Die EU-Osterweiterung und ihre Wirkungen auf das deutsche Sozialsystem


Hausarbeit, 2002

47 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

2 Vorbemerkungen

3 Der gemeinschaftliche Rechtsrahmen

4 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa
4.1 Ausformung europäischer Freizügigkeit
4.2 Zeitliche Abschnitte der Freizügigkeit

5 Soziale Sicherheit
5.1 Die soziale Sicherheit in Europa
5.1.1 Ausformung der sozialen Sicherheit
5.1.2 Personeller und sachlicher Anwendungsbereich
5.1.3 Grundprinzipien der Koordination
5.1.3.1 Gleichbehandlungsgrundsatz, Diskriminierungsverbot
5.1.3.2 Leistungsexport, Aufhebung der Wohnortklauseln
5.1.3.3 Leistungsaushilfe
5.1.3.4 Zusammenrechnung von Versicherungs-, Beschäftigungs- und Wohnzeiten
5.2 Das deutsche Sozialsystem
5.2.1 Beitrags- und steuerfinanzierte Systeme
5.2.2 Zugang zu den Systemen der sozialen Sicherung

6 Auswirkungen für Deutschland
6.1 Fiskalische Wirkungen
6.1.1 Einzelne Segmente der sozialen Sicherung
6.1.1.1 Gesetzliche Krankenversicherung
6.1.1.2 Gesetzliche Rentenversicherung
6.1.1.3 Arbeitslosenversicherung
6.1.1.4 Sozialhilfe
6.1.2 Strukturmerkmale der MOE-Migranten
6.1.2.1 Altersstruktur
6.1.2.2 Schul- und Berufsausbildung
6.1.2.3 Erwerbsstatus, Stellung im Beruf
6.1.2.4 Fertilität
6.2 Sozialpolitische Auswirkungen

7 Zusammenfassung

8 Anhang

9 Verzeichnisse
9.1 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
9.2 Literaturverzeichnis
9.3 Internetquellen

2 Vorbemerkungen

Die Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt ist sowohl für die Menschen der heutigen Europäischen Union (EU) wie auch für die der Beitrittskandidaten ein gewichtiger und somit viel diskutierter Aspekt der EU-Osterweiterung. Die Möglichkeit, in einem anderen Land zu arbeiten, ist für viele Menschen aus den Beitrittskandidaten-Ländern einer der unmittelbarsten Vorteile des EU-Beitritts. Die Freizügigkeit vermittelt die Hoffnung, an den westeuropäischen Arbeitsmarkt angeschlossen zu werden. Besser bezahlte Arbeitsplätze im Westen würden heimische Beschäftigungsprobleme abbauen helfen. Rücküberweisungen der Emigranten brächten Devisen und „Heimkehrer“ modernes Wissen und Know-How zurück ins Land.[1]

Doch insbesondere durch das Wohlstandsgefälle zwischen EU und den mittel- und osteuropäischen (MOE) Staaten, stellt für viele Menschen der EU die Osterweiterung eine Zunahme der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sowie insbesondere auch steigende Ausgaben für Sozialleistungen dar. Hiermit verbunden sind die Angst vor sinkenden Löhnen, vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und schließlich sinkender individueller Sozialleistungen.[2]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Wachstum der Bevölkerung aus den MOE-10[3] in der EU-15[4]

Diese Befürchtungen wer­den vor allem durch die unmittelbar angrenzenden Nachbarländer Österreich und Deutschland artikuliert. Betrachtet man die Zu­wan­derungsprognosen, so wer­den Österreich und Deutsch­land die wesentlichen Zielländer für die Migration darstellen (vgl. Abbildung 1). Auch wenn der Anteil der MOE-Staaten nur 5% an der Gesamtzahl aller Migranten aus Drittstaaten in der EU ausmacht, so arbeiteten jedoch im Jahre 1998 drei Viertel der MOE-Beschäftigten in Deutschland und Österreich, wobei auf Deutschland ein Anteil von ca. 57 % entfiel.[5]

