Wer bin Ich? Essay zur Identitätsentwicklung im Jugendalter


Essay, 2018

8 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe

Teil 1 – Jugend und Identität: Einführung in die Begrifflichkeiten

Wer bin ich? Was will ich mit meinem Leben anfangen? Welche Werte sollen mein Leben bestimmen? Woran glaube ich? Auf all diese und weitere Fragen versuchen die Heranwachsenden in ihrer Jugend möglichst viele Antworten zu finden, um eine individuelle Identität zu entwickeln. In der vorliegenden Abhandlung soll es im ersten Teil darum gehen, grundlegende Begriffe und Konzepte zu erläutern. Dabei wird neben den Begriffen Adoleszenz und Identität auch der Identitätsstatus nach Marcia thematisiert. Diese theoretischen Ausführungen bilden die Grundlage für den zweiten Teil des Essays. In diesem wird untersucht, inwiefern die Institution Schule zur Identitätssuche und Identitätsfindung beiträgt. Ermöglicht das Klassenzimmer eine gänzlich freie Entfaltung der Jugendlichen oder wirkt es hemmend?

Aus psychologischer Sicht ist das Jugendalter die Zeit, in der ein Mensch vom Kind zum Erwachsenen heranwächst. Der Fachbegriff hierfür lautet Adoleszenz (von lat. adolescere = heranwachsen). Die Adoleszenz startet mit Beginn der Pubertät, also der biologisch-geschlechtlichen Reifung, und endet mit dem Eintritt in eine sogenannte „erwachsene Lebenssituation“, beispielsweise durch das Erreichen beruflicher Selbstständigkeit oder der Loslösung vom Elternhaus. Selbstredend ist, dass dieser soeben beschriebene Prozess in verschiedenen Kulturen von sehr unterschiedlicher Dauer ist. Auch zwischen den Individuen innerhalb des gleichen Kulturkreises gibt es enorme Unterschiede.1 Generell unterteilen Entwicklungspsychologen die Adoleszenz in 3 Phasen: die frühe, mittlere und späte Adoleszenz. Die frühe Adoleszenz, markiert durch die Pubertät, verläuft ca. vom 10. bis zum 13. Lebensjahr. Die zweite Phase verläuft ca. vom 14. bis zum 16. Lebensjahr und ist durch die Herausbildung eines jugendlichen Erscheinungsbildes (Kleidung, Frisur, Lebensstil) gekennzeichnet. Die späte Adoleszenz wird als Übergang in das Erwachsensein beschrieben und dauert vom 17. bis zum 20. Lebensjahr. Geprägt ist diese Phase unter anderem von Berufsorientierung, der Übernahme ökonomischer Verantwortung und der Perspektive auf eine Lebenspartnerschaft. Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik H. Erikson führte mit der sogenannten Postadoleszenz eine weitere vierte Abstufung ein. In dieser Phase gilt das Individuum als psychologisch, sozial und politisch erwachsen, ist jedoch wirtschaftlich noch von anderen Erwachsenen abhängig.2

Neben dem Adoleszenzbegriff spielt in diesem Aufsatz die Identität eine wichtige Rolle. Ganz allgemein betrachtet versteht man unter ihr die einzigartige Kombination von persönlichen, unverwechselbaren Daten eines Individuums wie sein Alter, Name und Geschlecht. Das Modewort „Identität“ ist sozusagen aus einer engeren entwicklungspsychologischen Bedeutung ausgeweitet und auf alle Lebensbereiche des Menschen überdehnt worden: Partnerschaft, Milieu, Gesellschaft und Geschichte. Versucht man also den Begriff der Identität näher zu bestimmen, so muss man berücksichtigen, dass sich dieser sowohl auf die Person als auch auf seine historische Lebenswelt bezieht. So geht es bei der Identitätsentwicklung um die Realisierung ganz bestimmter Punkte: Gestaltung des Lebens mit Hilfe deutlicher Selbstbestimmung und Selbstkontrolle, Zentrierung der verschiedenen Einstellungs- und Verhaltenstendenzen oder die Verwirklichung eigener Wesenszüge zu einem Selbstprofil.3 Die soeben gemachten Ausführungen lassen sich demnach aus psychologischer Sicht wie folgt zusammenfassen. Identitätsentwicklung beschreibt, dass sich ein Mensch seines Charakters beziehungsweise seiner Position in der Welt bewusst wird. An dieser Stelle ist es unerlässlich beide Begriffe (Jugend und Identität) in Verbindung zu setzen. Für Erikson stellt die Adoleszenz die essentielle Phase dar, in der ein Individuum seine soziale Rolle festigen muss. Die tatsächliche endgültige Festigung (consolidation) der Identität findet laut Erikson jedoch erst während der späten Adoleszenz statt. Einzelne Fähigkeiten und Überzeugungen werden in ein einheitliches System zusammengefügt und das Individuum bekommt einen Sinn für Kontinuität, der Vergangenheit und der Zukunft integriert. Erst an dieser Stelle beginnt das Erwachsensein.4

