Bernd Alois Zimmermann, am 20.3.1918 in der Nähe von Köln geboren, galt keineswegs als musikalisches Wunderkind. Erst nach und nach entdeckte er seine Berufung zur Musik und insbesondere zur Komposition. Trotz des Studiums der Schulmusik, das er nach Kriegsende fortsetzte und abschloß, betrachtete er sich bald ausschließlich als Komponist. Da aber die eigenen originalen Schöpfungen zu keinem Zeitpunkt eine finanzielle Unabhängigkeit einbrachten, war Zimmermann zeitlebens auf das Arrangement von Unterhaltungsmusik, die Produktion von Hörspielmusiken oder Lehrtätigkeiten an der Kölner Musikhochschule angewiesen. - Zweifelsohne haben wir es mit einem sehr grüblerischen Menschen zu tun, dessen emotionale und gedankliche Unruhe sich zu einer bedrückenden Last entwickelte. Die Neigung zu Melancholie und Depression gipfelte schließlich in einem schweren seelischen Zusammenbruch, welcher im Winter 1969/70 einen mehrmonatigen Aufenthalt in einer Nervenklinik erforderte. Anschließend konzentrierte Zimmermann seine letzte Kraft auf die Vollendung zweier Auftragswerke, der OrchesterskizzenStille und Umkehrund der ekklesiastischen AktionIch wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne.Kurz darauf, am 10.8.1970, nahm er sich im Alter von 52 Jahren das Leben. Seit dem hat sich das Werk Zimmermanns durchaus behaupten können, was sowohl die Reihe der in- und ausländischen Aufführungen seiner OperDie Soldaten,als auch die anhaltende Präsenz der Orchesterstücke in den Spielplänen zeigt. Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, einen Einblick in die widersprüchliche und spannungsreiche Welt des Komponisten zu gewähren. Ausgehend von grundlegenden geistigen, ästhetischen und kompositorischen Orientierungen, welche zuweilen durch biographische Informationen flankiert und kontrastiert werden, richtet sich der Fokus schließlich auf die Zeitproblematik als Schwerpunkt. Dabei geht es zunächst um ihre philosophischen Voraussetzungen, gefolgt von den Aspekten der musikalischen Umsetzung und einer exemplarischen Analyse des OrchesterstücksPhotoptosis,welche sich im wesentlichen auf die Untersuchungen von Irmgard Brockmann stützt. Auf allen Betrachtungsebenen begegnen wir überdies dem Gegensatz aus Einheit und Vielheit, der wie eine Art Leitfaden immer wieder mit unterschiedlicher Schärfe auftaucht und vielleicht ein Kernelement in Zimmermanns Universum darstellt.
I n h a l t
Einleitung
Zur Vielfalt geistiger Einflüsse
Verhältnis zur Darmstädter Schule
Kompositorische Entwicklung
Zimmermanns Zeitphilosophie und ihre Bezüge
Pluralistisches Komponieren
Zum Prinzip der Zeitdehnung
Photoptosis: Analyse zur Konkretion des Prinzips der Zeitdehnung und der Zitattechnik
Quellennachweise
Bibliographie
Einleitung
Bernd Alois Zimmermann, am 20.3.1918 in der Nähe von Köln geboren, galt keineswegs als musikalisches Wunderkind. Erst nach und nach entdeckte er seine Berufung zur Musik und insbesondere zur Komposition. Trotz des Studiums der Schulmusik, das er nach Kriegsende fortsetzte und abschloß, betrachtete er sich bald ausschließlich als Komponist. Da aber die eigenen originalen Schöpfungen zu keinem Zeitpunkt eine finanzielle Unabhängigkeit einbrachten, war Zimmermann zeitlebens auf das Arrangement von Unterhaltungsmusik, die Produktion von Hörspielmusiken oder Lehrtätigkeiten an der Kölner Musikhochschule angewiesen. - Zweifelsohne haben wir es mit einem sehr grüblerischen Menschen zu tun, dessen emotionale und gedankliche Unruhe sich zu einer bedrückenden Last entwickelte. Die Neigung zu Melancholie und Depression gipfelte schließlich in einem schweren seelischen Zusammenbruch, welcher im Winter 1969/70 einen mehrmonatigen Aufenthalt in einer Nervenklinik erforderte. Anschließend konzentrierte Zimmermann seine letzte Kraft auf die Vollendung zweier Auftragswerke, der Orchesterskizzen Stille und Umkehr und der ekklesiastischen Aktion Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne. Kurz darauf, am 10.8.1970, nahm er sich im Alter von 52 Jahren das Leben.
