"Bert Brechts Kriegsfibel" oder "Wie und warum 69 Bilder das Sprechen lernten"


Seminararbeit, 2000

20 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einführung

2. Hauptteil
2.1. Zum Begriff „Fibel“ und dessen Bedeutung für das Werk
2.2. Zur Entstehungsgeschichte der Kriegsfibel
2.3. Die graphische Darstellung und ihre immanente Wirkungsabsicht
2.4. Einflüsse und Anregungen Die „A-I-Z“ und ihre Bedeutung als Ideengeber
2.5. Die politische Bedeutung des Erscheinens der Kriegsfibel für Brecht
10 Jahre nach Kriegsende

3. Fazit

4. Literaturnachweis / Bibliographie

1. Einführung

Die Kriegsfibel ist Bertolt Brechts letztes lyrisches Werk und Kultbuch der frühen Friedensbewegung. Dennoch blieb die wissenschaftliche Rezeption bis heute erstaunlich zurückhaltend. So tituliert beispielsweise der Politologe und Germanist Theo Stammen die Fibel als „Stiefkind der Forschung“.[1] Aufgrund der bewussten Verbindung von künstlerischem Gehalt und politischer Wirkungsabsicht wurde das 1955 erstmals publizierte Werk oft als propagandistische Zweckliteratur verkannt. Mit meinen Ausführungen möchte ich den Versuch unternehmen zu zeigen, dass Brecht mit seinen Text-Bild-Kompositionen nicht nur ein herausragendes kompromissloses Werk gegen den Krieg sowie seine vielfach politisch und ökonomisch bedingten Ursachen gelungen ist, sondern auch ein ästhetisches Meisterwerk, welches es gekonnt versteht, die Kunst zu lehren, Bilder zu lesen. Ganz so, wie es Brechts langjährige dänische Mitstreiterin Ruth Berlau im Jahr Zehn der Befreiung vom Hitler-Faschismus in ihrem Vorwort zur 1. im Ostberliner Eulenspiegel-Verlag erschienenen Auflage erhoffte.[2] Für diesen Zweck halte ich es für unabdingbar, sowohl die langjährige Entstehungsgeschichte der Kriegsfibel - die eigentlich Antikriegsfibel heißen müsste - als auch ihre endgütige künstlerische Gestaltung, in enger Verknüpfung mit dem gesellschafts-politischen Kontext jener Zeit zu betrachten. So erkennt der Literaturwissenschaftler und renommierte Publizist Welf Kienast den eigentlichen Gehalt der erst 10 Jahre nach ihrer 1. Fassung veröffentlichten Kriegsfibel als implizierte „zehn Jahre deutscher Geschichte samt Kapitulation, Staatengründung und 17. Juni“.[3] Im weiteren Verlauf meiner Ausführungen möchte ich zeigen, wie sehr der erst 1955 abgeschlossene Entstehungsprozess die so oft zitierte Stunde Null, die Geburt zweier konträrer deutscher Staaten und ihre ersten Gehversuche reflektiert.

2. Hauptteil

2.1. Zum Begriff „Fibel“ und dessen Bedeutung für das Werk

Zu Beginn meiner Ausführungen möchte ich ein paar Bemerkungen zum Begriff der Fibel anführen, die meiner Auffassung nach zum Verständnis und zur richtigen Einordnung des Werks beitragen können. Als spezifisches Kennzeichen der Fibel nennt „Meyers Handbuch über die Literatur“: „Kinderlesebuch; ursprünglich enthielt die Fibel Lesestücke aus der Bibel, heute ist sie der Vorstellungswelt des Kindes angepasst; sie dient dem ersten Leseunterricht...“[4] Die Fibel bezieht sich demnach auf einen ganz umfassenden Kontext: auf die Sprache, die es zu erlernen gilt und (früher) auf die Bibel oder allgemein auf einen sogenannten normativen Text, der möglichst eindeutig eine Moral, Ethik, oder eine Weltanschauung repräsentieren will. Sie dient also ganz bestimmten Zwecken: Dem Lesen lernen (Decodieren) und dem Verstehen lernen. Man könnte sagen, sie möchte in das Decodieren als einer Kommunikationstechnik einführen. Natürlich ist die Fibel dabei auf die Aktivität des Lernenden angewiesen. Sie arbeitet mit didaktischen Mitteln, um diese Aktivität zu fördern. So bedient sie sich beispielsweise einer motivierenden Farbgebung sowie eines speziellen Text-Bild-Bezugs mit Fragen und/oder suggestiven Aufforderungen. Die für die Fibel allgemein angeführten Charakteristika lassen sich nach Auffassung des Autors ohne weiteres auf Brechts Kriegsfibel übertragen. Sie erlauben damit erste Schlussfolgerungen über die Wirkungsabsicht und die Zielsetzungen dieses Buches. Legitim erscheint mir diese Übertragung zunächst aufgrund des Buchtitels. Wie bei jeder anderen Fibel auch, will Brecht mit Hilfe der Kriegsfibel den Rezipienten seiner Botschaften mit einem umfassenden Kontext konfrontieren, nämlich mit dem Zweiten Weltkrieg. In diesem Zusammenhang halte ich es für sinnvoll, auf eine kunsttheoretische Aussage Brechts in „Kleines Organon für das Theater“ zu verweisen, die nicht auf die Kunstgattung des Theaters beschränkt bleiben muss. Darin fordert Brecht: „Wir brauchen Theater, das nicht nur Empfindungen, Einblicke und Impulse ermöglich, die das jeweilige historische Feld der menschlichen Beziehungen erlaubt, auf dem die Handlungen jeweils stattfinden, sondern das Gedanken und Gefühle verwendet und erzeugt, die bei Verwendung des Feldes selbst eine Rolle spielen“.[5] Übertragen auf die Kriegsfibel ergibt das, Brecht beabsichtigt mit seiner Fibel, die er auch als „eine Art Journal“[6] bezeichnet, den „Lernenden“ mit dem Zweiten Weltkrieg als einem „historischen Feld“ zu konfrontieren und ihn zu lehren den Krieg unter ethischen, moralischen und weltanschaulichen Aspekten zu beleuchten und seine gesellschaftspolitischen Ursachen und Hintergründe kritisch zu erfragen.

