Fernsehsucht oder - Emanzipation? Joshua Meyrowitz' 'Die Fernsehgesellschaft' im Spiegel von Heiko Michael Hartmanns Roman 'MOI'


Hausarbeit, 2002

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1 Ursprünge der Theorie

2 Das Medium
2.1 Der Unterschied zwischen gedruckten und elektronischen Kommunikationsmedien
2.1.1 Der Wandel von öffentlichem zu privatem Verhalten

3 Die Situation
3.1 Das Verhältnis von Ort und Situation
3.2 Der Wandel der Situation durch die neuen Medien

4 Die Rolle
4.1 Gruppenidentität
4.2 Sozialisation
4.3 Hierarchie

Schluss

Literaturverzeichnis

Einleitung

Volksverdummung, Moralverfall, Kulturverlust – nur eine kleine Auswahl der wenig schmeichelhaften Schlagwörter, mit denen das Fernsehen regelmäßig bedacht wird. Alle tun es und jeder schimpft darüber. So auch Fred Openkör, der Protagonist in Heiko Michael Hartmanns Debütroman „MOI“, auch wenn in seinem Fall die tägliche Nonstop-Berieselung kein freiwillig gewähltes Schicksal ist. Infiziert mit einem mysteriösen Virus, ist er in einem Krankenhauszimmer mit seinen fernsehsüchtigen Leidensgenossen gefangen - allen voran der Kioskverkäufer Dupek, der ihm mit monatelanger Dauerbeschallung, Zappingterror und Programmstreitereien schon mal einen Vorgeschmack auf das nahe Ende liefert.

Dieser rundum negativen Haltung was das Fernsehens angeht, steht Joshua Meyrowitz’ eher optimistische Sichtweise gegenüber. In „Die Fernsehgesellschaft“ entwickelt der amerikanische Medientheoretiker die Hypothese, dass die traditionellen Unterschiede zwischen Menschen durch eine Trennung in separate Erfahrungswelten bewirkt und durch die Printmedien gestärkt werden. Die neuen Kommunikationsmittel wie Fernsehen, Telefon und Computer verwischen hingegen die Grenzlinie verschiedener Gruppen, indem sie vorher getrennte Situationen miteinander kombinieren. Daher führen die elektronischen Medien, so Meyrowitz, zu einer Demokratisierung und heben die Kluft zwischen Männern und Frauen, Kindern und Erwachsenen und Mächtigen gegenüber Schwachen auf lange Sicht auf.

Ausgehend von diesen beiden kontroversen Standpunkten möchte ich in meiner Hausarbeit folgenden Fragestellungen nachgehen:

Wie und wodurch verändern die neuen Medien, vor allem das Fernsehen, soziale Situationen sowie dazugehöriges Rollenverhalten?

Inwieweit spiegelt sich Meyrowitz’ Theorie in Hartmanns „MOI“ wider?

Dabei werde ich zunächst Meyrowitz’ Thesen darstellen, um dann seinen Befund an den jeweiligen Textstellen in „MOI“ zu illustrieren.

1 Ursprünge der Theorie

Meyrowitz’ Theorie beruht auf einer Kombination zweier bis dato voneinander getrennter Forschungszweige: dem ‚Situationismus’, wie er unter anderem von Goffman entwickelt wurde und der ‚Medientheorie’, der vor allem McLuhans populäre Schriften weltweit zu Ruhm verhalfen.

Der Soziologe Goffman entwirft ein Modell des Lebens als einziges Theaterstück, in dem jeder Mensch je nach Zusammensetzung des Publikums verschiedene Rollen spielt. Jede Situation verfügt über ein Drehbuch, eine Reihe von Regeln dessen, was als angemessenes Verhalten betrachtet wird. Dabei unterscheidet er zwischen dem Verhalten auf der Bühne, wenn wir uns der Beobachtung anderer bewusst sind und dem im Hintergrund, wo sich das abspielt, was der Öffentlichkeit verborgen bleiben soll: Schlafen, sexuelle Aktivitäten, Selbstzweifel, aufs Klo gehen usw. Damit bietet Goffman eine Definition von Situation, ohne jedoch deren dynamischen Charakter in Betracht zu ziehen. Zur Erklärung des Wandels von sozialen Rollen, ist seine Analyse inadäquat.

McLuhan hingegen liefert eine Ursache für die Veränderungen des menschlichen Verhaltens: die neuen Kommunikationsmedien. Er definiert Medien als Ausdehnung der menschlichen Sinnesorgane, welche die Bevölkerung zu einem ‚global village’ vereinen. „Die neue elektronische Interdependenz verwandelt die Welt in ein globales Dorf.“[1] Was seiner Theorie jedoch fehlt, ist das ‚Wie’. Zwar diagnostiziert er den sozialen Wandel, der Weg dorthin bleibt allerdings im Dunkeln.

Was Meyrowitz nun anstrebt, ist ein Brückenschlag zwischen Medium-Theorie und Situationismus, wobei er versucht, das jeweilige Manko der beiden Wissenschaften zu beheben.