Seit dem hat sich das Werk Zimmermanns durchaus behaupten können, was sowohl die Reihe der in- und ausländischen Aufführungen seiner Oper Die Soldaten, als auch die anhaltende Präsenz der Orchesterstücke in den Spielplänen zeigt.
Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, einen Einblick in die widersprüchliche und spannungsreiche Welt des Komponisten zu gewähren. Ausgehend von grundlegenden geistigen, ästhetischen und kompositorischen Orientierungen, welche zuweilen durch biographische Informationen flankiert und kontrastiert werden, richtet sich der Fokus schließlich auf die Zeitproblematik als Schwerpunkt. Dabei geht es zunächst um ihre philosophischen Voraussetzungen, gefolgt von den Aspekten der musikalischen Umsetzung und einer exemplarischen Analyse des Orchesterstücks Photoptosis, welche sich im wesentlichen auf die Untersuchungen von Irmgard Brockmann stützt.
Auf allen Betrachtungsebenen begegnen wir überdies dem Gegensatz aus Einheit und Vielheit, der wie eine Art Leitfaden immer wieder mit unterschiedlicher Schärfe auftaucht und vielleicht ein Kernelement in Zimmermanns Universum darstellt.
Zur Vielfalt geistiger Einflüsse
Nur wenige Komponisten der Neuen Musik bewegten sich in einem so weitgefaßten geistigen Feld wie Bernd Alois Zimmermann. Seine Musik entstand als Teil einer intellektuellen Auseinandersetzung, welche sich auf Religion und Philosophie ebenso erstreckte wie auf Literatur und bildende Kunst. Etliche seiner Werke offenbaren bereits im Titel außermusikalische Anregungen. Daher empfiehlt es sich, zu Beginn die Grundlinien jener geistigen Welt aufzuzeigen, ohne die sein Werk weder denkbar noch verstehbar ist.
Wie ein roter Faden durchzieht insbesondere eine tief verankerte Religiosität sein Schaffen, die ihren Ursprung bereits im katholischen Elternhaus sowie in der Schulbildung hat. Dennoch stand Zimmermann der Religion zweigespalten gegenüber, begrüßte zwar einerseits die von ihr auferlegte asketische Disziplin als Gegengewicht zu seiner genußfreudigen Natur, mußte aber zugleich gegen die Enge ihres starren Verhaltenskodex rebellieren. Im Gegensatz etwa zu Anton Bruckner oder Olivier Messiaen fand er nicht zur Unbesorgtheit eines naiven, zweifelsfreien Glaubens. Vielmehr litt er am Widerspruch zwischen biblischer Theorie und einer zutiefst unchristlichen Realität.[i] Nach der Schreckenszeit der NS-Diktatur waren die Anklage gegen Gott sowie das Thema der Gottesferne, des ‚Deus absconditus’, allgegenwärtig, und sogar als Hintergrund zu Zimmermanns Suizid ist ein religiöser Konflikt nicht auszuschließen.[ii] Schon in seinem Tagebucheintrag vom 28.9.1945 klingt eine gewisse Niedergeschlagenheit darüber an, daß Gott als sicherer Halt und als Antwort auf die existentiellen Fragen verloren gegangen ist: Nachdem man heute nach ‚glücklichen’ dreien Jahrhunderten der systematischen Entfernung von all diesen Dingen [=von einer naiven Gläubigkeit] infolgedessen nicht mehr das Zeug für eine hinreichende Religion hat (der eigentliche Grund allen Übels), ist man, wie es scheint, wirklich im Zustand der vollständigen ‚conturbatio’ angelangt, gewissermaßen der absoluten Relativität. (zitiert nach Konold 1986: 25) – Indem sie die beunruhigende Fülle verschiedener, gegensätzlicher Eindrücke und Gefühle in eine feste Form „gießt“, nämlich die des auskomponierten Werkes, schafft Musik auch eine innere Ordnung, wird sie zu einem Halt bietenden Ausgleich für einen Menschen, dessen Erlebnisfähigkeit ohnehin ans Chaotische grenzt.