Kaum eine Biographie Thomas Bernhards, die ganz darauf verzichtet, die eine oder andere der zahlreichen Anekdoten anzubringen, die um kleinliche Skandale, um versteckte oder offene Beleidigungen, um Bezichtigung und Brüskierung durch Thomas Bernhard kreisen; kaum eine, die nicht davon berichtet, wie der verschrobene Dichter sich vor Besuch in einem seiner Häuser verschanzt oder ihn zuweilen ganz flieht. Und zweifellos tragen solche Darstellungen heute nicht unwesentlich zur Fixierung des Mythos Thomas Bernhard bei. Im Gestus des totalen Vorwurfs ist eine Bosheit aus Notwehr, eine Abwehr aus einer tiefen Verletzung heraus gerechtfertigt, so will man uns glauben machen. Dieses bernhardsche Verhältnis oder Missverhältnis zu seinen Mitmenschen soll in dieser Arbeit genauer betrachtet, überprüft, gegebenenfalls erweitert oder korrigiert werden. Das soll am Beispiel einer besonderen Form zwischenmenschlichen Miteinanders geschehen, am Beispiel von Freundschaft. Bestimmte ihrer Eigenschaften, so die These, sind eine Konstante im Werk Thomas Bernhards. Und so oft er sich verschlossen, abweisend, unfreundlich, ja schroff gibt, so zahlreich sind die Bezüge in seinen Schriften zum Thema Freundschaft, so bedeutend sind ihm die Freunde, dass er sie und seine Beziehung zu ihnen, immer wieder behandelt. Aus einem Zwang zur Beschränkung wird sich diese Arbeit auf zwei autobiographische Texte, „Wittgensteins Neffe“ und „Ja“ konzentrieren, beide Innenansichten von Freundschaft, wobei erstere Erzählung den Untertitel „Eine Freundschaft“ trägt, letztere, „Ja“, die bernhardsche Beziehung zum langjährigen Freund Karl Hennetmair zum Gegenstand hat. Nicht nur im Zusammenhang mit ihr, wird der Bericht eben jenes Karl Hennetmair, „Ein Jahr mit Thomas Bernhard“, interessant, als er sowohl Äußerungen Bernhards, als auch Einschätzungen Hennetmairs zum Themenkomplex enthält. Darüber hinaus ermöglicht das „versiegelte Tagebuch“ Hennetmairs, der keinen literarischen Effekt beabsichtigt, wenn auch erzielt hat, den Abgleich von Fiktion und Realität. Dabei werden Probleme des Lesens autobiographischer Literatur bedeutsam, wie sie in der Vermengung von Autor, Erzähler und Figur auftreten. Die Arbeit hält aber an der gemeinsamen Besprechung fest, in der Hoffnung, dass die Möglichkeit widerseitiger Ergänzung und Entsprechung, beruhend auf einem Konzept von Freundschaft bei Thomas Bernhard, das sich in Leben und Werk äußert, die Risiken der Verwechslung rechtfertigt. [...]
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Freundschaft als lebenserhaltende Maßnahme
- Die nützliche Freundschaft
- Die einseitige Freundschaft
- Freundschaft als Bedrohung von Freiheit
- Analogisierung
- Kontrastierung
- Thomas Bernhard, Scheusal
- Isolation
- Schuldig werden an der Freundschaft und ihrem Zerbrechen
- Das Scheitern von Freundschaft
- Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht das Konzept der Freundschaft im Werk Thomas Bernhards, insbesondere in den autobiographischen Texten „Wittgensteins Neffe“ und „Ja“. Sie beleuchtet Bernhards ambivalentes Verhältnis zu seinen Freunden, die er sowohl als lebenswichtige Stützen als auch als potenzielle Bedrohungen seiner Freiheit wahrnimmt. Die Arbeit verfolgt das Ziel, Bernhards komplexe Sicht auf Freundschaft zu analysieren und in den Kontext seiner Biografie und seines Werkes einzubinden.
- Die Bedeutung von Freundschaft für Bernhards Lebenserhaltung und psychisches Wohlbefinden
- Die Nutzbarmachung von Freundschaft und die Bewertung von Beziehungen nach Erwägungen des Nutzens
- Die Ambivalenz von Freundschaft: Lebenswichtige Stütze und Bedrohung von Freiheit
- Die einseitige Natur von Bernhards Freundschaften und seine tendenziell distanzierte und kritische Haltung gegenüber seinen Mitmenschen
- Die Rolle von Freundschaft im Zusammenhang mit Bernhards Isolation und seinem Selbstbild
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik ein und erläutert die besondere Relevanz von Freundschaft im Werk Thomas Bernhards. Der Fokus liegt auf zwei autobiographischen Texten, "Wittgensteins Neffe" und "Ja", die beide Einblicke in Bernhards Freundschaftsbeziehungen bieten. Kapitel 2 analysiert die lebensrettende Funktion von Freundschaft in Bernhards Leben, während Kapitel 3 die nützliche Komponente von Freundschaftsbeziehungen untersucht. Kapitel 4 befasst sich mit der einseitigen Natur von Bernhards Freundschaften und den möglichen Gefahren, die sie für seine Freiheit darstellen.
Schlüsselwörter
Die Arbeit konzentriert sich auf die Themen Freundschaft, Autorschaft, autobiographische Literatur, Thomas Bernhard, "Wittgensteins Neffe", "Ja", Karl Hennetmair, Isolation, Ambivalenz, Nutzbarkeit und Freiheit.
- Arbeit zitieren
- André Weikard (Autor:in), 2006, Freundschaft bei Thomas Bernhard, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58821