2 Das Medium

Betrachtet man die Mehrzahl der Studien zum Einfluss der Medien auf die Gesellschaft, stößt man nahezu ausschließlich auf Untersuchungen zum Medien inhalt. Meyrowitz entfernt sich hingegen von der Botschaft und lenkt stattdessen sein Augenmerk auf die spezifischen Eigenschaften der Informationsträger selbst. Er geht davon aus, dass Medien, je nach ihrer Beschaffenheit, Menschen durch getrennte Informationssysteme aufspalten oder in einer gemeinsamen Situation integrieren können, was er exemplarisch am Unterschied Buch versus Fernsehen erläutert.

2.1 Der Unterschied zwischen gedruckten und elektronischen Kommunikationsmedien

Die Fähigkeit lesen und schreiben zu können, ist kein angeborenes Gut. Es bedarf eines jahrelangen Lernprozesses von einfacheren hin zu immer komplexeren Texten, um die Kompetenz in vollem Umfang zu erlangen. Auf diese Weise werden Menschen in unterschiedliche Gruppen eingeteilt, je nachdem, in welchem Stadium der Ausbildung sie sich befinden. Diese Aufspaltung ermöglicht es, Informationen selektiv zu vergeben. Eltern können über Erwachsenenthemen lesen, ohne zu befürchten, dass ihre Sprösslinge mithören. Nicht nur, dass ein Kind voraussichtlich weder Lust noch die Möglichkeit hätte, an ein solches Buch heranzukommen. Sollte ihm doch mal eine Erwachsenenlektüre in die Hände fallen, würden es eingebaute Hürden wie Wortwahl, komplizierte Satzstrukturen, kleinere Schriftgröße, Mangel an Bildern usw. voraussichtlich zu Fall bringen, bevor der Inhalt Schaden anrichten könnte. Im Gegensatz dazu bedarf es kaum eines Trainings, fernsehen zu können. Selbst Kleinkinder, die von einem Buch allenfalls als Wurfobjekt Gebrauch machen könnten, sind bereits in der Lage, audiovisuelle Medien zu erleben. Der Zugriff zum Fernsehen vollzieht sich nicht schrittweise. Man muss nicht etwa Anfängerprogramme sehen, um Sendungen für Fortgeschrittene zu verstehen. Daher sind prinzipiell alle Mitglieder einer Gesellschaft fähig, das selbe zu sehen, unabhängig von Alter oder Bildungsstand und tatsächlich zählten die ‚Muppets-Show’ und ‚Dallas’ im Jahre 1980 zu den populärsten Programmen im amerikanischen Fernsehen bei allen Altersgruppen[2]. Sendeanstalten, die bekanntlich von Einschaltquoten abhängen und somit existenzbedingt daran interessiert sind, ein möglichst breites Publikum zu erreichen, machen sich dieses Phänomen zu nutzen. Selbst hochkomplexe Zusammenhänge werden Otto-Normalverbraucher-freundlich verpackt, wobei die Beiträge teilweise so weit von der Realität abstrahieren, dass sie kaum mehr als „Informations-Brocken“[3] darstellen – ein Befund, den auch Openkör aufgreift: „Das wirre und unverdaubare Gewächs der Wirklichkeit – nun ist es elektronisch portioniert und geistig kaubar zubereitet.“[4] Bücher behandeln die gleichen Themen hingegen sehr viel differenzierter und ausführlicher, erreichen dadurch allerdings ein weitaus kleineres Publikum. Ein Magazin wie ‚Galileo’ verschafft innerhalb weniger Minuten Millionen von Zuschauern einen groben Überblick über die Evolutionstheorie, kratzt dabei jedoch eher an der Oberfläche. Ein Fachbuch wird voraussichtlich sehr viel tiefer gehen, der enorme Schwierigkeitsgrad der Informationsvergabe macht das Wissen aber nur einem verhältnismäßig kleinen Kreis von Experten zugänglich.

Bücher sind meist für eine ganz spezielle Gruppe von Rezipienten angelegt. Es gibt Kinderbücher, Bastelbücher, Literatur für Frauen oder für Männer und in der Regel bleibt der Inhalt allein denen vorbehalten, für die er gedacht ist. Eindringlinge sind nicht zu erwarten, denn lesend begibt man sich nur selten auf unbekanntes Terrain. Die Gründe liegen auf der Hand: Nicht nur die Wahl eines Buches ist mit Kosten und einem gewissen Zeitaufwand verbunden, auch die Lektüre selbst erfordert Energie. Das Buch wird zu einem Bestandteil der Persönlichkeit. Man nimmt es mit nach Hause, setzt es den Blicken seiner Besucher aus, wird zwangsläufig damit identifiziert. Daher sucht man in der Regel Bücher nicht wahllos aus, sondern fügt nur solche Titel seinem Besitztum hinzu, die ohnehin im jeweiligen Interessengebiet anzusiedeln sind. Experimente sind die Seltenheit. Die Folge ist ein Austausch zwischen Teilen der selben Bevölkerungsschicht, was die jeweilige Gruppenidentität nur verstärkt.