Die Systeme der sozialen Sicherheit sehen sich nicht zuletzt in Deutschland steigenden Herausforderungen ausgesetzt. Neben einer allgemeinen Veränderung der relativen Arbeitsnachfrage[6] führen auch neue Familienstrukturen und die demographische Entwicklung[7] zu erheblichen Finanzierungsproblemen. Als einen der bedeutensten Faktoren für die Finanzierungsprobleme ist die hohe Arbeitslosigkeit zu nennen[8] – hierdurch kommt es zu ausbleibenden bzw. niedrigeren Einnahmen im Rahmen der beitragsfinanzierten Sozialversicherungssysteme und auch den staatlichen Transferleistungen steht nur noch ein geringeres Steueraufkommen gegenüber.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Bedenken hinsichtlich einer EU-Ost-erweiterung mit sofortiger und uneingeschränkter Arbeitnehmerfreizügigkeit verständlich. Mit dem Verweis auf obige Zuwanderungsprognosen und der gegenwärtigen Situation wird davon gesprochen, dass „(...) der deutsche Sozialstaat geradezu ein Magnet für Zuwanderer (...)“ sein wird, „(...) mit einem massenhaften Zuzug nach Deutschland (...)“ zu rechnen sei und dies „(...) zu existenziellen Gefährdungen der sozialen Sicherungssysteme Deutschlands (...)“ führen dürfte[9] (s. a. Abbildung 20 im Anhang, S. 34).

Es bleibt jedoch die Frage, ob diese „Thesen“ tatsächlich einer detaillierten Betrachtung aller wesentlichen Daten und Interdependenzen standhalten oder ob es sich vielmehr um „Worst Case“-Szenarien handelt – d. h. um Einschätzungen, denen weniger die Ergebnisse realistischer Prognosen, als vielmehr das rein formal juristisch Mögliche zu Grunde liegt. Um die möglichen (und realistischerweise zu erwartenden) Auswirkungen der EU-Osterweiterung für den deutschen Sozialstaat und seiner Haushalte einschätzen, und eine Diskussion um evtl. Übergangsfristen hinsichtlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit führen zu können, ist eine Würdigung von nationalem und europäischem Rechtsrahmen ebenso von essentieller Bedeutung, wie die Berücksichtigung demographischer und sozioökonomischer Fakten und Prognosen.

In der öffentlichen Diskussion nahezu völlig hinter die überwiegend fiskalischen Belange zurückgetreten, sind die sozialpolitischen Auswirkungen und Perspektiven durch die EU-Osterweiterung für Deutschland[10]. Auch diese nicht unwesentlichen Aspekte sollen schließlich ebenfalls kurz dargestellt werden.

3 Der gemeinschaftliche Rechtsrahmen

Seit dem Vertrag von Maastricht[11] stellt die Europäische Gemeinschaft (EG) nicht mehr nur die Zielausrichtung eines europäischen Integrationsprozesses, sondern vielmehr eine internationale Organisation eigener Art dar. Die EG ist ausgestattet mit eigenen Hoheitsrechten und einer von den Mitgliedstaaten unabhängigen Rechtsordnung, der sowohl die Mitgliedsstaaten als auch deren Angehörige unterworfen sind.[12] Zur Rechtsnatur sowie zum gemeinschaftlichen Rechtsrahmen der EG hat es bereits in den Jahren 1963 und 1964 zwei grundlegende Urteile des Gerichtshofes der EG gegeben. Danach ist aus dem E(W)G-Vertrag zu schließen, dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedsstaaten, sondern auch die einzelnen sind.[13] Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die in die Rechtsordnung der Mitgliedsstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Die Staaten haben dadurch, dass sie nach Maßgabe der Bestimmungen des Vertrags Rechte und Pflichten, die bis dahin ihren inneren Rechtsordnungen unterworfen waren, der Regelung durch die Gemeinschaftsrechtsordnung vorbehalten haben, eine endgültige Beschränkung ihrer Hoheitsrechte bewirkt, die durch spätere einseitige, mit dem Gemeinschaftsbegriff unvereinbare Maßnahmen nicht rückgängig gemacht werden kann.[14]

Das primäre Gemeinschaftsrecht findet sich als unmittelbar durch die Mitgliedstaaten geschaffene Rechtssätze in den Gründungsverträgen zur EG und EU (einschließlich der Anhänge, Anlagen und Protokolle sowie insbesondere späterer Ergänzungen und Änderungen) wieder. Seine nationale Wirkung entfaltet das europäische Primärrecht in Deutschland gem. Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz (GG) durch Ratifizierung.

