurs: Wieder in Bezug auf den Titel Estrella distante

4. Schlussbetrachtung

5. Literaturverzeichnis

1. Vorwort

“¿Entonces qué es una escritura de calidad? Pues lo que siempre ha sido: saber meter la cabeza en lo oscuro, saber saltar al vacío, saber que la literatura básicamente es un oficio peligroso. Correr por el borde del precipicio: a un lado el abismo sin fondo y al otro lado las caras que uno quiere, las sonrientes caras que uno quiere, y los libros, y los amigos, y la comida.”1

Mit dieser Aussage deklariert Roberto Bolaño das Sichtbarmachen des bodenlosen Abgrunds zur Quintessenz von qualitativ hochwertigem Schreiben. Der Postulierung zufolge erscheint es somit evident, dass der aus Chile stammende Autor in seinen literarischen Meisterwerken stets die Versinnbildlichung des dunklen und niederträchtigen Territoriums des Abgrunds intendiert. Dieses Vorhaben erfüllt der Schriftsteller prinzipiell mit Bravour, da die bolaño‘sche Literatur all das, was das menschliche Sein allgemein von sich weist, dem Rezipienten auf unterschiedlichster Weise gefährlich nahe bringt. So rekonstruiert Bolaño nicht nur in seinem postum erschienenen Roman 2666 verschiedene Episoden der Geschichte als Genealogie des Bösen, sondern rezipiert ebenso in Nocturno de Chile (2000) als auch in La literatura nazi en América (1996) den historischen Horror durch die Thematisierung der Pinochet-Diktatur. Eine Fortführung der Naziliteratur repräsentiert die 1996 veröffentlichte Novelle Estrella distante, in welcher Bolaño zwar Aspekte des Nationalsozialismus und des totalitären Regime Pinochets adaptiert, diese jedoch durch eine weitaus abschreckendere Komponente erweitert werden, um sich der Darstellung des abismo sin fondo anzunähern. Indem der Autor die aus dem Nazismus geborene, faszinierende Figur des mordenden Poeten Carlos Wieder kreierte, konnte er sein Vorhaben, Estrella distante als eine „aproximación, muy modesta, al mal absoluto“2 zu modellieren, verwirklichen. Durch den Protagonist der Novelle erzeugt er eine Fusion zwischen exzessiver Gewalt und purer Kunst, denn insbesondere die originelle Modellierung der Hauptfigur, welche Wieder als Repräsentant und zugleich als ausführende Kraft der künstlerischen Inszenierung von Gewalt darstellt, erlaubt es dem Werk, das Böse zu ästhetisieren. Eben diese Ästhetisierung des Bösen, durch welche der Rezipient enorme emotionale Belastung sowie gleichermaßen Faszination erfährt, wird in der folgenden Arbeit im Zentrum der Untersuchung stehen. Da der wissenschaftliche Diskurs nicht die Analyse des Bösen an sich und die damit verbundenen philosophischen Theorien Baudillards, Sicheres oder de Sades intendiert, sondern die Untersuchung der Art und Weise der Ästhetisierung des Bösen fokussiert, wird in der Arbeit wie folgt vorgegangen: Um die Untersuchung in einen theoretischen Rahmen zu betten, werden zunächst die Studie von Peter-André Alt über die Ästhetik des Bösen sowie Julia Kristevas Theorie hinsichtlich des Abjekten erläutert. Aufgrund der äußerst detaillierten und literarisch gut fundierten Thematisierung der Ästhetik des Bösen wurde Alts Werk bei der folgenden Arbeit rezipiert. Insbesondere die von dem Germanist erläuterte Entwicklung der literarischen Darstellung des Bösen ist ausschlaggebend für die folgende Analyse, da Alt hierbei die durch die aufklärerische Kritik im 18. Jahrhundert evozierte Verflüchtigung des repräsentativ Bösen in die Psyche der Figuren betont und somit ebenfalls die dadurch errungene Komplexität und Vielfalt des Bösen auf literarischem Terrain konstatiert. Kristevas weitläufige und in sich komplexe Theorie über das Abjekte wurde ebenfalls für die Schaffung eines theoretischen Fundaments adaptiert, wobei vor allem die von der Wissenschaftlerin ausgearbeiteten Charakteristika des Abjekten bei der folgenden Untersuchung großen Anklang finden. Nach der ausführlichen Thematisierung der Studien Alts und Kristevas erfolgt eine kurze Conclusio, um die für die folgende Analyse ausschlaggebenden Aspekte der teils nur schwer fassbaren Theorien zu verdeutlichen und miteinander zu verbinden. Der Hauptteil der Arbeit, welcher die Analyse der Darstellung von Gewalt und Horror in Estrella distante repräsentiert, wird eingeleitet, indem zunächst die Analogien zum Nationalsozialismus und zur Pinochet­Diktatur untersucht werden. Hierbei werden vor allem die wissenschaftlichen Ausarbeitungen von Laura Fandiño, Alba Solá García, Carlos Burgos und Daniuska González konsultiert, da diese nicht nur Bolaños Werke mit dem Aspekt der memoria in Verbindung setzten, sondern ebenfalls der aktuellen Forschungsliteratur angehören. Der Auseinandersetzung mit der Rezeption des Nationalsozialismus und der Pinochet Diktatur folgt die genauere Betrachtung des Protagonisten, welche das Zentrum der Analyse darstellt und nochmals in drei inhaltliche Unterkategorien aufgeteilt wird. Trotz der inhaltlich verflochtenen Aspekte der jeweiligen Unterpunkte, wird die Aufteilung der Analyse Wieders in drei Sparten bewusst vollzogen, da durch diese die zentralen Faktoren für die Evozierung des Horrors detailliert und logisch aufgebaut dargestellt werden können. Bei der Analyse des Protagonisten als Inkarnation des absolut Bösen wird zunächst die Darstellung seiner Persönlichkeit untersucht. Essentielle Bestandteile der außergewöhnlichen Darstellung Wieders, wie beispielsweise dessen Doppel- bzw. Vieldeutigkeit oder die Wiederholung des Ähnlichen, werden unter anderem durch Forschermeinungen von Mandolessi, Montes, Casini und Solá García belegt und mit eigenen Überlegungen erweitert, wobei insbesondere das Werk von Mandolessi eine ausführliche wissenschaftliche Arbeit über die Thematik der Ästhetik in Bezug auf den Protagonisten darstellt und somit essentiell für die Analyse des Hauptakteurs ist.

