Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Definition der Begriffe Politisierung und Judizialisierung
2. Gründe für die wachsende Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien
2.1 Verfassungsgerichtsbarkeit als unverzichtbares Korrelat zur Herrschaft des Mehrheitsprinzips.
2.2 Politisierung und Judizialisierung als sich gegenseitig verstärkendePhänomene
3. Abstrakte Normenkontrolle als „Waffe“ der Opposition: Bilanz in Deutschland, Frankreich und Spanien
3.1 Die abstrakte Normenkontrolle in Deutschland
3.2 Die abstrakte Normenkontrolle in Frankreich
3.3 Die abstrakte Normenkontrolle in Spanien
4. Ursachen für nationale Variationen
5. Schlussfolgerung
Literaturverzeichnis
0. Einleitung
In Deutschland wird dem Bundesverfassungsgericht häufig vorgeworfen, es fungiere als „verlängerter Arm der Opposition“[1], mache Politik und lege dem Gesetzgeber Ketten an. Ob Vorwürfe dieser Art gerechtfertigt sind, sei dahingestellt. Wichtig hingegen ist, dass selbst Jutta Limbach als ehemalige Präsidentin des Gerichts, feststellt, „(...) dass das Bundesverfassungsgericht einen herausragenden Faktor im politischen Prozess bildet.“[2]. Die besondere Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts ist also unbestritten wie auch die wachsende Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit in westlichen Demokratien generell in der Literatur unbestritten ist. Jedoch existieren wesentliche nationale Unterschiede hinsichtlich des Ausmaßes dieser Bedeutung.
Im folgenden werde ich zunächst allgemein auf die Gründe eingehen, die für die wachsende Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit in westlichen Demokratien verantwortlich sind und den Zusammenhang zwischen Politisierung von Verfassungsgerichten und Judizialisierung der Politik darstellen. Ich werde mich dann speziell auf die Frage konzentrieren, inwieweit insbesondere die abstrakte Normenkontrolle durch die parlamentarische Opposition in den untersuchten Ländern als „Waffe“ genutzt, parlamentarische Entscheidungsprozesse in Verfassungsgerichte verlagert werden und somit zur Politisierung letzterer beitragen. Abschließend werde ich dann auf Ursachen der nationalen Unterschiede bei der Nutzung dieses Verfahrens eingehen und Erklärungsansätze darlegen.
Aufgrund folgender Kriterien habe ich die Länder Deutschland, Spanien und Frankreich ausgewählt: Zunächst handelt es sich um europäische Staaten, die alle das europäische Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit verwirklicht haben. Diese Staaten besitzen alle eine Institution, die die exklusive und abschließende Rechtsprechungshoheit über verfassungsrechtliche Fragen hat. Mithin handelt es sich um das Modell der zentralisierten verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Gesetzen. Die Entscheidungen dieser Institutionen sind im Gegensatz zum dezentralen US-amerikanischen Modell nicht nur für einen konkreten Rechtsstreit, sondern allgemein bindend.
Zudem kennen diese Länder alle das Institut der abstrakten Normenkontrolle, zu dessen Einleitung ein Teil der Legislative berechtigt ist. Des weiteren sind sie hinsichtlich ihrer Staatsorganisation (Föderalismus, Quasi-Föderalismus, Zentralstaat) sowie hinsichtlich der Ausgestaltung ihres Wahlrechts verschieden. Warum dies sinnvolle Kriterien für eine Auswahl sind, werde ich im Laufe dieser Arbeit verdeutlichen.
Zwei Schwierigkeiten waren bei der Vorbereitung dieser Hausarbeit zu überwinden. Zwar gibt es zum Thema Verfassungsgerichtsbarkeit umfangreiche Literatur. Diese ist jedoch für einen vergleichenden Ansatz nicht immer aufschlussreich. Viele Autoren beschränken sich oft lediglich auf die Wiedergabe von Verfahrensarten oder von besonders wichtigen Entscheidungen. Ebenfalls als schwierig erwies sich, verlässliches Zahlenmaterial, insbesondere Verfahrensstatistiken, ausfindig zu machen.
1. Definition der Begriffe Politisierung und Judizialisierung
Diese Begriffe spielen für die Beschreibung des Phänomens der wachsenden Bedeutung von Verfassungsgerichten und dem daraus resultierenden veränderten Gestaltungsspielraum der politischen Akteure eine zentrale Rolle. Sie sollen daher in dem Sinne, wie sie in der Literatur gebraucht werden, an dieser Stelle definiert werden.
Politisierung:
Dass Verfassungsgerichte nicht reine Rechtsprechungsorgane, sondern „(...) quasi-judicial organs called constitutional courts (...)“[3] sind, also durchaus politischen Charakter haben, wird schon an den ihnen zugewiesenen Aufgaben und Kompetenzen sowie an der Auswahl der Richter und daraus folgend ihrer Zusammensetzung deutlich. In den drei untersuchten Ländern, unterscheiden sich Auswahl- und Ernennungsmodi der Richter ganz erheblich von denen der „normalen“ Gerichtsbarkeit. In Deutschland werden die Richter des Bundesverfassungsgerichtes je zur Hälfte von beiden Kammern gewählt, in Spanien wird neben der Wahl durch die Kammern ein Teil der Richter direkt von der Regierung ernannt und in Frankreich ernennen der Staatspräsident sowie die Präsidenten von Nationalversammlung und Senat je ein Drittel der Richter.