Mit der Wahrnehmung primärrechtlicher Befugnisse durch die entsprechenden Gemeinschaftsorgane entsteht das sekundäre Gemeinschaftsrecht. Hier sind i. W. die beiden Rechtsakte der ‚Verordnung’ und der ‚Richtlinie’ aus Art. 249 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) von Bedeutung: Während die ‚Verordnung’ in jedem Mitgliedsstaat eine allgemeine und unmittelbare Geltung entfaltet, bindet die ‚Richtlinie’ nur den entsprechenden Mitgliedsstaat hin­sichtlich einer Zielerreichung. Eine Berechtigung oder Verpflichtung der ‚Unionsbürger’[15] erfolgt erst durch die nationale Umsetzung (vgl. Abbildung 2).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Gemeinschaftlicher Rechtsrahmen und nationale Anwendbarkeit bzw. Umsetzung in Deutschland

4 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Primärrechtliche Grundlage der Arbeitnehmerfreizügigkeit

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit hat eine enorme wirtschaftliche und soziale Bedeutung für den Gemeinsamen Markt. Für diesen ist die uneingeschränkte örtliche Wahl des Arbeitsplatzes neben einem ungehinderten Warenaustausch eine Grundvoraussetzung. Das Gewicht der Freizügigkeit der Arbeitnehmer wird auch dadurch deutlich, dass sich ca. 5 Millionen EU-Angehörige in einem anderen EU-Mitgliedstaat aufhalten (Stand 01.01.1999), wobei sich die Zahl der EU-Angehörigen in Deutschland auf 1,851 Millionen (dies entspricht 25,3 % aller Ausländer) beläuft.[16]

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist im Rahmen des freien Personenverkehrs Be­standteil der vier Grundfreiheiten der EU (vgl. Abbildung 3). Der Artikel 39 Abs. 1 EGV garantiert die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft und bestimmt in Absatz 2 die Abschaffung jedweder „(...) auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedsstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.“

Die weitere Konkretisierung der Freizügigkeitsgarantie erfolgt i. W. durch die Verordnungen (EWG) 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, (EWG) 1251/70 über das Recht der Arbeitnehmer nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats zu verbleiben sowie die Richtlinie 68/360/EWG zur Aufhebung der Reise und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedsstaaten und ihrer Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft.

4.1 Ausformung europäischer Freizügigkeit

Bereits durch die primärrechtliche Bestimmung des Art. 39 Abs. 3 EGV erhalten Arbeitnehmer das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben, sich hierfür im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen, sich während der Ausübung einer Beschäftigung in einem Mitgliedsstaat aufzuhalten und schließlich nach Beendigung der Beschäftigung (unter bestimmten Bedingungen) im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates zu verbleiben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Sekundärrechtliche Grundlagen der Arbeitnehmerfrei­zügigkeit

Durch die Verordnung (EWG) 1612/68 werden Zugang zur Beschäftigung, Ausübung der Beschäftigung und Gleichbehandlung sowie die Position von Familienangehörigen der Arbeitnehmer näher bestimmt. So sind z. B. hinsichtlich einer Wohnung gem. Art. 9 Abs. 1 VO (EWG) 1612/68 – einschließlich der Erlangung des Eigentums an der benötigten Wohnung, alle Rechte und Vergünstigungen wie bei inländischen Arbeitnehmern zu garantieren.

