Der gängigen Lehrmeinung zufolge ist die Schrift „Über die Seele" ein Spätwerk des Aristoteles. Da zudem seine Aufzeichnungen für Vorlesungen an der Akademie vorgesehen waren, so ist damit zu rechnen, daß der Autor Gedanken aus anderen, früheren Werken immer wieder voraussetzen wird, auch ohne explizit auf diese hinzuweisen. Es scheint mir daher unerläßlich, der Untersuchung über die allgemeine Definition der Wahrnehmung den Grundgedanken der aristotelischen Philosophie vorauszuschicken. Stark vereinfacht läßt sich die Philosophie des Aristoteles in der Formel„Sein ist werden" bzw. „Sein istBewegung" zusammenfassen. Damit ist gemeint, daß alle natürlichen Dinge nach der Verwirklichung (energeia) ihres Wesens (ousia) streben. Dabei ist das Wesen der Dinge in der Materie zunächst nur der Möglichkeit (dynamis) nach angelegt; im Laufe der Entwicklung manifestiert sich das Wesen allmählich in der Form (eidos), die zugleich das Ziel (telos) der Entwicklung ist. An allem Seiendem (Werdenden) lassen sich also drei Strukturmomente finden, nämlich Beraubung, Materie und Form. Werden heißt bei Aristoteles also immer etwas werden, nämlich eine Veränderung (Umschlag) bezüglich Qualität, Quantität, Ort und Substanz. Ein Umschlag der Substanz vom potentiell zum wirklich Seienden meint das Werden im engeren Sinne. Alles Seiende (Werdende, Bewegte) wird bewegt von etwas, das immer etwas anderes ist als das Bewegte und dieses kann außerhalb oder innerhalb des Bewegten liegen. So trägt das Natürliche den Ursprung seiner Bewegung in sich selbst; wie die Ruder das Schiff, so bewegt die Seele den Körper. Anders verhält es sich bei künstlichen Dingen: der Handwerker wirkt als äußere Ursache auf den Stoff ein, um ihm zu einem bestimmten Zweck eine bestimmte Form zu verleihen.
Inhaltsverzeichnis
- Sein ist Bewegung
- Die allgemeine Definition der Sinneswahrnehmung
- Das Wahrnehmungsvermögen ist bloße Möglichkeit
- Der Wahrnehmungsvorgang ist reine Energie
- Bewegtwerden ist Leiden
- Die Theorie vom Wirken und Leiden
- Das Leiden beim Wahrnehmen
- Die Nähe zum common sense Realismus
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Hausarbeit befasst sich mit der allgemeinen Definition der Sinneswahrnehmung bei Aristoteles. Ziel ist es, die aristotelische Theorie der Wahrnehmung zu analysieren und ihre wichtigsten Aspekte darzustellen.
- Die Philosophie des Aristoteles: Sein ist Werden
- Die Definition der Wahrnehmung als Bewegung und Erleiden
- Die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungsvermögen und Wahrnehmung
- Die teleologische Naturauffassung des Aristoteles
- Die Verbindung zwischen der aristotelischen Wahrnehmungslehre und dem common sense Realismus
Zusammenfassung der Kapitel
1. Sein ist Bewegung
Dieses Kapitel stellt die Grundgedanken der aristotelischen Philosophie vor, insbesondere die Formel „Sein ist Werden“ oder „Sein ist Bewegung“. Es wird erklärt, dass alle natürlichen Dinge nach der Verwirklichung ihres Wesens streben und dass dieses Wesen in der Materie zunächst nur der Möglichkeit nach angelegt ist. Die Entwicklung des Wesens in der Form ist gleichzeitig das Ziel der Entwicklung.
2. Die allgemeine Definition der Sinneswahrnehmung
Dieses Kapitel befasst sich mit der allgemeinen Definition der Wahrnehmung bei Aristoteles, die als eine Umwandlung definiert wird, die auf einem Bewegtwerden und Erleiden beruht. Aristoteles argumentiert, dass das Wahrnehmungsvermögen nicht wirklich, sondern bloß möglich sein kann, und er verwendet die Analogie vom Brennbaren und dem Zündstoff, um diese These zu illustrieren. Das Wahrnehmungsvermögen benötigt einen Gegenstand, um aktiviert zu werden, und es wird die Theorie vom Wirken und Erleiden eingeführt.
Schlüsselwörter
Aristoteles, Sinneswahrnehmung, Wahrnehmungstheorie, Sein ist Bewegung, Werden, Möglichkeit, Wirklichkeit, Bewegung, Erleiden, Wahrnehmungsvermögen, common sense Realismus, teleologische Naturauffassung, Wirken, Leiden.
- Quote paper
- Werner Müller (Author), 1995, Die allgemeine Definition der Sinneswahrnehmung bei Aristoteles, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59149