„Je länger er hinsah, desto weniger erkannte er.“ Diese Beobachtung, die der Landvermesser K. über das Schloß anstellt, ist symptomatisch für das Verhältnis des Helden zu einer Instanz, der sein ganzes Streben gilt. Gleiches trifft auf Josef K. aus dem Proceß-Roman zu, den selbst kurz vor seinem Tod die Frage nicht losläßt, wo das hohe Gericht zu finden sei, zu dem er zeit seines Lebens nicht hat vordringen können. Franz Kafka entwirft in den 1914-1915 (Der Proceß) und 1922 (Das Schloß) entstandenen Romanen das Bild einer Welt, die im Wesentlichen von zwei Komponenten bestimmt ist: einem unscharf gezeichneten Zentrum, das die gesamte Lebenswirklichkeit durchdringt und beherrscht, sowie einem peripheren Raum, der sich um dieses Zentrum lagert und der die Dorfbewohner um K. bzw. die Menschen in Josef K.s nächster Umgebung in Kategorien einteilt: Je näher sie dem Zentrum sind, desto mächtiger und wertvoller erscheinen sie.
Ich beginne mit einer Analyse der Ziele, welche die Protagonisten und ihren Schöpfer Franz Kafka antreiben, und werde dann auf die Charakteristika der entzogenen Zielinstanzen, Gericht und Schloß, eingehen. Es folgt eine Untersuchung der Rolle der ‚Helfer’, besonders der Frauen, denen Josef K. und K. begegnen. Abschließend möchte ich einige Deutungsmöglichkeiten für das Gericht und das Schloß erörtern, wobei ich Gerhard Neumanns Interpretation hervorheben werde, der in den Texten Kafkas eine Kluft zwischen Liebesordnung und Amtsordnung erkennt, die der Protagonist durch ein verbindendes Drittes vergeblich zu überbrücken versucht. Hierbei spielen Kafkas Erfahrungen mit Frauen einerseits und die innere Notwendigkeit des Schreibens andererseits eine wesentliche Rolle – ein Konflikt, der den Autor zeitlebens gleich einem inneren Prozeß begleitete. In diesem Zusammenhang gehe ich auch auf Detlef Kremers Proceß-Analyse ein, in der deutlich wird, wie stark in die Darstellung der Amtsordnung Metaphern der Schriftlichkeit einfließen und den Romanen so einen Subtext einschreiben, der vom Verfassen der Romane einerseits und von der (Un-) Möglichkeit hermeneutischen Verstehens andererseits, etwa durch die Schrift, handelt. Da die Instanzen entzogen bleiben, stellt sich schließlich die Frage, ob hier nicht ein zielgerichtetes Gehen ohne Ziel vorliegt, ein Irrweg also, für dessen Beschreitung eine unberechtigte, ja sogar sündige Hoffnung auf Erkenntnis verantwortlich gemacht werden muß.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- „Im Namen unbekannter Herren“ – Das entzogene Zentrum in Franz Kafkas Romanen Der Proceß und Das Schloß
- Rechtfertigung, Anerkennung: Josef K., K. und Franz K.
- Charakteristika der entzogenen Zielinstanzen
- Die Rolle der Helfer auf dem Weg zu den Zielinstanzen
- Deutungsmöglichkeiten des Gerichts und des Schlosses: Die Gegenüberstellung von Lebensordnungen und die Frage nach einem übergreifenden Sinn und dessen Erkenntnis
- Schluß
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit befasst sich mit den Romanen „Der Proceß“ und „Das Schloß“ von Franz Kafka und untersucht die zentrale Rolle des „entzogenen Zentrums“ in beiden Werken. Der Fokus liegt darauf, wie die Protagonisten Josef K. und K. mit der Instanz des Gerichts bzw. des Schlosses umgehen, ihre Rechtfertigung und Anerkennung suchen, und mit der Unzugänglichkeit dieser Instanzen konfrontiert werden.
- Die Suche nach Rechtfertigung und Anerkennung in einem unübersichtlichen und undurchsichtigen System.
- Die Bedeutung der entzogenen Zielinstanzen (Gericht und Schloß) als Ausdruck von Macht und Autorität.
- Die Rolle von „Helfern“ und insbesondere Frauen in der Beziehung der Protagonisten zu den Zielinstanzen.
- Die Interpretation des Gerichts und des Schlosses als Symbole für Lebensordnungen und die Suche nach einem übergreifenden Sinn.
- Die Verbindung von Kafkas eigenen Lebenserfahrungen und dem Schreibprozess mit den Themen des Romans.
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt den Leser in die zentrale These der Arbeit ein: das entzogene Zentrum in Franz Kafkas Romanen „Der Proceß“ und „Das Schloß“. Sie stellt die beiden Protagonisten und ihre Suche nach der rätselhaften Instanz vor. Die Arbeit analysiert zunächst die Motive der Protagonisten und Kafkas, um anschließend die Charakteristika des Gerichts und des Schlosses zu untersuchen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Rolle von "Helfern", besonders Frauen, die den Protagonisten auf ihrem Weg begegnen. Abschließend werden Deutungsmöglichkeiten für das Gericht und das Schloß erörtert, wobei der Fokus auf der Kluft zwischen "Liebesordnung" und "Amtsordnung" liegt.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit den zentralen Themen des absurden Gerichts und des unzugänglichen Schlosses in Kafkas Romanen. Dabei werden die Themen Rechtfertigung, Anerkennung, Macht, Autorität, Lebensordnung, Sinn, und die Rolle von Frauen im Kontext der Protagonisten behandelt. Die Analyse greift auf die Interpretationen von Gerhard Neumann und Detlef Kremer zurück, die den Schreibprozess und die Metaphern der Schriftlichkeit im Roman hervorheben.
- Arbeit zitieren
- Anne Thoma (Autor:in), 2006, "Im Namen unbekannter Herren". Das entzogene Zentrum in Franz Kafkas Romanen 'Der Proceß' und 'Das Schloß', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59969