Um das Recht auf Freizügigkeit tatsächlich nutzen zu können, ist eine freie Einreise und ein freier Aufenthalt in den Mitgliedsstaaten notwendig. Zur Aufhebung von Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen innerhalb der Gemeinschaft dient die Richtlinie 68/360/EWG. Hierdurch sollen auf den nationalen Ebenen alle Maßnahmen getroffen werden, die den Arbeitnehmern der einzelnen Mitgliedsstaaten und ihren Familienangehörigen eine Ausübung der, durch die Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, zuerkannten Rechte und Befugnisse ermöglichen. Die Umsetzung dieser Richtlinie erfolgte in Deutschland durch das Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (AufenthEWGG). Hiernach wird Unionsbürgern sowie ihren Familienangehörigen die Einreise nach Deutschland zum Zwecke der Arbeitssuche gestattet (§ 2 Abs. 1 AufenthEWGG). In Deutschland beschäftigten Unionsbürgern wird auf Antrag eine fünfjährige Aufenthaltserlaubnis erteilt, bei der grundsätzlich ein Verlängerungsanspruch besteht (§ 3 AufenthEWGG). Soweit der Beschäftigte im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, wird Familienangehörigen ebenfalls eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, wenn ein angemessener Wohnraum zur Verfügung steht (§ 7 Abs. 1 AufenthEWGG).

Schließlich ergibt sich aus dem durch die Beschäftigung der Arbeitnehmer erworbenen Aufenthaltsrechts zwangsläufig das vom EGV anerkannte Recht, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats zu verbleiben (vgl. Art. 39 Abs. 3 Buchst. d EGV). Die Bedingungen unter denen dieses Verbleiberecht entsteht wird durch die Verordnung (EWG) 1251/70 geregelt. Hiernach kommt ein Verbleiberecht i. W. fünf Personengruppen zu: Arbeitnehmern, die das vorgeschriebene Alter für die Geltendmachung einer Altersrente erreicht haben, Arbeitnehmern die eine Beschäftigung in Folge von dauernder Arbeitsunfähigkeit aufgeben, Arbeitnehmern die eine Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines weiteren Mitgliedsstaats ausüben – ihren Wohnsitz jedoch im ersten Mitgliedsstaat beibehalten und dorthin regelmäßig zurückkehren (Grenzgänger) sowie Familienangehörigen und Hinterbliebenen von Arbeitnehmern [vgl. Art. 2 u. 3 VO (EWG) 1251/70].

Betrachtet man schließlich die primäre Rechtsgrundlage (Art. 39 EGV) unter temporären Gesichtspunkten, so lässt sich bei der Wahrnehmung der Freizügigkeitsrechte eine Abgrenzung von drei Zeitabschnitten erkennen. Eine solche Unterscheidung ist u. a. hinsichtlich sozialrechtlicher Bestimmungen von Bedeutung.

4.2 Zeitliche Abschnitte der Freizügigkeit

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Zeitabschnitte der Freizügigkeit gem. Art. 39 Abs. 3 EGV

Der Art. 39 Abs. 3 EGV unterscheidet die drei Zeiträume der Einreise und Arbeitssuche, der Beschäftigungsausübung sowie dem Ende der Beschäftigung mit einem sich ggf. anschließenden Verbleiberecht (vgl. Abbildung 5).

Während für die beiden Abschnitte der Beschäftigung und des anschließenden Verbleibens im Mitgliedsstaat umfangreiche Regelungen bestehen, existieren für die Einreise und Arbeitssuche weder primär- noch sekundärrechtliche Gemeinschaftsbestimmungen. „In einer unverbindlichen Erklärung des Rates wird von einer dreimonatigen Frist ausgegangen, innerhalb derer sich der Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat zum Zweck der Arbeitssuche aufhalten kann.“[17] Im deutschen Recht erfolgte die Festsetzung einer dreimonatigen Frist in § 8 Abs. 1 AufenthEWGG. Dem steht jedoch die Auffassung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) entgegen, der einen Zeitraum von sechs Monaten für angemessen erachtet.[18] Ausländerrechtliche Maßnahmen gegen Unionsbürger können auf Grund der Vorrangigkeit europäischer Vorschriften (und Rechtsprechung) somit erst nach dieser längeren Frist Anwendung finden.