[iii] Auch wenn Zimmermann das Ende vieler Werke mit dem Kürzel O.A.M.D.G. (Omnia ad maiorem Dei gloriam) versah, hat seine geistliche Musik nicht die traditionelle Funktion der Lobpreisung. Institutionalisierte Kirchlichkeit tritt hinter einer subjektiven Religiosität zurück. Immer wieder diente ihm die Bibel als anregende Quelle, wobei es nicht verwundert, daß ausgerechnet eines der pessimistischsten Bücher des Alten Testaments, das liber ecclesiastes, welches dem König Salomo zugeschrieben ist, die größte Anziehungskraft ausübte. Texte hieraus verwendete Zimmermann in der Kantate Omnia tempus habent, in den Antiphonen (wo die Sprechtexte von den Instrumentalisten vorgetragen werden), im Requiem und in der ekklesiatischen Aktion Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne. Hinzu kommen der Titel der Flötensonate Tempus loquendi und der Untertitel der Cellosonate. Musikalisch manifestiert sich die Religiosität ferner in Choralzitaten, welche - sofern sie in mehreren Kompositionen vorkommen - sogar werkübergreifende ideelle Beziehungen herstellen. Das Dies irae als Thema des Jüngsten Gerichts findet dabei ebenso Verwendung wie das Veni creator spiritus oder zahlreiche Bachchoräle. – Doch das religiöse, transzendentale Element erscheint keineswegs isoliert, sondern als Teil menschlicher Existenz eingebunden in eine weltliche Sphäre.[iv] Nicht weit ist so der Sprung von der katholischen Theologie hin zur antiken Geisteswelt, zu welcher u.a. seine humanistische Schulbildung dem Komponisten einen Zugang eröffnete. Nachdem Platon und Aristoteles den Grundstock seiner philosophischen Erfahrung gebildet hatten, kam es zu Begegnungen mit dem Rationalismus, dem deutschen Idealismus sowie weiteren Strömungen, die teilweise für Zimmermanns Zeitphilosophie bedeutsam werden sollten. Vielerorts suchte er nach Analogien zu seinem eigenen Problemfeld, so daß auch die Grenze zur Literatur eine fließende war. Im Zentrum seines Interesses standen zwei Autoren des 20. Jh.s: Der irische Dichter James Joyce und der amerikanische Epiker Ezra Pound. Ihre Vorstellungen von der Komplexität des menschlichen Seins, Denkens und Fühlens kamen seinen kompositorischen Ideen außerordentlich nahe. Des weiteren beschäftigte sich Zimmermann mit Dantes Divina Commedia und Cervantes Don Quichotte ebenso wie mit Dostojewskij, dem französischen Surrealismus oder Jakob Michael Reinhold Lenz, dessen Schauspiel Die Soldaten als Vorlage für seine gleichnamige Oper diente und in dessen Anmerkung übers Theater er seine eigene nicht-aristotelische Theatertheorie (drei Einheiten) formuliert sah.[v] In der Malerei faszinierten ihn vor allem der Surrealismus von René Magritte, die Collage- bzw. Montagekunst von Max Ernst und Kurt Schwitters sowie das Schaffen von Paul Klee, der mit seiner Schrift Das bildnerische Denken auch theoretische Anregungen lieferte. Nicht zuletzt in der Musikgeschichte verfügte Zimmermann über breite Kenntnisse, wobei er sich auch hier besonders jenen historischen Abschnitten widmete, in denen er ähnliche Fragestellungen zur Zeitproblematik vorfand. Angefangen beim gregorianischen Choral und den Niederländern des 15. Jh.s, allen voran Josquin Desprez und Johannes Ockeghem, über Girolamo Frescobaldi und W. A. Mozart, reichte seine Auseinandersetzung bis hin zu Komponisten des 20. Jh.s, unter denen ihnen Claude Debussy, Igor Strawinsky und Anton Webern am nächsten standen. Darüber hinaus wandte er sich immer wieder dem Jazz zu, den er in seiner Spontaneität und Unmittelbarkeit als Prototyp einer freieren Musik verehrte.