In der folgenden Arbeit wird über Kannibalen gesprochen. Ein Thema, dass den heutigen Mitteleuropäer wohl kaum persönlich betreffen dürfte. Dennoch übt die Vorstellung, dass Menschen ihre eigenen Artgenossen als Speise benutzen, offenbar eine große Faszination aus, denn das Thema zieht sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Man mag bei den homerischen Kyklopen beginnen, die den völligen Mangel an Zivilisation verkörpern, indem sie Menschen verzehren. Derselbe Vorwurf traf frühe römische Christen ebenso wie vermeintliche Hexen und Werwölfe im Mittelalter. Auch der Glaube an Vampire stellt eine Form der Anthropophagie dar, und seit Beginn der 1990er lehrt uns der intellektuelle Menschenfresser Hannibal Lecter aus Thomas Harris Roman „The Silence of the Lambs“ mit seinen berühmten Worten „I’m having an old friend for dinner“ das Fürchten. Der Vorwurf des Menschenessens kann für eine Person oder eine Gruppe schlimme Konsequenzen haben, wie man an verleumdeten und gepeinigten Hexen im Mittelalter sieht. Das macht den Vorwurf dann auch zu einem Instrument gegen unliebsame Elemente, denn wer erst einmal mit einem solchen Vorwurf belastet ist, der wird sich mit seiner Verteidigung schwer tun. Auch ist es beispielsweise nicht angenehm für heutige Völker, sich anhören zu müssen, ihre Vorfahren seien Kannibalen gewesen. Eben dieser Vorwurf wurde auch zu Beginn der Entdeckung des amerikanischen Kontinents, von vielen Reiseberichterstattern an die dortigen Ureinwohner gerichtet. In den Schriften, die nach und nach in Europa publiziert wurden, tauchen die Menschenfresser immer wieder auf. Zu diesen Schriften zählt auch die „Wahrhaftige Historia“, die der hessische Reisende Hans Staden 1557 veröffentlichte. Thema dieser Arbeit wird sein, diesen Text kritisch zu behandeln, und durch eine Sichtung der Bücher seiner Vorgänger zu zeigen, dass mit Hans Stadens Bericht ein konstruiertes Werk vorliegt. Durch eine Beurteilung der Rolle seines Korrektors Dr. Dryander und die reformatorischen Einflüsse auf den Hessen, soll gezeigt werden, dass die „Wahrhaftige Historia“ nicht als Beweis für den Kannibalismus brasilianischer Eingeborener herangezogen werden kann. Die wichtigste Literatur für diese Arbeit stammt von Annerose Menninger, die ebenso wie Urs Bitterli und William Arens zu den Vertretern der Wissenschaft gehört, die den Kannibalismus nicht als bewiesen ansehen. Menningers Arbeit, „Die Macht der Augenzeugen“, stellt das zentrale Werk in dieser Arbeit dar. [...]
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- II. Kannibalismus in Hans Stadens Reisebericht „Wahrhaftige Historia“
- 1. Geschichtlicher Rahmen
- 2. Die „Wahrhaftige Historia“ und ihre Entstehung
- (a) Hans Staden und seine Reisen
- (b) Der wandernde Kannibalenmythos
- (c) Die Verbreitung und der Zugang Hans Stadens
- 3. Kritische Bemerkungen zur „Wahrhaftigen Historia“
- (a) Verbreitung
- (b) Übernahmen aus anderen Reiseberichten
- (c) Die Rolle von Dryander
- 4. Kannibalismus anhand der „Wahrhaftigen Historia“
- III. Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit befasst sich mit dem Thema Kannibalismus im Reisebericht von Hans Staden, der „Wahrhaftigen Historia“. Die Analyse zielt darauf ab, die Entstehung dieses Werkes zu beleuchten und seine Aussagekraft hinsichtlich des Kannibalismus brasilianischer Eingeborener kritisch zu hinterfragen.
- Die Entstehung der „Wahrhaftigen Historia“ im Kontext der europäischen Expansion und der Verbreitung von Kannibalenmythen.
- Die Rolle des Autors Hans Staden und die Frage nach seiner Glaubwürdigkeit.
- Die Bedeutung des Korrektors Dr. Dryander und seine reformatorischen Einflüsse auf den Reisebericht.
- Die kritische Analyse der „Wahrhaftigen Historia“ im Vergleich zu anderen Reiseberichten der Zeit.
- Die wissenschaftliche Debatte um den Kannibalismus in Brasilien.
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einer Einführung, die den Begriff des Kannibalismus im historischen Kontext beleuchtet und die Bedeutung des Themas für die damalige Zeit herausstellt. Anschließend wird der geschichtliche Rahmen der europäischen Entdeckung und Besiedlung Amerikas dargestellt, wobei der Schwerpunkt auf den Reisen von Christoph Kolumbus und Amerigo Vespucci liegt.
Kapitel 2 widmet sich der Entstehung der „Wahrhaftigen Historia“ von Hans Staden. Hier werden der Autor und seine Reisen, die Verbreitung von Kannibalenmythen in der damaligen Zeit und die Entstehung von Stadens Reisebericht im Detail beleuchtet.
In Kapitel 3 werden kritische Anmerkungen zur „Wahrhaftigen Historia“ gemacht. Die Arbeit beleuchtet die Verbreitung des Buches, die Übernahme von Inhalten aus anderen Reiseberichten und die Rolle von Dryander als Korrektor des Werks.
Kapitel 4 analysiert schließlich das Thema Kannibalismus anhand der „Wahrhaftigen Historia“ und setzt sich kritisch mit Stadens Behauptungen auseinander.
Schlüsselwörter
Kannibalismus, Hans Staden, „Wahrhaftige Historia“, Reisebericht, europäische Expansion, Amerika, Brasilien, Eingeborene, Anthropophagie, Geschichte, Kultur, Mythen, Rezeption, Kritik.
- Quote paper
- Florian Widmann (Author), 2006, Kannibalismus in Hans Stadens Reisebericht "Wahrhaftige Historia", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58672