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist eine der grundlegenden Freiheiten der EU. Neben den bereits genannten gemeinschaftlichen Verträgen wird der Stellenwert der Freizügigkeit ebenfalls noch durch die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (Sozialcharta)[19] sowie dem Rang im ‚Acquis communautaire’[20] unterstrichen. Damit eine faktische Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte nicht zu unmittelbaren sozialrechtlichen Nachteilen für den Arbeitnehmer und seiner Familie führen, existieren verschiedene Koordinierungsvorschriften für die verschiedenen nationalen Sozialsysteme der EU.

5 Soziale Sicherheit

5.1 Die soziale Sicherheit in Europa

Die Realisierung sozialer Absicherung zeigt in der EU die unterschiedlichsten Ausprägungen. Einerseits bestehen Volksversorgungssysteme, die der Gesamtheit der Bevölkerung einen Mindestschutz gegen die elementarsten Risiken des Lebens (z. B. Krankheit, Invalidität, Alter) bieten sollen. Andererseits existieren Versicherungssysteme, die typischerweise nur die Gruppe der Arbeitnehmer absichern.[21] Auch in der weiteren Ausgestaltung der Systeme lassen sich erhebliche Abweichungen erkennen, da die Konzeptionen auf einer reinen Armutsvermeidung oder aber einer Sicherung des Lebensstandards basieren können.[22] Schließlich gibt es gravierende Unterschiede hinsichtlich der Finanzierung: Beitragssysteme stehen Steuersystemen gegenüber; nicht selten findet man aber auch Steuerzuschüsse in Beitragssystemen[23] oder es gibt in steuerfinanzierten Systemen auch Beitragselemente (vgl. Abbildung 23 im Anhang, S. 36).

Diese Unterschiedlichkeit der sozialen Systeme lässt deutlich erkennen, dass für eine effiziente grenzüberschreitende soziale Absicherung der Arbeitnehmer eine Verzahnung der nationalen Systeme erforderlich ist.

5.1.1 Ausformung der sozialen Sicherheit

Auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit sind gem. Art. 42 EGV alle Maßnahmen zu beschließen, die notwendig sind um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer herzustellen. Insbesondere ist hierzu ein System einzuführen, das „(...) aus- und einwandernden Arbeitnehmern und deren anspruchsberechtigten Angehörigen Folgendes sichert:

a) die Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigten Zeiten (...);
b) die Zahlung der Leistungen an Personen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wohnen.“

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: Sekundärrechtliche Grundlagen der sozialen Sicherheit

Einschlägig sind hier die Verordnung (EWG) 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern und die hierzu ergangene Durchführungsverordnung (EWG) 574/72. Durch diese – für einige Sicherungszweige ausgesprochen komplexen – Regelungen soll sichergestellt werden, dass die Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit nicht zum Verlust oder zu Einbußen sozialer Sicherheit führt (vgl. Abbildung 6). Hinzu kommt die in ständiger Rechtsprechung des EuGH ausgestaltete Regelung des Art. 7 Abs. 2 VO (EWG) 1612/68 (vgl. hierzu 5.1.3.1 unten).

Im Mittelpunkt dieser verschiedenen Koordinierungsregelungen stehen die sozialen Leistungen und hiermit verbunden auch die Anspruchsvoraussetzungen, Anwartschaften, Wohn- und Versicherungszeiten usw. Bei der gemeinschaftlichen Abgrenzung des Begriffs der Leistungen (und Renten) wurde ein sehr weites Spektrum gewählt. Hiernach sind grundsätzlich auch jegliche Teile aus öffentlichen Mitteln mit allen Zuschlägen, Anpassungsbeträgen und Zulagen sowie Kapitalabfindungen und Beitragserstattungen unter dem Leistungsbegriff zu subsumieren [Art. 1 Buchst. t VO (EWG) 1408/71]. Letztlich ist es für den Einbezug von Leistungen ebenfalls unerheblich, ob diese auf beitragsfinanzierten[24], beitragsfreien[25] oder arbeitgeberfinanzierten[26] Systemen beruhen [Art. 4 Abs. 2 VO (EWG) 1408/71]. Inwieweit nun die gemeinschaftlichen Regelungen tatsächlich auf die Bandbreite bestehender Leistungen Anwendung finden, ist i. W. durch die Formulierung des personellen und sachlichen Anwendungsbereichs abgegrenzt.