[vi] – Was die kompositorische Verwirklichung seiner Zeittheorie anbelangt, so spielt die Musikgeschichte eine Schlüsselrolle. Doch darüber wird noch im einzelnen zu sprechen sein. So sehr sich auch die Pluralität der genannten Einflüsse als konstitutiv für Zimmermanns Schaffen erwies, so groß war das Unverständnis, mit dem einige Zeitgenossen auf sie reagierten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Verhältnis zur Darmstädter Schule
Zwischen 1948 und 1950 besuchte Zimmermann regelmäßig die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Er profitierte von ihnen, indem er einerseits wichtige, ihm noch fehlende Kenntnisse erwarb, etwa über die theoretischen Grundlagen der Zwölftontechnik Schönbergs und deren Weiterentwicklung durch Webern, und zum anderen mit zahlreichen in- und ausländischen Komponisten sowie ihren Werken in Berührung kam.[vii] In der ersten Hälfte der 50er Jahre blieb sein Verhältnis zu Darmstadt zunächst entspannt, da nach zwölf Jahren NS-Zeit ein Klima der Offenheit gegenüber höchst Verschiedenartigem herrschte. Dies schlug jedoch um, als sich mit einer verstärkten Orientierung an Schönberg und Webern die Stimmung zu ideologisieren begann, ein Prozeß, welcher mit der zunehmenden Dominanz Karlheinz Stockhausens einherging.[viii]
Doch die Abwendung Zimmermanns vom Darmstädter Kreis hatte mehrere Gründe. Noch bis in die 60er Jahre hinein belastete ihn der Altersunterschied zu den meisten anderen Musikern : Auf der einen Seite die ältere Generation mit Wolfgang Fortner, Werner Egk und Carl Orff, auf der anderen Seite Luciano Berio, Luigi Nono, Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, die alle gut zehn Jahre jünger waren, so daß er sich als ältester unter den jungen Komponisten ein wenig fehlplaziert fühlte. Entscheidender noch als die Altersdifferenz war sicherlich die Cliquenbildung und Dogmatisierung unter einigen der jüngeren Kollegen sowie eine zunehmend einseitige Beurteilungstendenz bei den Publizisten.[ix] Wurden das Violinkonzert (1950) und die Perspektiven (1955/56) von der Kritik noch dafür gelobt, daß sie sich von einem ermüdenden Akademismus auf Zwölftonbasis und einer vollkommenen Atomisierung der Musik wohltuend abheben, erfuhr der Canto di speranza bei seiner Uraufführung 1958 im Rahmen der Internationalen Ferienkurse eine fast entwürdigende Abfertigung, die vor allem durch das Unverständnis über die stilistische Inkonsequenz gekennzeichnet war. Seit dem distanzierte sich Zimmermann deutlich. Zwar führte man weiterhin Werke von ihm während der Ferienkurse auf (Présence, 1961 / Cellosonate, 1962 / Tempus loquendi, 1964 / Monologe, 1965 / Intercomunicazione, 1970), jedoch ohne nennenswerte Resonanz seitens des Publikums und der Kritik.