Zum Abschluss des ersten Teils wird nun der Identitätsstatus nach Marcia erläutert. Auch wenn es kaum möglich ist die komplexen Zusammenhänge des Konzepts auf diesen kleinen Umfang herunterzubrechen, so kann der Ansatz des amerikanischen Entwicklungspsychologen James Marcia an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Marcia hat ein Konzept des bereits erwähnten Entwicklungspsychologen Erikson zur Identitätsentwicklung weiter ausdifferenziert. Er teilte dabei Identität in vier Stadien ein (Identitätsstatus), wobei die einzelnen Stati nicht über Inhalte, sondern vielmehr über die Prozessvariablen „Eingehen von Bindungen“ und „Exploration von Alternativen“ bestimmt werden. Inhaltlich beruht das Modell auf den Bereichen Berufsauswahl, religiöse Überzeugungen und politische Ideologien. Der Bereich Sexualität wurde hingegen erst später zugefügt.5 Desweiteren ist wichtig zu erwähnen, dass es nach Marcia drei zentrale Dimensionen des Identitätsstatus gibt: Krise als erste Dimension beschreibt das Ausmaß an Unsicherheit und Beunruhigung in einem Bereich. Verpflichtung meint den Umfang von Engagement und Bindung in einem Lebensbereich und Exploration beschreibt das Ausmaß an Erkundung eines Bereichs mit dem Ziel einer verbesserten Orientierung. Die vier Identitätsstadien sind demnach durch das Ausmaß der Festlegung in den Lebensbereichen, sowie durch das Ausmaß der Exploration in diesen geprägt. Die vier Identitätszustände nach Marcia sind Folgende: diffuse Identität (keine Festlegung auf Werte oder Berufe), übernommene Identität (Festlegung auf Werte oder Berufe, die von Eltern ausgewählt wurden), Moratorium (aktuelle eigenständige Auseinandersetzung mit Wert- und Berufsfragen) und erarbeitete Identität (Festlegung auf Berufe und Werte, die selbst ausgesucht wurden). Helmut Fend übersetzte diese Zustände mit den Begriffen Diffuse, Festgelegte, Suchende und Entschiedene.6

Teil 2 – Identitätsentwicklung in der Schule: Förderung oder Hemmung

Nach den theoriegeleiteten Ausführungen im ersten Teil, soll der Blick nun auf die Institution Schule gerichtet werden. Für mich als angehende Lehrperson ist die Frage nach der Rolle von Schule im Entwicklungs- und Selbstfindungsprozess eines Heranwachsenden von immenser Bedeutung. Inwiefern kann ich mein eigenes pädagogisches Handeln bestmöglich auf auf die sich noch ausbildende Individualität eines jugendlichen Schüler-Selbst anpassen?