Da Carlos Wieder die Ästhetisierung des Bösen nicht nur repräsentiert, sondern diese gleichsam ausführt, werden im darauffolgenden Unterkapitel seine Kunstdarbietungen ausführlich analysiert. Die Untersuchungen der allgemeinen Charakteristika seiner Kunst, der durch ihn vollzogene Kreation einer arte nuevo sowie des Kulminationsprozesses seines künstlerischen Schaffens basieren dabei insbesondere auf den wissenschaftlichen Arbeiten von Jennerjahn und Donoso, da diese im speziellen die Poesie Wieders, beziehungsweise seine Flugshows, sowie die von ihm kreierte Vernissage, fokussieren. Um die Analyse des Protagonisten abzurunden, wird des Weiteren der Hauptakteur mit dem Titel des Werkes in Verbindung gebracht, wobei dieser kurze Exkurs auf die bereits durch den Titel provozierte Ästhetisierung des Bösen verweist. Das Fundament dieser Beobachtung stellen dabei die Aussagen von Adolfo Cacheiro dar. In Bezug auf die für die Analyse konsultierte Sekundärliteratur muss zudem konstatiert werden, dass die jeweiligen Werke dem aktuellen Forschungsstand entsprechen. Nachdem jegliche Aspekte, welche die Art und Weise der Ästhetisierung des Bösen in Estrella distante beeinflussen, untersucht werden, erfolgt eine ausführliche Schlussbetrachtung, welche die Erschließung der Zusammenhänge diverser Untersuchungsergebnisse intendiert.

