Leseprobe
Literaturverzeichnis
Einleitung
1. Deutsche Kriegsabsicht und -vorbereitung
2. Der Tschechoslowakisch-Sowjetische Beistandsvertrag
3. Sowjetisch-Französischer Beistandsvertrag und das tschechoslowakische Bündnissystem in Ost- und Ostmitteleuropa
4. Die Position Großbritanniens
Fazit: Lokaler Deutsch-Tschechoslowakischer Krieg oder internationaler Konflikt?
Quellen- und Literaturverzeichnis
Anhang
Einleitung
Kontrafaktische Geschichtswissenschaft zu betreiben kann bei plausiblen Annahmen dabei helfen bedeutsame Zäsuren im historischen Verlauf zu identifizieren, da bei der Betrachtung des möglichen Ereignishorizonts die Bedeutsamkeit einer Zäsur (oder auch Nicht-Zäsur) deutlicher und präziser herausgearbeitet werden kann. Des Weiteren erweitern sich die Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns durch das gewonnene Verständnis von Kausalitäten und für den historischen Kontext bei der Stellung einer Was-Wäre-Wenn-Frage. Dies wiederum erlaubt einen perspektivisch anders gerichteten Blick auf rezipierte und repetierte Mythen, die auf diese Weise einer Richtigstellung unterzogen werden können.
Das Folgende dieser Hauptseminararbeit wird sich mit der Maikrise 1938, der darauffolgenden Münchener Konferenz und ihrem Resultat, dem Münchener Abkommen, beschäftigen sowie einen in seiner Tendenz und historisch plausiblen, das heißt dem historischen Kontext entsprechenden, logisch denkbaren Ereignishorizont abbilden. Dieser Ereignishorizont geht von einem alternativen Ablauf der Geschichte beziehungsweise von der zeitgeschichtlich kontrafaktischen Annahme aus, die Verhandlungen zum Münchener Abkommen seien damals gescheitert und Deutschland hätte die Tschechoslowakei daraufhin militärisch überfallen.
Die zentrale Fragestellung dabei ist, wie wahrscheinlich eine solche Annahme unter Heranziehung der heute bekannten Quellen und dem gegenwärtigen Kenntnisstand der geschichtswissenschaftlichen Forschung dahingehend erscheint. Welche möglichen internationalen, geopolitischen und militärischen Konsequenzen hätte eine deutsche militärische Aggression 1938 gegenüber der Tschechoslowakei in der europäischen Staatenwelt und seinem System kollektiver Sicherheitsarchitektur nach sich ziehen können?
Es soll hier allerdings nicht der Versuch unternommen werden, den Ablauf eines möglichen Krieges strategisch und operativ zu skizzieren oder mögliche innenpolitische Entwicklungen beziehungsweise nach einem eventuellen kommunistischen Aufstand,1 da eine realistische Abschätzung aufgrund der Menge an Variablen schlicht keinen Sinn ergibt sowie sich methodisch nicht richtig analysieren lässt und keine zufriedenstellende Antwort im Sinne eines Erkenntnisgewinns verspricht.
Die Maisky-Tagebücher haben sich im quellenkritischen Sinne als sehr erkenntnisreich erwiesen und zeigen auf, wie sehr die Äußerungen von Diplomaten von den realpolitischen Tatsachen abweichen können.
Stellvertretend für die hier verwendete Sekundärliteratur bietet „Die Sowjetunion und die Verteidigung der Tschechoslowakei 1934-1938“ von Ivan Pfaff als Einführungsliteratur in die Thematik eine große Hilfe und inspirierte die Methodik und den strukturellen Aufbau dieser Arbeit. An dieser Stelle sei ebenfalls auf die Dissertation von Andreas Krämer hingewiesen, die den aktuellen Stand der Forschung umfassend abbildet und mit vielen detaillierten Informationen einen differenzierten Einblick in die vielschichtige Thematik bietet.