[x] Ebenso wie Hans Werner Henze fühlte er sich nach anfänglicher Begeisterung und Zugehörigkeit nunmehr eingeengt im auftretenden Dogmatismus der Avantgarde. Kompromißlos verfochten, kollidierten Dodekaphonie und Serialismus mit Zimmermanns tief verwurzelter Individualität, welche sowohl in seinem Temperament als auch seiner humanistischen Schul- bzw. Hochschulbildung begründet lag. Bereits im Internat bei den Salvatorianern waren ihm Gruppengeist und Einheitlichkeit zuwider gewesen, ein Zug, der sich durch das bewußte Erleben der NS-Zeit zweifellos gefestigt hatte.[xi] Wie auch das nächste Kapitel zeigt, spiegeln Zimmermanns Werke zwar die Entwicklungsphasen und Zeitströmungen der Neuen Musik durchaus wider, ohne sich aber stilistisch festzulegen, und ohne auf einen individualisierten Umgang mit den äußeren Einflüssen zu verzichten.[xii]
Als Vorbilder unter seinen Kollegen wählte Zimmermann demnach eher ‚Außenseiter’ wie Karl Amadeus Hartmann oder Luigi Dallapiccola, welche sich insbesondere in ihrer Ausdruckskraft nicht beschränken ließen.[xiii] Denn gerade in jener ästhetischen Frage stand Zimmermann der jungen Generation fern. Während diese Musik mit seriellem Kalkül und unter rein rationalen Gesichtspunkten schuf - auch um sie vor Funktionalisierung und ideologischem Mißbrauch zu schützen -, betrachtete er sich immer als Urheber ‚geformten Ausdrucks’ und vertraute auf die ideelle Widerstandskraft des Werks gegen totalitäre Vereinnahmung.[xiv] Eine Trennung von Ausdruck und kompositorischen Mitteln kam ihm nicht in den Sinn. Er sah in der Reihentechnik ein hervorragendes Ordnungsinstrument, das er deswegen aber nicht um seiner selbst willen gebrauchte, sondern als Basis für die Vermittlung von Ausdruck und Klang.[xv] Symptomatisch für den diesbezüglichen Konflikt ist die folgende Stellungnahme Zimmermanns: Sicherlich ist es einer der simplifizierenden Trugschlüsse der Mode, daß die Wertung des objektiven Kunstgehalts von der Anwendung bestimmter Techniken und Mittel abhängig gemacht wird. (zitiert nach Imhoff 1976: 69)
Im Laufe der 60er Jahre trat Karlheinz Stockhausen immer stärker in den Mittelpunkt des alljährlichen Festivals für Neue Musik. Je mehr er die Darmstädter Avantgarde dominierte, desto weniger wurde die individuelle Schreibweise Zimmermanns akzeptiert, was den Antagonismus der beiden Kölner Komponisten nur verschärfte. Auch in ihrem Naturell unterschieden sich der eher introvertierte Einzelgänger Zimmermann und der kontaktfreudige Propagandist Stockhausen, welcher mit sicherem Machtinstinkt seine Ansichten zu vertreten wußte. Einen besonderen Tiefpunkt erlangte ihre Beziehung, als ihnen beiden 1960 der Große Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen zu gleichen Teilen verliehen werden sollte. Indem Stockhausen den Preis ablehnte, ließ er den Eindruck entstehen, nicht mit Zimmermann in einem Atemzug genannt werden zu wollen, womit er diesen sehr kränkte.[xvi] Davon abgesehen, wurde die Rivalität eher verdeckt ausgetragen. In der Öffentlichkeit ignorierten sich beide weitgehend; in seiner literarisch gefaßten Polemik Gespräch mit einem Kranich (1963) sowie mit Stockhausen-Zitaten in Présence und in der Musique pour les soupers du roi Ubu machte Zimmermann hingegen seine Ablehnung deutlich. Nichtsdestotrotz schätzte er seinen Widersacher als außerordentlichen Musikdenker, der eine fruchtbare Unruhe in die musikalische Reflexion und Debatte trug und so zu immer neuem Überdenken der eigenen Standpunkte anregte. Dagegen kritisierte er, daß Stockhausen Kompositionen nur hervorbrachte, um seine Theorien zu veranschaulichen, anstatt – wie wirkliche Komponisten – Theorien zu erfinden, die der Realisierung musikalischer Ideen dienen. In einer Dokumentation des WDR von 1972 stufte Stockhausen wiederum Zimmermann als „Gebrauchsmusiker“ ohne neue, unbekannte Visionen ein.