Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Der Diskurs von Sex und Gender
2. Das dritte Geschlecht Indiens
2.1 Eigen-/und Fremdbezeichnung
2.2 Soziale Organisation und gesellschaftliche Akzeptanz
3. Religion, Ritual und Mythos
3.1 Westlicher Einfluss in der Moderne
3.2 Widerspruche der Identitatsbildung
4. Fazit
5. Anhang
5.1 Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In unserer westlichen Gesellschaft ist die Unterteilung der Geschlechter in Mann und Frau vollstandig integriert und selten hinterfragt worden. Umso kritischer fallen die Reaktionen auf alternative Geschlechterkonstrukte aus, wie sie zum Beispiel in Indien zu beobachten sind.Die Untersuchung dieses „dritten Geschlechts“ in Form der Hijras verdeutlicht den auftretenden Diskurs von Sex und Gender, welcher in der Ethnologie grundlegend behandelt wird. Heutige Gender-/ und Queer-Studien verandern Ansichten von Imitation, Performanz und Vielfalt des Geschlechts grundlegend. Die Hijras, sowohl im Fremd-/als auch Selbstverstandnis als „drittes Geschlecht Indiens“ bezeichnet, reprasentieren eine Vielfalt androgyner Gemeinschaften. Es handelt sich um einen Sammelbegriff fur Transsexuelle, Zwitter, Transvestiten oder Kastraten, welchen in Indien ein religioser Status innewohnt.
Im Rahmen dieser Hausarbeit soll diskutiert werden, wie die Hijras als drittes Geschlechterkonstrukt im gegenwartigen Indien ihre Identitat aufbauen, durch Rituale festigen und moderne Widerspruche rechtfertigen. Eine besondere Rolle spielt dabei der gegenwartige westliche Einfluss auf die indische Kultur, welcher die Hijras in einen Zwiespalt von Religion und Prostitution treibt. Wahrend meiner Analyse mochte ich besonders auf auftretende Widerspruche der normierten Geschlechterkonstrukte in Bezug auf sich selbst und die Hijras hinweisen. Zusammenhangend damit spielen die soziale Organisation und gesellschaftliche Akzeptanz eine wichtige Rolle in einem gelungenen Identitatsaufbau als Hijra. AbschlieBend diskutiere ich die Neudefinition der traditionellen Hijra-Rolle in Verbindung mit den sich wandelnden modernen, sozialen Strukturen der Gemeinschaft. Die Vielzahl der genutzten Quellen kommt aus dem Englischen, jedes Zitat wurde frei von mir ubersetzt. Des Weiteren fuhre ich einige Begriffe aus dem Hinduistischen ein, welche ich einmalig erlautern und wiederverwenden werde. Ich verzichte durch diese Erwahnung darauf, jedes Stelle einzeln zu kennzeichnen und bitte dafur um Verstandnis.
1.1 Der Diskurs von Sex und Gender
Innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte vollzog sich ein Wandel der Sichtweisen uber Sexualitat. Die Einteilung in dievom Westen bekannten zwei Geschlechter ist nicht mehr unbestritten. Mittlerweile gibt es eine Fulle von neuen Kategorien mit Geschlechterbezeichnungen, um die auftretenden Variationen erfassen zu konnen. Eine zutreffende Definitionvon „sex“ stellte Anne Fausto-Sterling heraus, als sie 1993 schrieb: „[Sex may be] a vast, innfinitly malleable continuum“. Sie fasste diejenigen, die sich zwischen den beiden Kategorien „Mannlich“ und „Weiblich“ bewegen, zu den Kategorien der intersexuellen Personen („Hermaprodites, male/female pseudohermaprodites“)1 zusammen. Zu diesen werden auch die Hijras („neither man nor woman“) gezahlt, in Sanskrit „ napumsaka“: “bereft of either a masculine or feminine nature.” Wie auch das grammatische Neutrum wird ohne ein Geschlecht definiert. Das dritte Geschlecht, „ trityaprakriti“ („ neither male nor female“) erscheint als ein Design, welches auf die Hijras zufriedenstellend zutrifft (Lal, Vinal, 1999, p. 130) .