Im Fernsehen fischt man jedoch viel eher auch mal in fremden Gewässern. Das Risiko, die gewohnte Informationswelt zwischen zwei, drei Werbeblöcken zu verlassen, ist gering. Sobald die Kosten für das Gerät einmal geleistet sind, ist es irrelevant, was oder wie viel man sieht. Die Sendungen hinterlassen kaum eine Spur. Sie kommen und gehen, ohne dass ein Beweis, dass man sie gesehen hat zurückbleibt. Während die Anschaffung eines Buches über Sexualpraktiken womöglich mit derartigen Peinlichkeiten verbunden ist, dass man darauf verzichtet, kann das gleiche Thema unbeobachtet im Fernsehen verfolgt werden, ohne später Rechenschaft ablegen zu müssen. Dies erklärt womöglich auch den enormen Anstieg verschiedener Erotik-Formate wie ‚Liebe Sünde’, ‚Wahre Liebe’ usw.

Man muss nicht einmal seine momentane Situation verlassen, um fernzusehen. Während man bügelt, Vokabeln lernt oder mit dem Hund spielt, dringen die Informationen wie selbstverständlich auf einen ein, ohne dass es besondere Mühe kostet, sie zu entschlüsseln.

In mancher Hinsicht muß man gedruckten Botschaften „nachjagen“, während elektronische Botschaften uns erreichen und „einfangen“.[5]

All diese Faktoren erklären, warum die Wahl des Fernsehprogramms viel weniger selektiv ist. So zappt auch Dupek offenbar willkürlich durch die Fernsehlandschaft, ohne Berichte über Seinesgleichen zu bevorzugen.

Nun ja, ein gezieltes Drücken der Tasten war es ohnehin nicht mehr, eher ein wildes Herumkneten, das einen aberwitzigen Programmwechsel zur dauerhaften Folge hatte. Freilich entspricht das seiner Gemütslage. Nur bei Sportübertragungen schafft Dupek es noch, einer Sendung über einen längeren Zeitraum die Treue zu halten.[6]

Fernsehend ist man also viel eher bereit, einen Blick in Themenbereiche zu riskieren, die im Grunde fern ab der Grenzen des persönlichen Horizontes liegen. Ein Buch über Swingerclubs wird wahrscheinlich nur von Menschen gekauft, die sich bereits stark dafür interessieren. Wird das gleiche Thema aber bei ‚Arabella’ diskutiert, sehen auch Menschen zu, die noch nicht einmal wissen, was ein Swingerclub ist - ohne dabei beobachtet zu werden. Und selbst wenn plötzlich jemand hereinkommt und sie auf frischer Tat ertappt, gibt es keinen Grund, sich zu rechtfertigen. Denn anders als bei Büchern, übernimmt man keine Verantwortung für das, was man sieht. Fernsehen ist neutrales Terrain.

Das Fernsehen macht einen also mit Bevölkerungsschichten außerhalb der eigenen Lebenswelt vertraut. Der Fremde wirkt auf einmal nur noch halb so fremd, wenn er beim Abendbrot vor dem heimischen Gerät zu einem spricht.

In dieser Hinsicht dient das Lesen oft dazu, die eigene Realität zu bestärken und klarer herauszuarbeiten, das Fernsehen jedoch wird eingesetzt als Mittel, externe Realität widerzuspiegeln und sich darüber zu vergewissern.[7]

[...]


[1] McLuhan, Marshall: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Bonn/ Paris: Addison-Wesley 1995. S. 39.

[2] Vgl. Meyrowitz, Joshua: Die Fernsehgesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter. Weinheim/ Basel/ Beltz: Psychologie heute 1987. S. 65.

[3] Meyrowitz 1987 : 67.

[4] Hartmann, Heiko Michael: MOI. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999. S. 115.

[5] Meyrowitz 1987 : 70.

[6] Hartmann 1999 : 120.

[7] Meyrowitz 1987 : 74.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Fernsehsucht oder - Emanzipation? Joshua Meyrowitz' 'Die Fernsehgesellschaft' im Spiegel von Heiko Michael Hartmanns Roman 'MOI'
Hochschule
Universität Mannheim  (Neuere Germanistik II: Neuere deutsche Literatur und qualitative Medienanalyse )
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
21
Katalognummer
V58777
ISBN (eBook)
9783638528795
ISBN (Buch)
9783656780953
Dateigröße
436 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Aus der vorliegenden Hausarbeit entstand später eine Magisterarbeit, die mit einem Preis ausgezeichnet wurde, weshalb das Literturverzeichnis bereits umfangreicher ausfällt. hilfreich für jeden, der sich wissenschaftlich mit dem Thema "Fernsehen" beschäftigt
Schlagworte
Fernsehsucht, Emanzipation, Joshua, Meyrowitz, Fernsehgesellschaft, Spiegel, Heiko, Michael, Hartmanns, Roman
Arbeit zitieren
Magister Artium Sarah Stricker (Autor:in), 2002, Fernsehsucht oder - Emanzipation? Joshua Meyrowitz' 'Die Fernsehgesellschaft' im Spiegel von Heiko Michael Hartmanns Roman 'MOI' , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58777

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