Methodisch soll hierbei in einem strukturellen Zweischritt vorgegangen werden: Zunächst werden die vertraglich festgelegten Bündnissituationen beziehungsweise -verpflichtungen und die Möglichkeiten der konkreten Verwirklichung ihrer Bestimmungen beleuchtet. Mit diesem Kenntnisstand soll im nächsten thematischen Abschnitt untersucht werden, welche vorstellbaren Handlungsoptionen seitens der Sowjetunion, Frankreichs und Großbritanniens im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakei bestanden hätten.
1. Deutsche Kriegsabsicht und -vorbereitung
Der Sudetenkrise 1938 ging im März desselben Jahres die völkerrechtswidrige Annexion Österreichs voran, was die geo- und militärstrategischen Handlungsoptionen Deutschlands auf den ersten Blick zu erweitern schien sowie die Entschlussfassung Hitlers maßgeblich beeinflusste. Die tatsächliche diplomatische und außenpolitische Handlungsfähigkeit schrumpfte im Hinblick auf den mitteleuropäischen Bezugsrahmen, insbesondere Frankreich und Großbritannien gegenüber, allerdings zunehmend. Dort sorgte die seit 1935 tatkräftig und offensiv betriebene Expansionspolitik des NS-Regimes für Beunruhigung und steigende Antizipation, besonders innerhalb der jeweiligen Öffentlichkeiten.2
Um die Frage nach einem möglichen Krieg um die Tschechoslowakei3 zu stellen und zu beantworten, ist es der Plausibilität halber notwendig, eine deutsche Kriegsabsicht beziehungsweise -vorbereitung auf einen Überfall der Tschechoslowakei nachzuweisen.
Im Sinne der deutschen Revisions- und Großmachtpolitik seit der Machtergreifung bestand ein vitales und spätestens nach der Annexion der austrofaschistischen Republik Österreich auch ein außenpolitisch konkretes Interesse an der Lösung der sogenannten Sudetenfrage. Darüber herrschte sowohl im Auswärtigen Amt (folgend AA), als auch in Kreisen der Wehrmachtführung weitestgehend Konsens.
Eine Betrachtung der operativen und kriegswirtschaftlichen Lagebeurteilungen durch den Chef des Generalstabes des Heeres, Generaloberst Ludwig Beck, bilden hier eine Ausnahme, erlauben allerdings einen kritischeren Blick auf die Erfolgsaussichten eines deutschen Angriffes. Er hielt eine Intervention der Westmächte Frankreich und Großbritannien in einem solchen Szenario für unausweichlich und aufgrund des noch nicht abgeschlossenen Aufrüstungsprogramms der Wehrmacht und der noch nicht kriegsfähigen deutschen Wirtschaft, einen Krieg von gesamteuropäischen Ausmaß oder dem eines Weltkrieges für nicht zu gewinnen.4
Ebenfalls von Interesse sind die Betrachtungen anderer, gemäßigterer Stimmen innerhalb der Generalität. So beurteilte Generalmajor Kühlenthal in Paris die diplomatische Lage (die Tschechslowakei betreffend) bei weitem nicht so dramatisch und fatalistisch wie Beck. Auch die diplomatischen Lagebeurteilungen in Teilen des AA, hier zum Beispiel die des Staatssekretärs Weizsäcker, den eine weitaus differenziertere Sicht auf die gesamteuropäische internationale Lage als die Becks auszeichnete, sind an dieser Stelle zu erwähnen.5
Bereits am 20./21. Mai befahl der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (folgend OKW), Generaloberst Wilhelm Keitel, auf Weisung Hitlers die operative generalstabsmäßige Planung eines Angriffes auf die Tschechoslowakei. Damit stand zwar kein unmittelbarer Angriff bevor, jedoch wurde ein solcher als Fortsetzung einer gescheiterten diplomatischen Lösung fest in die Planung des Revisionsvorhabens eingebunden.6
Nach der sogenannten Wochenendkrise vom 20. bis zum 22. Mai, in deren Verlauf es zu einer Teilmobilmachung der tschechoslowakischen Streitkräfte kam und die in der ausländischen Presse und öffentlichen Meinung als außenpolitische Niederlage Hitlers wahrgenommen wurde, verstärkten sich die Vorbereitungen auf einen Überfall auf den Nachbarstaat.7 Es sei Hitlers unerschütterlicher Wille gewesen, die Tschechoslowakei müsse „von der Landkarte verschwinden“, so am 28. Mai vor diplomatischen und militärischen Spitzenkreisen.8