Der Begriff „Sex“ definiert die biologisch sichtbare Kennzeichnung als Mann oder Frauund bietet sozusagen das Rohmaterial einer „Infrastruktur“. Das „Gender“ bildetein Individuum als Mann oder Frau in einer vorgegebenen Gesellschaft aus, umfasst auch deren psychosoziale Eigenschaften. Variationen treten besonders dort auf. Neue Personlichkeiten werden kreiert, indem eine „Superstruktur“ auf der Infrastruktur geschaffen wird2. Es handelt sich um eine philosophische Kategorie und meint nicht „what one is, but more fundamentally, is what one does“3. Der Begriff des „Gender“ trat erstmals in der ersten Halfte dieses Jahrhunderts auf, hervorgehoben durch den vorausgehenden Sex-Gender-Vergleich. In den 70ern wurde diese Diskussion in den sozialen Wissenschaften weitlaufig anerkannt. Der Diskurs verhalt sich in derselben Weise wie Diskurse uber das Biologische und das Sein oder Natur-Kultur- Uberscheidungen; vorhanden sind universale Kennzeichen, welche auch kulturell ubergreifend gefasst werden. Welche Kriterien ein Individuum zu welcher Geschlechterkategorie zuordnen, unterscheidet sich von Kultur zu Kultur.
Die normierten Geschlechterkonstrukte einer Gesellschaft bewegen sich in einem dynamischen Feld, in welchem Faktoren wie das eigene Geschlecht, die sexuelle Orientierung oder der eigene Status miteinander in Verbindung stehen. Alternative Gender fallen in diesem Feld besonders auf, wenn sie sich zuvor nicht schon in der Gesellschaft integriert haben. An die Hijras als drittes Geschlecht werden von der indischen Gesellschaft Rollenerwartungen gestellt, um ihrer Identitat und ihrem Gender gerecht zu werden. Diese zu erfullen widerspricht in gewissem MaBe dem Ziel, bestehende Geschlechterkonstrukte mitsamt anhaftender Vorurteile zu durchbrechen, um sich eine gesicherte, feste Identitat aufzubauen4. In anderen Kulturen finden transsexuelle Gemeinschaften „a continuum of masculinity and femininity, renouncing gender as aligned with genitals, body, social status and/or role“ (Bolin, pp. 447-8). Die starke auBerliche Anpassung der Hijras wurde von Schacht weiterfuhrend als „homosexual embodiment of the heterosexual“ zusammengefasst (Schacht, 2002, p. 163).
Wie Sex und Gender unterschiedlich performt werden untersuchte unter Anderem Judith Butler (Butler, 1990). Sie beschreibt Gender als kulturelle Fiktion, die sich zur naturlichen Art des Seins entwickelt5. Folgend definiert Butler Transvestiten als besondere Parodie der fixierten, normierten Konzeptualisierungen von Geschlechtern und stellt heraus, dass Gender durch Nachahmung und Angleichung ausgezeichnet ist6:„ [it] reflects the mundane impersonations by which heterosexually ideal genders are performed and naturalized.”7. Butlers Meinung nach verstarken und konkretisieren neue Geschlechterkategorien das Gesellschaftssystem, welches sie zu wandeln versuchen, um fur sich selbst und die imitierte Rolle einen anerkannten Platz in der Gesellschaft zu erhalten. Besonders die weibliche Nachahmung spezialisiere sich auf idealtypisches, stark ubertriebenes Verhalten, um Gender zu zelebrieren8. Durch die Erziehung und Sozialisation, die einer heterosexuellen Person in einer funktionierenden Gesellschaft zuteilwird, erlernt ein Junge typisch mannliches Verhalten und dessen Charakteristiken; ebenso, wie andersherum die Frau. Logischerweise wird fur das Gefuhl der Weiblichkeit/Mannlichkeit keine direkte Verbindung zu den Genitalien benotigt9. Die Hijras sind auf besondere Weise mit ihren Genitalien (oder den Kastrationsnarben) verbunden, was im Folgenden noch genauer herausgestellt werden wird.