2. Die Ästhetik des Bösen und das Abjekte - Eine theoretische Basis

2.1 Peter-André Alts Studie zur Ästhetik des Bösen

Widmet man sich der Ästhetisierung des Bösen innerhalb literarischer Strukturen, so bietet Peter-André Alts Werk ein gelungenes theoretisches Fundament, um die Herkunft, Wandlungen und Wirkungen der menschlichen Vorstellung vom Bösen im Kontext der Literatur nachvollziehen zu können. Der Literaturwissenschaftler fokussiert bei seinen Untersuchungen, welche anhand eines breit gefächerten Literaturkanons namenhafter Autoren durchgeführt werden, die literarischen Darstellungen des Phänomens3, wobei das „gewählte Verfahren [...] ein beobachtendes“4 bleibt, dessen grundsätzliches Ziel es ist, „Einsicht in die textuell vermittelte Ästhetik des Bösen zu gewinnen und deren Funktion für die Bewußtseinsgeschichte [sic] der Moderne zu verdeutlichen“5. In seiner chronologisch konzipierten Studie demonstriert Alt zunächst die Anfänge des Bösen anhand zweier Erzählungen aus der Bibel. Der luziferische Sturz aus dem Himmel in die Hölle sowie die Vertreibung aus dem Paradies verweisen auf die aus Ehrgeiz, Eifersucht und Begierde evozierte Genese des Bösen und markieren den Kulminationspunkt, der in einer Trennung der zuvor gegebenen Einheit gipfelt, welche wiederum das Fundament für die Differenzierung von Gut und Böse darstellt, so Alt.6 Somit wird im biblischen Kontext das Böse als bloße Abweichung von der theologischen Norm dargestellt, bei dem das Böse an sich eine nachträglich abgeleitete Größe repräsentiert, die gegen das Gute als Prinzip verstößt und folglich einer defizitären Mangelstruktur der menschlichen Verhaltensweise entspricht.7 Durch den Sturz Luzifers und den im Buch Genesis beschriebenen Sündenfall lässt sich, laut Alt, folglich eine Art Vorstufe der Ästhetisierung des Bösen erfassen, die literarisch „den Schock des Plötzlichen, den Flug in die Tiefe, das Hereinbrechen einer bisher unbekannten Gewalt und die Kraft einer neuen Unterscheidung erfahrbar macht“8. Diese besagte Ästhetisierung des Bösen, bei welcher die Teufelsfigur als Hauptakteur fungierte, erfährt jedoch im Zuge der Aufklärung während des 18. Jahrhunderts eine profunde Zäsur. Die aufklärerische Kritik des Aberglaubens hat die physische Existenz teuflischer Gestalten negiert und die privilegierte Stellung des Teufels als Personifizierung jeglicher, der christlichen Norm konvergierender Charakteristika aufgelöst. Nichtsdestotrotz haben böse Wesenheiten ihre anschauliche Funktion nicht gänzlich verloren, wobei die letzte, wirklich glaubwürdige Verkörperung dieser Figuren in Goethes Mephistoteles stattfand, so Alt. Durch die Erkenntniskritik der Aufklärung wurde die Hölle somit unsichtbar. Diese äußerte sich nun vielmehr als ein destruktives Prinzip mit multiplen Erscheinungsformen innerhalb der Figuren selbst.9 Als logische Konsequenz dessen sind folglich „neue Strategien erforderlich, [um] das Böse ästhetisch darzustellen. [...] Bedingung für die neuen Entwürfe des Bösen ist die eigenständige Arbeit der ästhetischen Imagination“10. Denn erst dieses Konzept der modernen Imagination ermöglicht das Böse als Produkt der menschlichen Psyche auf literarischem Terrain zu erfassen, womit ebenfalls die Chance der eigenständigen Modellierung des Bösen gestattet wird. Dadurch , dass sich die Techniken der literarischen Imagination bezüglich der Vergegenwärtigung des Bösen zunehmend differenzierten, hat ein enormer Zuwachs an diversen Charakteristika des Bösen stattgefunden. Korrespondierend mit dieser Entwicklung, erweist sich die Verknüpfung von Zusammenhängen zwischen theologischen, moralischen, psychologischen und rechtlichen Bereichen als äußerst sinnvoll, um die neuen Tiefenstrukturen des Bösen, welche durch die Implantation des Bösen in das Innere des Menschen kausiert werden, erfassen zu können.11 Das Böse, welches die Eigenschaften seines Äußerlichen abgelegt hat, tritt nun in der Literatur nur noch vage und unpräzise auf. Durch die psychische Komplexität, die es entfaltet, wird die Unbestimmtheit und Vielgestalt des Bösen, beziehungsweise dessen nicht einzufrierende Ästhetik im literarischen Kontext konstatiert.12 In Bezug auf diese nur schwer fassbare und bedrohliche Komplexität des Bösen, deklariert Alt die Literatur selbst als Schlüsselfigur, da sie es vermag „Paradoxe zu formulieren, ohne in Absurdität zu verfallen“, sowie das Böse „außerhalb von rationalen Erklärungsmodellen einzufangen“13. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts steigert sich das Böse nochmals in seiner Vielschichtigkeit aufgrund von weitreichenden und komplexen Beziehungen zwischen „Trieb, Monotonie, Langeweile, Ekel, Aggression, Ich-Spaltung, Selbstliebe und Selbsthaß [sic]“14, welche im neueren Verständnis der Wissenschaft vom menschlichen Sein als eng verbundene Kategorien des Bösen postuliert werden. Insbesondere die Conditio Humana beeinflussenden Triebe werden hierbei als Wurzel des Bösen genannt. Denn wie die Kategorie des Bösen evoziert der Triebbegriff an sich die gewisse Vorstellung einer Bedrohung, eines Disputs zwischen Leidenschaft und Rationalität, einer überwältigenden Dynamik sowie eines ordnungszerstörenden Effekts.15 Bezüglich der Trieb­Problematik in Verbindung mit dem Bösen äußerte sich Alt wie folgt:

„Foucaults Bemerkung, daß [sic] der menschliche Trieb sich nach Nietzsches Formel vom Tod Gottes nicht mehr auf eine christliche Genealogie - den Sündenfall - zurückführen ließ, sondern aus der Welt-Immanenz abgeleitet werden mußte [sic], gilt mit derselben Schlüssigkeit für das Böse und dessen diesseitige Entfaltungsdynamik.“16

Im 20. Jahrhundert erscheint diese besagte Entfaltungsdynamik des Bösen in einer neuen Dimension. Nachdem der Literaturwissenschaftler anhand der Werke von Sartre, Mann, de Sade, Wilde, Poe und unter anderem Kafka die Ästhetisierung des Bösen durch unterschiedliche Erscheinungstypen der Wiederholung, Grenzverletzung und des Exzesses, sowie durch Konzepte der Verkehrung, Spaltung oder Überschreitung manifestiert, widmet er sich im letzten Kapitel der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus und dessen Konsequenz für die literarische Ästhetisierung des Bösen. Aufgrund der begangenen Verbrechen während des Dritten Reichs avancierte der Name „Auschwitz“ zu einem neuen Inbegriff des Bösen, welcher gleichermaßen in der Literatur adaptiert wird.17 Diesbezüglich zeigt Hannah Arendts These über die Banalität des Bösen, „daß [sic] es keine Opposition zwischen dem Banalen und dem Bösen geben kann“ und dies wird wiederum konstatiert, „indem sie die Unersetzbarkeit eines moralischen Urteils einsichtig“18 macht. Dieser doppelte Sinn, welcher Banalität und Exzess vereint, evoziert eine derartige schockierende Wirkung, wie man, zufolge Alt, exemplarisch bei Bret Easton Ellis‘ Roman American Psycho, welcher einer der provokantesten Werke in den vergangenen 20 Jahren darstelle und den gegenwärtigen Umgang mit dem Bösen in unserer Gesellschaft geprägt habe, wiederfinden kann, so Alt.19 Seine Überlegungen resümierend, konstatiert der Literaturwissenschaftler, dass es einer Verfehlung gleichen würde,