Obwohl beispielsweise das Bundesverfassungsgericht nach der Systematik des Grundgesetzes ein Rechtsprechungsorgan ist, macht die allgemeine Bindungswirkung seiner Entscheidungen, die für alle 3 Gewalten gleichermaßen gilt, seinen enormen Einfluss und politischen Charakter deutlich.
Allerdings ist es wichtig, daraufhin zu weisen, dass dieser politische Charakter nicht mit Politisierung gleichgesetzt werden kann. Zwar ist der politische Charakter, d.h. die besondere Stellung der Verfassungsgerichte notwendige Voraussetzung für Politisierung. Diese entsteht jedoch erst durch „(...) the move to activate constitutional review in order to alter legislative outcomes or the state of constitutional law (…)”[4]. Ein Verfassungsgericht wird also in dem Moment politisiert, in dem ihm ein Gesetz zur Überprüfung mit dem Ziel vorgelegt wird, das Ergebnis des Gesetzgebungsprozesses zu ändern. Denn das Gericht befindet sich dann in der Situation, über eine politische Frage entscheiden zu müssen.
Da die Verfassungsgerichte in Deutschland und Spanien, sowie der Conseil Constitutionnel in Frankreich nur auf Antrag tätig werden können, bedarf es zu ihrer Politisierung also der Handlung eines politischen Akteurs.
Judizialisierung:
Dieser Begriff bezeichnet den Prozess, durch den Verfassungsgerichte in zunehmendem Maße die Gestaltung von Politikfeldern beherrschen, die früher von Legislative und Exekutive beherrscht wurden. Des weiteren bezeichnet dieser Begriff den Vorgang, durch den nicht-juristische Verhandlungs- und Entscheidungsforen in immer stärker werdendem Maße von für die Justiz typischen Regeln und Verfahrensarten beherrscht werden[5].
Politisierung verursacht Judizialisierung. Weiter unten werde ich genauer auf diesen Zusammenhang eingehen.
2. Gründe für die wachsende Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wie eingangs bereits erwähnt, ist man sich in der Literatur über die Tatsache, dass Verfassungsgerichte eine immer größere Bedeutung im politischen Prozess erlangen, einig. Folgender kurzer Überblick macht dies deutlich:
Das Bundesverfassungsgericht hat von 1951 bis 1990, 198 der 4298 vom Bundestag verabschiedeten Gesetze für ungültig erklärt, bis 1990 78.449 Verfassungsbeschwerden mit einer Erfolgsquote von 2,25% sowie 2529 Anträge auf konkrete Normenkontrolle bearbeitet[7]. Etwa 20% aller Bundesgesetze wurden so vom Bundesverfassungsgericht überprüft[8]. Darunter fallen höchstumstrittene Entscheidungen wie zu den Abtreibungsgesetzen oder zum Hochschulrahmengesetz.
Seit 1981 wurde etwa ein Drittel aller von der französischen Nationalversammlung verabschiedeten Gesetze vom Conseil Constitutionnel mit einer Erfolgsquote von 54% überprüft[9]. Auch hier wurden Entscheidungen von höchster Brisanz getroffen, wie 1982 die Entscheidung zum Gesetz über die Verstaatlichung der fünf größten Industriekonglomerate Frankreichs.
Von 1981 – 1990 bearbeitete das spanische Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional espanol) insgesamt etwa 1600 Verfahren[10]. Auch hier ergingen umstrittene, höchstpolitische Entscheidungen, etwa zu Abtreibungsgesetzen.
Zu klären bleibt jedoch die Frage, warum Verfassungsgerichte solch eine hohe Bedeutung zu Lasten des Politikgestaltungsfreiraums von Legislative und Exekutive gewonnen haben.
[...]
[1] Stüwe, Klaus: Das Bundesverfassungsgericht als verlängerter Arm der Opposition? Eine Bilanz seit 1951, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B37-38/2001 (gefunden unter: http://www.das-parlament.de/2001/37_38/Beilage/006p.pdf) (Zugriff: 14.02.2003)
[2] Limbach, Jutta: HFR 12-1996, S. 3, http://www.humboldt-forum-recht.de/12-1996/Seite3.html (Zugriff: 07.02.03)
[3] Stone Sweet, Alec: Governing with Judges – Constitutional Politics in Europe, Oxford 2000: OUP, S.31
[4] Ebenda, S. 194
[5] siehe: Tate, C. Neal: Why the Expansion of Judicial Power?, in: Ders. and Vallinder, Torbjörn (ed.) The Global Expansion of Judicial Power. New York 1995: New York University Press, S. 28
[6] Stone Sweet (Anm.3), S. 1 (Hervorhebung hinzugefügt M.W.)
[7] Daten aus: Landfried, Christine: Germany, in: Tate, C. Neal and Vallinder, Torbjörn (ed.) The Global Expansion of Judicial Power. New York 1995: New York University Press
[8] Stone Sweet (Anm.3), S. 64
[9] Stone Sweet (Anm.3), S. 63
[10] Stone Sweet (Anm.3), S. 64