2.2. Zur Entstehungsgeschichte der Kriegsfibel

Die Entstehung der Idee, Bild und erläuterndes bzw. kommentierendes Gedicht (vgl. „Kommentare zu Fotos“ im Vorwort) miteinander zu verbinden, sowie die Ausarbeitung der – wie Brecht sie nannte – „fotoepigramme“ (als dt. Übersetzung ergibt das: „Fotoaufschrift“ bzw. „Fotoinschrift“)[7] selbst liegen durchweg während des Zweiten Weltkriegs und kurz nach seiner Beendigung. Die ersten Vorarbeiten datieren laut Dieter Wöhrle[8] aus noch früherer Zeit. Demnach arbeitete Brecht seit 1939 unregelmäßig an der späteren Kriegsfibel. Am 8. 12. 1939 vermerkt Brecht unter seinen wenigen Besitztümern eine „mappe mit fotos“ (AJ 73). Die systematische Sammlung von Presse-Fotografien, die Brecht und seine Mitarbeiter aus in erster Linie dänischen und US-amerikanischen Zeitschriften ausschnitten, begann dem Alter der Fotos nach um 1936. Ob diese Sammlung bereits einer geplanten Kriegsfibel galt oder nicht vielmehr dem Arbeitsjournal, ist in der wissenschaftlichen Forschung noch nicht geklärt. Es darf jedoch angenommen werden, dass sie in erster Linie für das Arbeitsjournal angedacht war, und das aus ihr erst die Konzeption für die Kriegsfibel entstand. Wie Briefe zeigen, arbeitet Brecht, der ab 1933 als „Mann mit befristeten Aufenthalten“[9] in 14 Jahren rund um die Erde gereist ist, an den Vierzeilern sporadisch bis zum Kriegsende 1945 weiter. Dann liegt eine Sammlung von 71 Fotoepigrammen vor, die als erste zum Druck bereite Fassung angesehen werden kann. Sie enthielt zudem sechs Fotoepigramme, die für die spätere Fassung von 1955 getilgt wurden. Die Versuche, die Urfassung zum Druck zu befördern, waren vielfältig. Im Herbst 1948 bot Ruth Berlau, die ja auch maßgeblich an der Entstehung beteiligt gewesen ist, dem Münchner Verleger des Dreigroschenromans (nach dem Krieg) Kurt Desch das Werk an. Dieser lehnte jedoch ziemlich kategorisch ab. Seine Gründe, die er freilich nicht genauer benannte, dürften politischer Natur gewesen sein. Daraufhin beabsichtigte Brecht, die Kriegsfibel in Ostberlin zu publizieren. Ein Gutachten im Auftrag des kulturellen Beirats der SED erhob, neben recht allgemeinem Lob, das sich möglicherweise lediglich auf Brechts Namen bezog, einige gravierende Einwände, welche offensichtlich einen Druck zur damaligen Zeit verhinderten. Stefan Heymann der Verfasser jener Expertise verkennt das Werk insofern, dass er ihm unter anderem unterstellt, vor allem vor dem neuen Faschismus (in Westdeutschland) zu warnen, und bei der Darstellung des vergangenen Faschismus die Person Hitlers zu sehr herauszustellen. Das erste Gedicht stelle das „ganze Kriegsgeschehen [als] eine persönliche Angelegenheit Hitlers“ dar (Abdruck des Gutachtens und Interpretation bei Bohnert, 305-307).[10]

Der meiner Auffassung nach verkennenden Analyse Heymanns, möchte ich an dieser Stelle den Versuch einer Interpretation jener wichtigen ersten Abbildung und des dazugehörigen Kommentars entgegensetzen.