5.1.2 Personeller und sachlicher Anwendungsbereich

Die Vorschriften der zu Art. 42 EGV ergangenen Verordnung (EWG) 1408/71 finden Anwendung auf alle Arbeitnehmer, Selbständigen und Studierenden, soweit für sie Rechtsvorschriften des Integrationsraumes gelten und sie Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates sind – sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene, auch wenn diese die Staatsangehörigkeit eines Drittstaates besitzen (Art. 2).

Nach Art. 4 Abs. 1 VO (EWG) 1408/71 sind alle Arten von Leistungen bei Krankheit, Mutterschaft, Invalidität, Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit, Alter, Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und Arbeitslosigkeit sowie Leistungen an Hinterbliebene, Familien und Sterbegeld zu berücksichtigen. Vom sachlichen Geltungsbereich sind nach Absatz 4 explizit die Sozialhilfe (in gemeinschaftsrechtlichem Sinne) sowie die Leistungssysteme der Kriegsopferversorgung ausgeschlossen. Der ausdrücklichen Ausgrenzung, z. B. der Sozialhilfe, steht jedoch auf individueller nationaler Ebene die Ausgestaltung grundlegender Prinzipien durch den EuGH entgegen. Dies hat dazu geführt, dass das jeweilige Verständnis der Mitgliedsstaaten von Sozialhilfe nicht mit dem im gemeinschaftsrechtlichem Sinne übereinstimmt (dies gilt insbesondere auch für Deutschland).

5.1.3 Grundprinzipien der Koordination

5.1.3.1 Gleichbehandlungsgrundsatz, Diskriminierungsverbot

Die abweichende Behandlung eines Arbeitnehmers, der die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedsstaates besitzt, ist gegenüber einem inländischen Arbeitnehmer nach Art. 7 VO (EWG) 1612/68 ausdrücklich verboten. Die Gleichbehandlung hat insbesondere hinsichtlich der Entlohnung, Kündigung, beruflichen Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung sowie in Hinblick auf die Gewährung steuerlicher und sozialer Vergünstigungen zu erfolgen[27]. „Nach ständiger Rechtsprechung sind unter ‚sozialen Vergünstigungen’ alle Vergünstigungen zu verstehen, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder ihres Wohnorts im Inland allgemein gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern. Nach der Rechtsprechung des EuGH zählen dazu etwa die Sozialhilfe, Fahrpreisermäßigungen für kinderreiche Familien und Wohn- und Ausbildungsbeihilfen.“[28] Dieses in Art. 7 Abs. 2 formulierte und durch den EuGH ausgefüllte Diskriminierungsverbot ermöglicht jedoch im Grundsatz keinen Export z. B. von Sozialhilfeleistungen.[29] Entgegen dem im Folgenden dargestellten Exportprinzip gilt hier das Wohnsitzlandprinzip.

5.1.3.2 Leistungsexport, Aufhebung der Wohnortklauseln

Für die Gewährung von Geldleistungen bei Krankheit, Mutterschaft, Invalidität, Alter, Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten, Tod und Arbeitslosigkeit gilt grundsätzlich das sogenannte Exportprinzip[30]. Bei Erfüllung aller (sonstigen) leistungsrechtlichen Voraussetzungen erhält ein Arbeitnehmer somit Geldleistungen vom zuständigen Träger in dem Staat, in dem der Arbeitnehmer seinen Wohnsitz bzw. Aufenthalt hat. Eine Kürzung, Änderung, Entziehung oder Beschlagnahme der Geldleistungen ist auf Grund des Wohnortes des Leistungsberechtigten nicht zulässig. Die Begründung dieser Äquivalenzregel lässt sich darin finden, dass der Erwerb eines Anspruchs in der Regel eine vorherige Entrichtung von Beiträgen zur Finanzierung des Systems verlangt und die Wohnsitzänderung nach Erwerb des Anspruchs keine zusätzlichen Lasten für den Leistungsstaat mit sich bringt.[31]

[...]