In unserer heutigen Zeit gilt Schule mehr denn je als interaktiver Sozialraum und Ort kommunikativen Handelns. Eben diese kommunikativen und sozial-interaktiven Handlungsprozesse, die an der Herstellung eines sozialen Bewusstseins beteiligt sind, gibt es in der Institution Schule jeden Tag zu beobachten. Schulausflüge, Pausengespräche und der Unterricht selbst sorgen Tag für Tag dafür, dass SuS an Handlungs- und Interaktionspraktiken teilnehmen.7 Gerade in Zeiten von Ganztagsschulen stellen eben jene für die Jugendlichen den Hauptort ihres Heranwachsens und Alltags dar. Viele SuS verbringen mehr Zeit mit Mitschülern und Mitschülerinnen als mit den eigenen Eltern. Genau diese Tatsache erklärt, dass Schule aus sozialer Perspektive als Ort des Aufwachsens und der Entwicklung zu bezeichnen ist. Jeden Schultag tauscht man sich mit MitschülerInnen über Erlebtes aus, man schließt Freundschaften und manch einer trifft auf die erste Liebe. Darüber hinaus fungiert die Schule als sogenannter Kulturraum. Sie bietet den Raum für eine Ich-Andere-Auseinandersetzung, als auch für Vergemeinschaftungen und Kollektivierungen.8 Hinlänglich bekannt ist hierbei der aus dem Englischen stammende Begriff der Peer-Groups. SuS entscheiden also selbstständig über ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schulkultur, im Umkehrschluss entscheiden sie damit aber auch über Abgrenzungen zu anderen Gruppen. Liest man all diese Ausführungen über die Rolle der Schule für die Identitätsentwicklung Jugendlicher, so kann man schnell zu einem positiven Fazit gelangen. Im Idealfall sieht es demnach so aus, dass das jugendliche Selbst in und durch die Schule dazu befähigt wird, bestimmte Werte zu übernehmen und zu reproduzieren. Fraglich ist jedoch, ob die Institution Schule all diesen Funktionen tatsächlich gerecht werden kann.

Grundsätzlich werden drei Funktionen schulischer Sozialisation unterschieden: die Qualifikationsfunktion, die Selektions- und Allokationsfunktion und die Legitimations- und Integrationsfunktion. Im Zuge des Themas Identitätsentwicklung ist vor allem die Legitimations- und Integrationsfunktion von Bedeutung. Laut Fend zielt diese Funktion darauf ab, die SuS in einer Weise zu beeinflussen, dass sie sich gemäß den Forderungen der bestehenden politischen Verhältnisse zu verhalten haben. Es werden demnach also Normen und Werte vermittelt, die die Ausprägung eines bestimmten Sozialcharakters zur Zielsetzung haben. Zwar findet keine explizite Unterweisung gesellschaftlich gewünschter Werte innerhalb des Unterrichts statt, dennoch erfolgt eine solche Unterweisung in der Schule selbst.9 Der Begriff, welcher an dieser Stelle genannt werden muss, ist der des „heimlichen Lehrplans“. Dieser beinhaltet verschiedene Punkte, die zu sozialer Verhaltenskonformität führen sollen. Jürgen Zinnecker benannte folgende vier Mechanismen, die auf die SchülerInnen wirken und die curricularen Standards unterwandern: Hierarchische Ordnung, Leistungsbezogene Konkurrenz, Sprachliche Normierung und Maskierung. Zusammen lassen sich die hierarchische Ordnung und die Aneignung von Unterordnungsbereitschaft erklären, da man erwartet, dass sich die SchülerInnen in das System von Unter- und Überordnung eingliedern und die übergeordnete Rolle der Lehrperson akzeptieren. Dazu gehört ebenfalls, eine spezifisch geordnete Lebensführung anzuerkennen und von sich aus aktiv zu praktizieren. Damit erreicht man die Anpassung der SchülerInnen an die Gesellschaft und die dort vorherrschenden Pflichten und Normen, denn laut Zinnecker ist erfolgreiches Handeln nur möglich, wenn die Akteure sich selbst zwingen, die normativen Vorgaben einzuhalten. Zusammengefasst heißt das also, dass durch den heimlichen Lehrplan bestimmte Rollenverteilungen in der Schule fest verankert sind. Doch nicht nur an dieser Stelle stößt die freie Entfaltung des Individuums an seine Grenzen. Auch bei der Unterrichtsplanung sind die SuS nur in seltenen Fällen involviert. Es ist in der Regel die Lehrperson, die den zeitlichen Rahmen vorgibt und darüber entscheidet, welche Themengebiete behandelt werden.10