„moderne Literatur allein mit ethischen Kategorien zu bewerten; aber ohne sie scheint man nicht auszukommen, möchte man den Sinn von Grenzverletzungen und die Funktion moralischer Zumutungen auf der Ebene der Textwirkung begreifen. Der Januscharakter der Ästhetik des Bösen erzwingt eine Rezeptionspraxis, die diesen Widerspruch aushält.“20

2.2 Julia Kristeva und der Begriff des Abjekten

Wie bereits im vorhergehenden Kapitel konstatiert, zählt der Ekel zu den zentralen Elementen, welche in enger Verbindung mit der Kategorie des Bösen stehen. Demnach ist eine ausführliche Betrachtung des 1980 auf Französisch erschienenen Werks Pouvoirs de l'horreur von Julia Kristeva unabdingbar, um die Komplexität des Bösen und die aus dieser resultierenden, literarischen Darstellungsweisen weitestgehend erfassen zu können. Kristeva's Ausführungen zu den Figurationen des Abscheus basieren auf dem Vorgang der Abjektion, beziehungsweise auf der Konzeption des Abjekten. Das Abjekte stelle Kristeva zufolge weder Subjekt noch Objekt dar, sondern repräsentiere lediglich ein „pseudo-object“21, welches dem Ich gegenüber steht.22 Dieses, außerhalb des menschlichen Individuums gelegenes Pseudo­Objekt geht nicht mit den Grenzlinien und Regeln der Norm konform. Es ist für deren Destabilisierung, für den Zerfall jeglicher normativer Standarte verantwortlich und besitzt das Potential, Stabilität sowie die eigene Identität zu erschüttern, wodurch wiederum das Abjekt an sich bedrohliche Züge adaptiert.23 Erste Erfahrungen mit dem Abjekten erfolgen laut Kristeva bereits in der präödipalen Phase, wenn das Kind, noch vor jeglicher Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, bereits differenzieren, beziehungsweise etwas verwerfen muss, indem es den mütterlichen Korpus, welcher innerhalb der pränatalen Mutter-Kind-Einheit das besagte Pseudo-Objekt darstellt, verlässt. Folglich muss das Kind bei diesem Prozess den Körper der Mutter als etwas abjektes erkennen, um es dann verwerfen zu können; ein Prozess, der die Abjektion versinnbildlicht. Denn ausschließlich durch diese vollzogene Abjektion kann sich das Ich des Kleinkindes mittels des Spiegelstadiums24 zu einem vollkommenen Subjekt ausbilden und somit zwischen dem Ich und dem Anderen differenzieren. Aufgrund der multiplen Erscheinungsformen des Abjekts ist das Subjekt stetig mit diesem konfrontiert, wodurch der Prozess der Abjektion ein immer wiederkehrender Ablauf im menschlichen Dasein repräsentiert.25 Als die wohl archaischste Ausprägung der Abjektion wird die Abscheu gegenüber der Nahrung dargestellt,26 welche Kristeva anhand dem detailliert beschriebenen Beispiel des Ekels vor der Milchhaut veranschaulicht. Dieses durch die Milchhaut evozierte Ekelgefühl resultiert nicht etwa aus einem unansprechenden Geschmack der Milchhaut, sondern aus deren nicht vorhandenen, beziehungsweise nicht fixierbaren Grenzen. Würgen, Spasmen im Magen, oder gar Erbrechen sind demnach das Ergebnis von Gefühlen des Abscheus, in denen sich die Abjketion manifestiert. Da mit der Abjektion vor der Milch gleichsam einer Abwehrhaltung gegenüber dem Elternteil, das die Milch angeboten hat, erfolgt, konstatiert Kristeva die grundlegende Tendenz zur Mutter-Kind-Verbindung des Abjekts, welche es konstant beibehält. Der Vergleich zwischen der Abjektion von Milchhaut und von der des mütterlichen Korpus impliziert folglich eine grundlegende Ambivalenz der Abjektion. Dadurch, dass das Kind sich