[1] vgl. Freudenstein/Tewes (2001, S. 1)

[2] vgl. Freudenstein/Tewes (2001, S. 1)

[3] MOE-10: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn

[4] EU-15: Die 15 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (in Abgrenzung zur „Eurozone“, EU-10) - vgl. DIW Wochenbericht 21 (2000, Tab. 5)

[5] vgl. z. B. Europäische Kommission (2001b, S. 43), Hönekopp (2000, S. 135)

[6] z. B. hinsichtlich der Qualifikationsstrukturen sowie der nachfragenden Wirtschaftssektoren

[7] vgl. z. B. IAB Kurzbericht Nr. 15 (2001, S. 2 ff)

[8] vgl. z. B. Bokeloh, Brinkmann, Ohndorf (2000, S. 10)

[9] Sodan (2002, S. 53, 54)

[10] Wahrnehmung u. Einschätzung d. Verfassers (a. d. Grundlage allg. Medien u. auch d. Fachliteratur)

[11] Gründungsvertrag der EU, unterzeichnet am 7.2.1992

[12] vgl. z. B. Borchardt (1999)

[13] vgl. Urteil d. EG-Gerichtshofs v. 5.2.63 i. d. Rechtssache 26/62: ‚Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz’, deutsche Ausgabe (S.d.R.) 1963, S. 3 (s. a. Abschn. 9.3)

[14] vgl. Urteil d. EG-Gerichtshofs v. 15.7.64 i. d. Rechtssache 6/64: S.d.R. 1964, S. 1.253 (s. a. Abschn. 9.3)

[15] vgl. Art. 17 EGV

[16] vgl. Bokeloh, Brinkmann, Ohndorf (2000, S. 134)

[17] Sinn (2001, S. 122)

[18] vgl. Sinn (2001, S. 123)

[19] „Jeder Arbeitnehmer der Europäischen Gemeinschaft hat (...) das Recht auf Freizügigkeit im gesamten Gebiet der Gemeinschaft.“, Artikel 1 der ‚Sozialcharta’ [European Treaty Series 1961 (ETS) No. 035 ]; die Sozialcharta ist im Rahmen des Europarats, als eigenst. intern. Organisation, entstanden und somit an sich nicht Bestandteil des EG-Rechts; vgl. z. B. Europarat (2000), Borchardt (1999); s. a. Abschn. 9.3.

[20] vgl. 2. Kapitel des Acquis communautaire (s. Abschn. 9.3., S. 45)

[21] vgl. z. B. Bokeloh, Brinkmann, Ohndorf (2000)

[22] vgl. z. B. Schneider (2000)

[23] z. B. in Deutschland i. R. der Rentenversicherung (vgl. § 153 Abs. 2 SGB VI)

[24] in Deutschland z. B. die Sozial- und Arbeitslosenversicherung (vgl. 5.2.1 )

[25] in Deutschland z. B. die Arbeitslosen- und Sozialhilfe (vgl. 5.2.1 )

[26] in Deutschland z. B. die gesetzliche Unfallversicherung, wie auch die Leistungsansprüche nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz (vgl. § 150 SGB VII u. §§ 2 Abs. 1 u. 3 Abs. 1 EntgeltfortzahlungsG)

[27] vgl. Art. 7 Abs. 1 u. 2 VO (EWG) 1612/68

[28] Sinn (2001, S. 130)

[29] vgl. Sinn (2001, S. 156)

[30] vgl. Art. 10 Abs. 1, 19 Abs. 1 Buchst. b, 52 Buchst. b u. 69 VO (EWG) 1408/71

[31] vgl. Sinn (2001, S. 132)

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Die EU-Osterweiterung und ihre Wirkungen auf das deutsche Sozialsystem
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal  (Wirtschaftswissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
47
Katalognummer
V5915
ISBN (eBook)
9783638136341
ISBN (Buch)
9783638696944
Dateigröße
2404 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
EU-Osterweiterung, Wirkungen, Sozialsystem
Arbeit zitieren
Heiko Heibel (Autor:in), 2002, Die EU-Osterweiterung und ihre Wirkungen auf das deutsche Sozialsystem, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/5915

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