2. Das dritte Geschlecht Indiens
Hijras sind Transsexuelle, Transvestiten, Eunuchen, Hermaphroditen, mannlichen Prostituierte und Kastraten mit einer rituellen/kulturellen Funktion. Es wird das Personalpronomen „sie“ gebraucht. Genau diese Varianz an Begriffen, mit denen man eine Hijra bezeichnen kann, wird eine groBe Rolle in ihrer Identitatsbildung spielen, die von Varianz gepragt ist. Es gibt viele Geschlechterkategorien, die unter diesem Begriff zusammengefasst werden; dies ist jedoch nur sehr unzutreffend ubersetzt. Versucht man eine zutreffendere westliche Definition des Wortes „Hijra“, so zahlt man sie in die Kategorie der Eunuchen und Hermaphroditen (kastriert biologische Manner und intersexuelle Manner). Die Kastration ist fur die Definition von groBter Wichtigkeit, da die meisten Hijras mit normalen, mannlichen Geschlechtsorganen geboren werden und sich freiwillig der Kastration unterziehen, um ein fester Teil der Hijra Gemeinschaft zu werden (Baksi, Sandeep, 2004, pp. 211-220). Weitestgehend lasst sich „Hijra“ auch mit „Eunuch“ ubersetzen, was meint: „not only to an individual who is physiologically incapable of engendering an offspring but also to one who has chosen to withdraw from worldly activities and thus refuses to procreate“. In Hindi ubersetzt bedeutet dies Sanyasi, jemand der freiwillig auf die Welt verzichtet (Ringrose, 1996, p. 86). Ihre (nicht biologischen) Vorfahren reichen weit in die mythische Vergangenheit Indiens, die gottliche Shiva wird als ihre Begrunderin gesehen. Herdt fasste in seiner Schrift American Anthropologist 1991 sehr treffend zusammen: „Combined man/woman is a powerful theme of Hindu [religion]”.
2.1 Eigen-/und Fremdbezeichnung
Die Hijras bilden nach ihrem Selbst-/und Fremdverstandnis das dritte Geschlecht Indiens, „geboren in einem mannlichen Korper und mit einer weiblichen Seele“ (Heidi Siller/Caroline Voithofer Nr. 2/2011, Seite 142). Auf der Basis von verschiedenen biologischen Korpern wird diese Personengruppe wie im vorherigen Kapitel zusammengefasst. O'Flaherty bezeichnete sie 1980 auch als „men minus men“, die sich durch die Verstummelung ihrer Genitalien zu anderen Geschlechterkategorien abgrenzen lassen. Die geschatzte Anzahl der Hijras liegt bei 50.0001.2 Millionen Personen10, die meist in den nordlichen Stadten Indiens leben. AuBerlich kleiden sie sich wie Frauen, tragen Saris, lange Haare, Schmuck, Ornamente und Make-Up11.Mit ihrem gesamten Auftreten reprasentieren Hijras Vielfalt, sie unterscheiden sich unter anderem hinsichtlich ihres Korpers (anatomisch mannlich/intersexuell, androphil) und ihrer sexuellen Orientierung. Nur wenige sind intersexuell geboren, meist unterziehen sie sich einer freiwilligen Kastration und Penektomie, um vollstandig in die Gemeinschaft der Hijras aufgenommen zu werden. Sie geben ihr sexuelles Verlangen auf, indem sie Penis und Hoden religios kastrieren. Ihrer Religion nach ergreift die Gottin Bahuchara von ihnen Besitz, wahrend dies von Statten geht (Cohen, 1995, p. 276).Sie identifizieren sich mit Bahuchara, erhalten ihre Macht und dadurch ihre speziell geduldete Rolle in der indischen Gesellschaft12. Sich selbst betrachten Hijras nach diesem Ritual als sexuell impotent, womit ihnen die Macht zur Segnung und Verfluchung gegeben wird. Auf Hochzeiten und Geburtszeremonien Segnungen auszusprechen bleibt somit den Hijras vorbehalten, welche schon fest in die Gemeinschaft integriert wurden.
Von der Gesellschaft werden sie meist ignoriert und gefurchtet; aber geduldet, solange sie unter sich bleiben. Mit provokanten Gesten und vulgaren Bemerkungen gleichen sie sich dem idealen Frauenbild in Indien nicht an, sondern gelten dann als erfolgreich, wenn sie als Hijra akzeptiert werden: „Als Manner konnen wir nicht leben, und als Frauen werden wir nicht akzeptiert“13. Mit ihrem bunten, lauten Auftreten fallen sie in der Offentlichkeit mutwillig auf, R. Syed beschreibt dieses Phanomen als „Hijra-Pride“14. Sie verstecken sich oder ihr Geschlecht nicht, sondern verdeutlichen ihren Korper und ihre Sexualitat im offentlichen Raum oder in zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie weisen somit rollenspezifisch mannliche und weibliche Charakteristiken auf. Wahrend sie Betteln oder im offentlichen Raum auftreten, klatschen sie oft und laut in die Hande; das Gerausch soll an zwei Korper beim Sex erinnern und an die Gabe, Fruchtbarkeit zu spenden, wenn die Hijra dafur ausreichend belohnt wird. Den Geschlechtsverkehr zwischen zwei Hijras bezeichnet man als homosexuell, den zwischen einem mannlichen Freier und einer Hijra als heterosexuell. Ein Freier, der sowohl mit Hijras, Frauen und Mannern Sex hat, ist trisexuell15.