[xvii] Diese ernüchternde Polarität darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Zimmermann das Werk vieler Kollegen neidlos anerkannte. Ferner verbanden ihn freundschaftliche Kontakte mit Dallapiccola, Hartmann, Hans-Ulrich Engelmann, Jacques Wildberger sowie einigen Schülern. Ein enges Verhältnis ergab sich ebenso zu etlichen Interpreten, deren Einsatz für seine Musik das übliche Maß überstieg. Hierzu zählen sowohl Instrumentalisten als auch Dirigenten wie Hans Rosbaud, Günter Wand, Michael Gielen und Hans Zender.[xviii]
Kompositorische Entwicklung
Zimmermanns Schaffenszeit umfaßt rund drei Jahrzehnte, ca. 1940-1970. Eine klare Periodisierung scheint insofern problematisch, als seine Entwicklung keine radikalen Einschnitte oder Brüche aufweist, welche eine eindeutige Abgrenzung verschiedener Werkphasen erlauben würden. Auch weit übergreifende ideelle Zusammenhänge erschweren dies. Im vierten Satz der Ballettmusik Alagoana (1940-50) kommt es zur Überlagerung einer Rumba, eines Boogie-Woogie und eines Marsches, womit der spätere pluralistische Stil bereits antizipiert wird. Zudem ist für die meisten Werke gerade die Durchdringung verschiedener Gestaltungsmittel und Stilprinzipien typisch. So kann beispielsweise kaum von einer rein seriellen Phase gesprochen werden.[xix] – Nichtsdestotrotz lassen sich bestimmte Tendenzen und Veränderungen erkennen, welche im folgenden skizziert werden sollen.
Erste Einflüsse nahm Zimmermann im Zeitraum 1940-50 auf. Mit Ausnahme von Hindemith waren ihm die Klassiker der Moderne, deren Musik im Nationalsozialismus als „entartete Kunst“ verboten wurde, noch weitgehend unbekannt. Unmittelbar nach dem Krieg galt daher zunächst Paul Hindemith als wichtigster Vertreter der Neuen Musik, und man beeilte sich, die während seines Exils entstandenen Werke in Deutschland aufzuführen. Hinzu kam der Kompositionsunterricht bei Heinrich Lemacher (1891-1966) und Philipp Jarnach (1892-1982) an der Kölner Musikhochschule. Als führender Repräsentant katholischer Kirchenmusik vermittelte Lemacher vorrangig kompositionstechnische Tradition. Seine Beschäftigung mit dem geistlichen Vokalwerk der Renaissance mag sich bei Zimmermann u.a. in der präzisen Kalkulation von Zeitproportionen niedergeschlagen haben. Gefördert durch Ravel und Debussy sowie Schüler von Busoni, wurde Jarnach Vertreter jener von Busoni heraufbeschworenen „jungen Klassizität“, welche die Melodie als primäres Element der Strukturbildung dem Klang überordnete. Ihr formstrenger, sachlicher Stil kam Zimmermanns Tendenz zu formaler Konzentriertheit durchaus entgegen, hinderte ihn aber bald an der von ihm erstrebten Expressivität.[xx]
Die ersten Aufführungen von Werken Zimmermanns fallen in die Monate und Jahre unmittelbar nach Kriegsende.[xxi] Eines der originalsten Produkte jener frühen Arbeit ist zweifellos die bereits erwähnte Ballettmusik Alagoana (1940-50).