erst von der Mutter trennen muss, damit eine Identitätsbildung gewährleistet werden kann, wird das Subjekt an die Unerlässlichkeit des Verwerfens abjekter Gegenstände oder Situationen erinnert.27 Neben dem infantilen Ekel vor Nahrung, beziehungsweise vor der Milchhaut wird eine weitere, essentielle Erscheinungsform des Abjekts durch den Kadaver repräsentiert. Dieser stelle bereits auf etymologischer Betrachtungsweise das Musterbeispiel des Abjekten dar, so Kristeva. Denn der Leichnam provoziert nicht nur Gefühle des Abscheus oder des Ekels, sondern erst durch diesen und der dadurch evozierten natürlichen Abstoßung vom Tod, kann sich das Individuum als reale Existenz innerhalb der gegebenen Ordnung manifestieren. Aufgrund der mit dem Kadaver in Verbindung stehende bewussten Ausscheidung von gewissermaßen schmutziger Körpermaterie, welche biologisch gesehen erst ein menschliches Dasein ermöglicht, lässt sich auch bei dieser speziellen Ausprägung des Abjekts die Dynamik des Abjekten durch dessen Ambivalenz erkennen.28 In Bezug auf die Gemeinsamkeiten der zahlreichen Visualisierungen des Abjekten kann folgendes konstatiert werden: „It is thus not lack of cleanliness or health that causes abjection but what disturbs identity, system, order. What does not respect borders, positions, rules. The in-between, the ambiguous, the composite.”29 Dass die Abjektion einer Unerlässlichkeit für jedwedes Subjekt entspricht, zeigt Kristeva insbesondere hinsichtlich des primären Narzissmus des Ichs. Als „uncertain, fragile, threatened“30 beschrieben, ist dieses folglich einer stetigen Gefährdung ausgesetzt, wieder einen Rückschritt zur präödipalen Mutter-Kind-Beziehung zu begehen, was, laut Kristeva, wiederum nur durch das Abjizieren von dem abjekten Mutter-Korpus verhindert werden kann.31 Gleichzeitig konstatiert Kristeva jedoch Folgendes: „Even before being like, "I" am not but do separate, reject, ab-ject.32 Demnach repräsentiert die Abjektion eine Grundvoraussetzung des Narzissmus, welche in Bezug auf das lakaische Spiegelstadium impliziert, dass das Kind den Prozess der Abjektion, also den des Verwerfens, bereits vollendet, beziehungsweise begangen haben muss, um eine Spiegelung des Subjekts überhaupt ermöglichen zu können. Jedoch kohäriert während des Spiegelstadiums der immerwährende, nicht vollendbare Vorgang der Abjektion ebenfalls mit dem narzisstischen Subjekt, wodurch folglich die Abjektion für die Spaltung des Spiegelbildes, beziehungsweise für die des spiegelnden Individuums, verantwortlich ist.33 Somit stellt die Abjektion durch deren Ambivalenz eine immense Bedrohung für die Genese des Subjekts dar, worauf laut Kristeva ebenfalls die Phobie vor inzestiösem Verhalten beruht.34 Des Weiteren führt Kristeva in Bezug auf das Objekt den Terminus „jouissance“ ein, also ein gewisser Genuss, welcher für die Faszination, die die Abjektion produziert, verantwortlich ist und welchen sie mit dem Objekt wie folgt in Verbindung bringt:

[...]


1 Bolaño, Roberto, Entre paréntesis. Ensayos, artículos y discursos (1998-2003), Barcelona, Anagrama, 2004, 36f.

2 Bolaño (2004): 20.

3 Dähn, Rolf, «Die Weltliteratur ist böse dran», Frankfurter Allgemeine Zeitung (Feuilleton), 02.12.2010, o. S., http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/peter-andre-alt-aesthetik-des-boesen-die- weltliteratur-ist-boese-dran-11080879.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (letzter Zugriff am: 10.02.2015).