Lediglich zwei Tage später, am 30. Mai, wurde eine neue Ausarbeitung der Weisungen für den Fall Grün 9 fertiggestellt. Die Neufassung enthielt in Teilen ihrer Formulierung kein Abwarten und insbesondere kein Abwarten mehr auf politische Eventualitäten für einen günstigen Angriffszeitpunkt, sondern fasste einen solchen Entschluss bereits, dessen Umsetzung unter Umständen sogar noch vorgezogen werden sollte. In der Weisung des OKW vom 18. Juni zu Fall Grün 10 wird die Lösung der tschechischen Frage als Nahziel formuliert, die nach dem 1. Oktober alsbald wie möglich zu vollziehen ist.11 Konkrete Kriegsvorbereitungen wurden bis zum Schluss des Münchener Abkommens am 30. September getroffen.12
Zusammenfassend lässt sich festhalten, und dies gilt als gesicherter Kenntnisstand der geschichtswissenschaftlichen Forschung, dass die deutsche Kriegsabsicht gegen die Tschechoslowakei frühestens in den Wochen unmittelbar nach dem 12. März 1938 bestand und spätestens seit dem 30. Mai auf eine konkrete militärische Aggression abzielte, deren Vorwand zur Not vorsätzlich hätte provoziert werden sollen.13
2. Der Tschechoslowakisch-Sowjetische Beistandsvertrag
In diesem Abschnitt soll das sowjetische Bedürfnis nach oder die Möglichkeit zur Wahrung der staatlichen Integrität der Tschechoslowakei im Falle eines deutschen Überfalls sowie die Bereitschaft der Sowjetunion zur Unterstützung beziehungsweise Verteidigung dieser auf Grundlage des Tschechoslowakisch-Sowjetischen Beistandsvertrages herausgearbeitet werden.
Der am 16. Mai 1935 geschlossene Beistandspakt zwischen der Sowjetunion und der Tschechoslowakei enthielt eine Klausel, welche die Sowjetunion nur dann zu militärischer Hilfe im Rahmen der Bündnistreue verpflichtete, wenn dies auch Frankreich (dem Französisch-Sowjetischen Beistandsvertrag entsprechend) tue und infolgedessen militärisch eingreift. So konnte die Sowjetunion die Verantwortung für die tschechoslowakische Integrität stets auf die Westmacht Frankreich abgeben.14 Erschwerend kam hinzu, dass militärische alliierte Hilfe nur dann formalvölkerrechtlich legitim geleistet werden konnte, wenn der Völkerbund in Genf eine solche beschloss. Viel dringend benötigte Zeit also, die bei einem, von der tschechoslowakischer Seite aus erwarteten, schnell geführten Feldzug der Wehrmacht auf ihrem Staatsgebiet, verloren gegangen wäre.15
Des Weiteren ist anzumerken, dass nach der Annexion Österreichs und der damit einhergehenden dramatischen Verschlechterung der geostrategischen Lage der Tschechoslowakei, keinerlei konkrete Maßnahmen zur Verteidigungsvorbereitung des ostmitteleuropäischen Staates getroffen wurden; noch nicht einmal gemeinsame französisch-tschechoslowakisch-sowjetische Abstimmungen in operativer Hinsicht.16
Ferner bestand keine gemeinsame Staatsgrenze oder direkte Landverbindung zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion.17 Da eine reine Luftunterstützung im Kriegsfall wenig effektiv zur Rettung der Tschechoslowakei erschien und Polen ein Durchmarschrecht für die Rote Armee durch ihr Staatsgebiet kategorisch ablehnte,18 erscheint eine Argumentation schlüssig: Die Sowjetunion nutzte das Abkommen mit Frankreich lediglich um im Falle eines deutsch-tschechoslowakischen Konfliktes auf Grundlage des Beistandsvertrages Druck auf die benachbarten Mittelmächte Polen und Rumänien ausüben zu können, denn auch Bessarabien kam als potentielles Durchmarschgebiet in Frage, was sehr kontrovers diskutiert wurde,19 da der Kreml dort, wie auch in den polnischen Gebieten östlich der Curzon-Linie, Gebietsansprüche erhob.