So wie das Gros der von Brecht ausgewählten Fotos erhält das erste Bild durch die weiter oben schon angeführte symbolische Kraft des schwarzen Rahmens erst seine wirkliche Bedeutung. Es zeigt den Redner Hitler in einer propagandistischen Ansprache lange vor Beginn des Krieges. Die Abbildung spielt – im Epigramm – auf die in In- und Ausland gepriesene „schlafwandlerische Sicherheit Hitlers in der Führung“ an (vgl. Bohnert, 307).[11] Brecht personifiziert ganz und gar nicht, sondern er versucht vielmehr, die ungeheure Anmaßung Hitlers in diesem offiziellen propagandistischen Bild sichtbar zu machen. Hitler steht in künstlicher, von der eigenen Person ergriffener Haltung da, die Hand weit geöffnet (hohle Geste), der Blick gen „Himmel“ gerichtet, die Augen blicken starr und selbstvergessen, ja geradezu besitzergreifend in den nach Brechts Anordnung schwarzen unheilverkündenden „Himmel“, an dem - wie ein falscher Stern nicht leuchtend sondern dunkelnd – schemenhaft das Hakenkreuz als Menetekel prangt. Die Mikrophone biegen sich zu Hitler - dem „Führer“ - hin, wie willige Diener. (Charlie Chaplin hat diese Metapher in seinem Film „Der große Diktator“ genutzt.[12]) Durch sie hören ihn – der in die schwarze kriegerische Vorsehung glotzt – seine „Untertanen“, die „Geführten“. Dass alles nur scheinhafte, manipulierende, pompöse Anmaßung ist, die, wenn sie nicht durchschaut und bekämpft wird, in den Krieg führt, das will das Fotoepigramm zum Ausdruck bringen.

Auf die Kritik der wichtigsten Kulturbehörde der DDR antwortete Brecht lakonisch. Er betonte den Journal-Charakter seines Werks und die Tatsache, dass es als historisch fortlaufender Kommentar und damit wiederum als historisches Dokument genommen werden müsse, da es von ihm während der Hitlerjahre konzipiert und verfasst und 1945 abgeschlossen wurde. Jedoch ignorierte er die Kritik nicht vollständig, sondern nahm sie als Anlass, einige Änderungen an dem Werk vorzunehmen. Brecht sah sich nun genötigt, dem Buch eine Reihe von Bemerkungen hinzuzufügen, die dann als „Nachbemerkungen“ auch tatsächlich realisiert wurden. Zum Druck kam es jedoch nicht, so dass die Kriegsfibel bis 1954 liegen blieb.

[...]


[1] Stammen, Theo: „Kriegsfibel“, Politische Emblematik und zeitgeschichtliche Aussage, Würzburg 1999.

[2] Brecht, Bertolt: „Kriegsfibel“, hrsg. von Ruth Berlau, 4. Aufl., Berlin 1983 (1955)

[3] vgl. Kienast, Welf: Kriegsfibelmodell. Autorschaft und „kollektiver Schöpfungsprozess“, 1. Aufl., 2001

[4] Meyers Handbuch über die Literatur, Mannheim 1964, S.46.

[5] Brecht, Bertolt: Über Theater. Kleines Organon für das Theater, 1. Aufl., Leipzig 1966, Reclams Universal-Bibliothek Band 277, S.221

[6] vgl. Berlau, Ruth in: Vorwort zur Kriegsfibel, Berlin 1955

[7] AJ 663; vom 20.06.1944 in: Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal 1938-1955, Berlin und Weimar 1977, S.369 – dort notiert er: „arbeite an neuer serie der fotoepigramme. Ein überblick über die alten, teilweise aus der ersten zeit des kiegs stammend, ergibt, dass ich beinahe nichts zu eliminieren habe (politisch überhaupt nichts), bei dem ständig wechselnden Aspekt des krieges ein guter beweis für den wert der betrachtungsweise, es sind jetzt über 60 vierzeiler [...]“

[8] Wöhrle, Dieter: Bertolt Brechts „Kriegsfibel“ – wie man Bilder zum Sprechen bringt, München o. J. [um 1982]

[9] Frisch, Max: [Tagebuch 1948.] Tagebuch 1946-49, Frankfurt (Main) 1950, S. 292

[10] Bohnert, Christiane: Brechts Lyrik im Kontext, Zyklus und Exil, Königstein/Ts. 1982, S.305-307 (Dokumente zur Entstehungsgeschichte)

[11]siehe auch: Bohnert, Christiane: Brechts Lyrik im Kontext. Zyklus und Exil, Königstein/Ts. 1982, S.307 (Dokumente zur Entstehungsgeschichte)

[12] Chaplin, Charles: „The Great Dictator“, Hollywood 1940

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
"Bert Brechts Kriegsfibel" oder "Wie und warum 69 Bilder das Sprechen lernten"
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut für Kunst und Medien)
Veranstaltung
Fotografie und Literatur
Note
1,3
Autor
Jahr
2000
Seiten
20
Katalognummer
V59570
ISBN (eBook)
9783638534741
ISBN (Buch)
9783640743995
Dateigröße
450 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bert, Brechts, Kriegsfibel, Bilder, Sprechen, Fotografie, Literatur
Arbeit zitieren
Daniel Seiffert (Autor:in), 2000, "Bert Brechts Kriegsfibel" oder "Wie und warum 69 Bilder das Sprechen lernten", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59570

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