4 Alt, Peter-André, Ästhetik des Bösen, 2. Auflage, München, C.H. Beck, 2010, 29.

5 Alt (2010): 30.

6 Alt (2010): 32.

7 Brinkemper, Peter V., «Das Böse - ein wildes Konzert der Gefühle. Peter-André Alts «Ästhetik des Bösen»», Glanz & Elend. Magazin für Literatur und Zeitkritik, ohne Datum, o. S., http://www.glanzundelend.de/Artikel/abc/a/alt_peter_andre.htm (letzter Zugriff am 07.02.2015).

8 Alt (2010): 32.

9 Dähn (2010): o. S.

10 Alt (2010): 13f.

11 Alt (2010): 15f; 18.

12 Martus, Steffen, «Peter-André Alt: Die Ästhetik des Bösen. Aus dem Hause Teufel», Süddeutsche Kultur online, 13.12.2010, o. S., http://www.sueddeutsche.de/kultur/peter-andre-alt-die-aesthetik-des-boesen-aus-dem- hause-teufel-1.1035824 (letzter Zugriff am: 08.02.2015); Alt (2010): 18.

13 Alt (2010): 19.

14 Alt (2010): 21.

15 Dähn (2010): o. S.; Alt (2010): 21f.

16 Alt (2010): 23.

17 Alt (2010): 482; 8f.

18 Alt (2010): 25.

19 Alt (2010): 517.

20 Alt (2010): 551.

21 Kristeva, Julia, Powers of Horror. An Essay on Abjection, übersetzt von Leon S. Roudiez, New York, Columbia University Press, 1982, 12.

22 Kristeva (1982): 1.

23 Kristeva (1982): 2-4.

24 Das Spiegelstadium beschreibt laut Lacan die Phase, in der das Kleinkind zum ersten Mal sich selbst in einem Spiegel erblickt. Durch das eigene Spiegelbild beginnt bei dem Kleinkind der Differenzierungsprozess zwischen dem Ich und dem Anderem, da sich das Kind bei der Betrachtung im Spiegel gewissermaßen selbst abjizieren muss, vgl. Mandolessi, Silvana, «El arte según Wieder: Estética y política de lo abyecto en Estrella distante », Chasqui: Revista de Literatura Latinoamericana, 40:2 (2011), S. 65-79, hier 67.

25 Mandolessi (2011): 66f.

26 Kristeva (1982): 2.

27 Mandolessi (2011): 67; Kristeva (1982): 2f; 71.

28 Kadaver: von dem lateinischen Verb cadere - fallen abgeleitet, Kristeva (1982): 3f; Mandolessi (2011): 68.

29 Kristeva (1982): 4.

30 „The ego of primary narcissism is thus uncertain, fragile, threatened, subjected just as much as its non-object to spatial ambivalence (inside/outside uncertainty) and to ambiguity of perception (pleasure/pain).”, Kristeva (1982): 62.

31 Kristeva (1982): 61-63.

32 Kristeva (1982): 13.

33 Kristeva konstatiert hierzu Folgendes: „The more or less beautiful image in which I behold or recognize myself rests upon an abjection that sunders it as soon as repression, the constant watchman, is relaxed.”, Kristeva (1982): 13.

34 Menninghaus, Winfried, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1999, 522; Kristeva (1982): 63.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Die Ästhetisierung des Bösen in Roberto Bolaños Werk "Estrella distante"
Hochschule
Universität Trier
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
33
Katalognummer
V583784
ISBN (eBook)
9783346158246
ISBN (Buch)
9783346158253
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ästhetisierung, bösen, bolaños, estrella, roberto, werk
Arbeit zitieren
Vanessa Kühner (Autor:in), 2015, Die Ästhetisierung des Bösen in Roberto Bolaños Werk "Estrella distante", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/583784

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