Im Laufe ihres Lebens als Hijra ist es normal, dass diese anhand eines Rituals ihren Namen des Ofteren wechselt. Das Ritual der Namensanderung spielt eine groBe Rolle in einem Leben, in dem der soziale Status sich oft verandert. Die Veranderung des Namens stellt auch eine Veranderung der Hijra dar, die oft mit der Starkung einer neuen Identitat einhergeht. Betrachtet man die Figur der Hijra an sich, stellt sie eine visuelle Manifestation der Fiktion von Gender in ihrer Person dar. Manche nutzen freiwillig mannliche Attribute oder Namen, wenn sie uber sich oder mit anderen reden, meist werden sie jedoch gegen weibliche Namen eingetauscht. Alle behalten ihre mannlichen, harten Stimmen, wahrend sie Frauenkleider tragen und verstellen sie auch wahrend der Rituale nicht, um weiblicher zu klingen16. AuBerlich scheinen die Grenzen der Hijras gut gekennzeichnet und organisiert, doch innerlich herrschen dauerhaft Konflikte, wer eine „true“ (asli) oder „false“ (nakli) Hijra ist. Unterscheiden kann man die beiden Kategorien durch erkennbare Eingriffe am Korper (chirurgisch oder medizinisch), z.B. die Kastration, anhand der Haufigkeit der Namensanderung oder der (Un)Bestandigkeit von Beziehungen miteinander. Die Frage nach der Wahrhaftigkeit oder Falschheit von Hijras ist fur sie selbst sehr wichtig, um eine gesunde Identitat und deren Existenzen auszubilden17. Gilbert Herdt (1991) unterscheidet ebenfalls zwischen „real“ und „false“ Hijras, sowie zwischen „born“ und „made“ Hijras. Hier kommt wieder die groBe Vielfalt der Varianten ins Spiel, die das dritte Geschlecht Indiens verkorpern konnen. Um ein Ritual standesgemaB ausfuhren zu konnen, ist die Kastration als Zeichen der Impotenz notwendig; als „real“ Hijras bezeichnet Herdt folglich kastrierte, vollkommen in die Gesellschaft der Hijras aufgenommene Mitglieder. „Born“ Hijras werden als Hermaphroditen gekennzeichnet und kommen viel seltener vor als „made“ Hijras, auch Eunuchen genannt18.
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1 Fausto-Sterling, Anne, „The Five Sexes: Why Male and Female are not enough,” Sciences (March-April 1993); 20-21
2 Agrawal, Anuja, 1997, p. 273+ 274
3 West and Zimmermann, 1987, p. 140
4 Bakshi, Sandeep, 2004, p. 218
5 „[through] a repeated stylization of the body, a set of repreated acts within a highly rigid regulatory frame that congeal over time to produce the appearance of substance, [become] a natural sort of being” (Butler, 1990, p. 33).
6 Butler, 1991, p. 21
7 Butler, 1993, p. 231
8 Gagne, Tewksbury and McGaughey, 1997, p.478
9 Lal, Vinay, 1999, p. 119-120
10 Herdt, Gilbert,1991, p. 199-200
11 Siller, H.,/Voithofer, C.,Nr. 2/2011, Seite 142
12 Taparia, Swadha, 2011, p. 167-169
13 Arzte Zeitung Nr. 156 vom 05.09.2000, Seite 20
14 Siller, H.,/Voithofer, C., Nr. 2/2011, Seite 142
15 Siller, H.,/Voithofer, C., Nr. 2/2011, Seite 142
16 Baksi, Sandeep, Vol. 46, 2004, pp. 211-220
17 Saria, Vaibhav, 2015, p. 1
18 Herdt, Gilbert, 1991, p. 199-200