Das folgende Jahrzehnt (1950-60) unterliegt wechselnden Einflüssen und Tendenzen. Die erste Hälfte der 50er Jahre ist primär der Auseinandersetzung mit den Klassikern der Moderne gewidmet. Neben Hindemith zählen hierzu vor allem Schönberg, Strawinsky und Bartók, jedoch ebenso Honegger, Debussy, Ravel, Messiaen oder K. A. Hartmann.[xxii] Im Rahmen des damals verbreiteten Schönberg-Strawinsky-Disputs ließ sich Zimmermann nicht polarisieren. So weist sein Violinkonzert (1949/50) einerseits einen dodekaphonisch konzipierten Mittelsatz auf, andererseits Charakteristika von Strawinskys Musik. Deren Melodik, Rhythmik und Formgebung beeinflußten sowohl das Oboenkonzert (1952) als auch das Trompetenkonzert (1954) und sorgten ihrerseits für eine undogmatische, individuelle Handhabung der Zwölftontechnik. Das Trompetenkonzert demonstriert überdies Zimmermanns Affinität zum Jazz.[xxiii]
Um 1953 setzt eine stilistische und kompositionstechnische Neuorientierung ein, welche ansatzweise erstmals im Konzert für Violoncello und kleines Orchester (1953), dem späteren Canto di Speranza (1957), und der Ballettmusik Kontraste (1953) zutage tritt und sich in der zweiten Hälfte der 50er Jahre mit der Sonate für Viola solo (1955), den Perspektiven für zwei Klaviere (1955/56) und den Konfigurationen für Klavier (1954/56) fortsetzt. Eine intensive Auseinandersetzung mit der Musik Anton Weberns hatte Zimmermann zu einer seriellen Ordnung des Tonmaterials geführt. Darauf deuten auch die Konzentration des musikalischen Materials sowie die Kürze der Werke hin.[xxiv] Form- und Sinnzusammenhang gehen nicht mehr von einem im Mittelpunkt stehenden Thema aus, sondern entstehen durch die Dominanz eines zentralen Gestaltungsprinzips, welches auf der Beziehung zwischen Intervall und Rhythmus beruht. An die Stelle einer streng dodekaphonischen Tonhöhenorganisation tritt hingegen eine eher intervallische, d.h., es gibt zwar noch ein Zwölftonfeld, welches aber in Zwei- oder Dreitongruppen gegliedert ist und sich folglich viel freier verwenden läßt. Eine weitere Auflockerung der Serialität und damit ein Unterschied zur Orthodoxie der Darmstädter Schule besteht in der Einbeziehung des Improvisatorischen, welches wiederum auf Zimmermanns Schwäche für den Jazz verweist.[xxv]
Trotz wechselnder Akzente und der Einbeziehung neuer Elemente, sind die ersten 15 Jahre seines Schaffens von einer relativ kontinuierlichen Entwicklung gekennzeichnet, in der Zimmermann unter Einfluß vergangener und zeitgenössischer Strömungen einen individuellen Weg beschritt, der sich keineswegs mit einer ganz bestimmten Richtung der Neuen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg deckte.[xxvi]
[...]
[i] Konold 1986: 25/36 60 Ebenda, 29-33
[ii] Niemöller 1989: 16 61 Ebenda, 56/57
[iii] Konold 1986: 26 62 Ebenda, 25-27
[iv] Niemöller 1989: 9-10/16 63 Konold 1986: 218
[v] Konold 1986: 36/37 64 Kühn 1978: 115
[vi] Ebenda, 37/38 65 Brockmann 1986: 34-56
[vii] Ebenda, 16
[viii] Ebenda, 45
[ix] Kühn 1978: 24/25
[x] Konold 1986: 45/47 Das Symbol ° kennzeichnet das Ende von gedanklichen Abschnitten,
[xi] Kühn 1978: 24/25 in denen kein fremdes Wissen verwendet wurde.
[xii] Konold 1986: 28
[xiii] Ebenda, 16
[xiv] Ebenda, 36
[xv] Imhoff 1976: 69
[xvi] Konold 1986: 19/20
[xvii] Ebenda, 47-49
[xviii] Ebenda, 49/50
[xix] Kühn 1978: 39-44
[xx] Konold 1986: 28-30
[xxi] Ebenda, 14
[xxii] Kühn 1978: 39-44
[xxiii] Konold 1986: 30-32
[xxiv] Imhoff 1976: 68/69
[xxv] Konold 1986: 30-32
[xxvi] Imhoff 1976: 68/69
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