[...]
1 Vgl. Pfaff, Ivan: Die Gefahr der Sowjetisierung der Tschechoslowakei im Falle einer russischen Hilfeleistung. in: Taubert, Fritz (Hrsg.): Mythos München. (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 98). München 2002. S. 36-37.
2 Vgl. Müller, Klaus-Jürgen: Generaloberst Ludwig Beck. Eine Biographie. Paderborn 2009. S. 308 f.; Krämer, Adreas: Hitlers Kriegskurs. Appeasement und die Maikrise 1938. Berlin 2014. S. 42-59.
3 Unter der Prämisse die Verhandlungen zur Münchener Konferenz seien gescheitert; man sei nicht zu einer diplomatischen Einigung zur sudetendeutschen Frage übereingekommen.
4 Vgl. Müller: Ludwig Beck. 2009. S. 313-319, 325; Murray, Williamson: Der Krieg des Jahres 1938. Chamberlain scheitert in München mit deinem Versuch, Hitler zu besänftigen. in: Cowley, Robert (Hrsg.): Wenn Lenin den Zug verpasst hätte. Wendepunkte in der Geschichte. München 2014. S. 334-335, 340-343, 346-351.
5 Vgl. Müller: Ludwig Beck. 2009. S. 327-329.
6 Vgl. Weizsäcker-Papiere, S. 118-119.
7 Vgl. Müller: Ludwig Beck. 2009. S. 320.
8 Vgl. a.a.O. S. 321.
9 Anm.: Die Bezeichnung für das Unternehmen des Angriffes auf die Tschechoslowakei
10 S. Abb. 1
11 Vgl. Müller: Ludwig Beck. 2009. S. 323, 335.
12 Vgl. Murray: Der Krieg des Jahres 1938. 2014. S. 330, 334.
13 Murray: Der Krieg des Jahres 1938. 2014. S. 328-330.
14 Vgl. Reichert, Günter: Das Scheitern der Kleinen Entente. Internationale Beziehungen im Donauraum von 1933 – 1938. München 1971. S. 115.; Krämer, Adreas: Hitlers Kriegskurs. Appeasement und die Maikrise 1938. Berlin 2014. S. 68; Gorodetsky, Gabriel (Hrsg.): Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932-1943. München 2016. S. 218-219.
15 Vgl. Krämer: Hitlers Kriegskurs. 2014. S. 68.
16 Vgl. Lukes, Igor: Czechoslovakia between Stalin and Hitler. The diplomacy of Edvard Benes in the 1930s. New York 1996. S. 133-138, 142-143.; Lukes Igor: Stalin and Czechoslovakia in 1938 – 1939. An Autopsy of a Myth. in: Lukes, Igor; Goldstein, Erik (Hgg.): The Munich crisis, 1938. Prelude to World War II. London 1999. S. 16.
17 Vgl. a.a.O. S. 35.
18 Vgl. Krämer: Hitlers Kriegskurs. 2014. S. 81.; Reichert: Das Scheitern der Kleinen Entente. 1971. S. 116-119.
19 Vgl. Lukes: Czechoslovakia between Stalin and Hitler. 1996. S. 134.