Was bedeuten die gewonnenen Erkenntnisse letztendlich für die Identitätsentwicklung eines Schülers oder einer Schülerin. Gerade im letzten Absatz konnte durchaus der Eindruck entstehen, dass die Schule die Identitätsentwicklung Jugendlicher nicht fordert und fördert, sondern im Gegenteil eher einschränkt. Allein mit diesem Fazit wird man der Schule aber nicht gerecht. Zuallererst einmal muss erwähnt werden, dass die Institution Schule in puncto gesellschaftlicher und sozialer Strukturen im Laufe der letzten Jahrhunderte einen enormen Wandel vollzogen hat. So hat man sich innerhalb dieser Zeit Schritt für Schritt von einem befehlshaberischen, teilweise gewaltsamen Umgang mit den SuS verabschiedet und ist zu einer Demokratisierung und Liberalisierung des Klassenzimmers übergegangen.11 Ebenfalls gibt es in allen deutschen Bundesländern sogenannte Wahlpflichtfächer. Die SuS können sich ihren Stundenplan also in einem gewissen Maße nach ihren eigenen Vorlieben und Interessen gestalten. Darüber hinaus gibt es an vielen Schulen ein großes Angebot an sogenannten AG's, in denen sich SuS mit gleichen außerschulischen Interessen nach dem Unterricht treffen. Diese und weitere Maßnahmen unterstützen die freie Entfaltung der Jugendlichen zweifelsohne. Letztendlich war und bleibt es die wichtige Aufgabe jeder Lehrperson, die Identitätsentwicklung jedes einzelnen Schülers und jeder einzelnen Schülerin zu fördern, wobei bei jedem Individuum andere Umgangsweisen nötig sind, wenngleich dieser Anspruch ein sehr ambitionierter und idealistischer ist. Die Auseinandersetzung mit der Thematik regt mich als angehende Lehrkraft dazu an, den geheimen Lehrplan und das Thema Identitätsentwicklung bei Jugendlichen keineswegs zu unterschätzen und daher meine praktischen Handlungen in Bezug auf vermittelte Normen in der Schule kritisch zu überdenken und zu reflektieren.

[...]


1 Hampe, Julia; Schultz, Yvonne (2006): „Mein Selbst und ich – darf ich vorstellen?“ Identitätsentwicklung im Jugendalter. 2. Bd. Hildesheim. S.15

2 Ebenda. S. 16

3 Jaide, Walter (1993): Jugend und Identität. Betrachtungen. Stuttgart. S. 40.

4 Endrikat, Kirsten (2001): Jugend, Identität und sportliches Engagement. Berlin. S. 22 ff.

5 Ebenda. S. 24

6 Endrikat. S. 25

7 Hagedorn, Jörg (2014): Jugend, Schule und Identität. Selbstwerdung und Identitätskonstruktion im Kontext Schule. Wiesbaden. S. 58.

8 Ebenda. S. 60.

9 Fend, Helmut (1988): Sozialgeschichte des Aufwachsens. Bedingungen des Aufwachsens und Jugendgestalten im zwanzigsten Jahrhundert. Frankfurt am Main. S. 141.

10 Hackl, Bernd (2017): Vom heimlichen Lehrplan zur rekonstruktiven Schulkritik. In: Kraus; Budde; Hietge; Wulf (Hrsg.): Handbuch Schweigendes Wissen. Basel. S. 852.

11 Hackl. S. 855.

Ende der Leseprobe aus 8 Seiten

Details

Titel
Wer bin Ich? Essay zur Identitätsentwicklung im Jugendalter
Hochschule
Universität Rostock
Note
1,7
Autor
Jahr
2018
Seiten
8
Katalognummer
V589350
ISBN (eBook)
9783346175298
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pädagogik, Identität, Jugend und Identität, Identitätsentwicklung
Arbeit zitieren
Philip Sell (Autor:in), 2018, Wer bin Ich? Essay zur Identitätsentwicklung im Jugendalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/589350

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