Der rote Oktober des russischen Kindertheaters


Hausarbeit, 2004

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Revolutionstheater und dessen Akteure

3. Das Kindertheater
3.1 Das frühe Kindertheater
3.2 Die Situation der Kinder während der Oktober Revolution
3.3 Der Rote Oktober des Kindertheaters

4. Die Aufhebung des stofflichen Gefälles zwischen Kinder- und Erwachsenentheater am Beispiel des Textes „Timur und sein Trupp“.

5. Methodik des Kindertheaters

5. Fazit und Ausblick auf die weitere Entwicklung des sowjetischen Kindertheaters

6. Bibliographie

1. Einleitung

Die Russische Revolution von 1917 stellt bis heute einen Wendepunkt in der Geschichte dar. Um die Ereignisse des „roten Oktobers“ nachvollziehen zu können, muss man sein Augenmerk auf die Herrschaft des Zaren richten, die der Oktoberrevolution zeitlich voraus ging.

Hinter der Fassade der zaristischen Autokratie in Russland verbarg sich in Wahrheit ein regressives ländliches Wirtschaftsleben, welches seit der Abschaffung der Leibeigenschaft im wesentlichen keine Fortschritte durchlaufen hatte. Seit den 60iger Jahren des 19. Jahrhunderts traten in regelmäßigen Abständen terroristische Gruppierungen auf, die zum Ziel hatten, das herrschende System zu beenden. Alle waren von der staatlichen Armee blutigst niedergeschlagen worden.

Als nun 1890 die Industrialisierung ihren Einzug feierte, wuchs die Zahl des sogenannten Industrieproletariats stetig an. Die Unzufriedenheit der Arbeiter über die Arbeits- und städtischen Lebensbedingungen trafen auf liberales westliches Gedankengut, welches mittlerweile auch nach Russland vorgedrungen war. Eine Folge davon waren die ersten Streiks der Fabrikarbeiter. 1898 wurde die marxistische Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands gegründet, welcher auch Lenin angehörte.

1905 kam es zur ersten russischen Revolution. Es handelte sich um eine Revolution, die aus drei Triebkräften gespeist wurde: Erster Motor waren bürgerliche Liberale und Konstitutionelle, an zweiter Stelle kamen Arbeiter und dritte Kraft waren die Bauern auf dem Land. Im Zuge der Ereignisse kam es in Petersburg zur Wahl des ersten Sowjets. Da die drei Strömungen jedoch verschiedene Zielsetzungen verfolgten und untereinander uneins waren, war es durch verfassungsrechtliche Zugeständnisse leicht möglich, die Revolution zu beenden.

Als sich 1917 während des Weltkrieges eine allgemeine Kriegsmüdigkeit einstellte, die mit großer Unzufriedenheit bzgl. der Kriegsführung und der Regierung einherging, wurde die Forderung nach der Abdankung des Zaren erneut formuliert. Der Zar musste sich zurückziehen. Die Regierungsgeschäfte wurden bis auf weiteres von der auf die Duma gestützte Provisorische Regierung übernommen. Zeitgleich wurde der Petrograder Arbeiterrat zusammengestellt, welcher zur Übergangsregierung in Rivalität stand.

Die Mehrheit der Mitglieder des Arbeiterrates, sowie die Provisorische Regierung begnügten sich mit der Ansicht, dass die stattgefundene Revolution bürgerlich russischer Natur sei. Lenin jedoch war entschieden anderer Meinung. Die Überzahl der befreiten Menschen waren Arbeiter und Bauern, die überall von den Fabriken bis in die Heeresverbände Sowjets wählten. Dies war für ihn ein Zeichen dafür, dass die Macht bereits in die Hände der Unterdrückten übergegangen war, deren Interessen er durch die Bolschewisten vertreten sah.

Im Juni 1917 vertrat er auf dem ersten Allrussischen Sowjetkongress die Meinung, dass die Regierungsgewalt ausschließlich von dem bolschewistischen Flügel übernommen werden könne. Seine Ansichten wurden belächelt, doch der Einfluss seiner Partei in den Fabriken und der Armee wurde grösser.

Die Provisorische Regierung sah sich durch das Erstarken der Bolschewiken in ihrer Position gefährdet und bezichtigte diese, umstürzlerische Propaganda zu betreiben. Lenin musste nach Finnland fliehen, das Zentrale Partei-Komitee ging in den Untergrund. Im Oktober kehrte Lenin verkleidet nach Russland zurück, um an einer Sitzung des Zentralkomitees der Partei teilzunehmen. Dabei gelang es ihm, seine Genossen davon zu überzeugen, dass man die Machtübernahme unmittelbar vorzubereiten habe.

Am 7. November besetzten nun Fabrikarbeiter der Roten G arde wichtige Positionen in Petrograd, weitere Einheiten rückten auf das Winterpalais vor. Die Provisorische Regierung brach widerstandslos zusammen. Der Coup war zeitlich so geplant worden, dass er mit dem zweiten Allrussischen Sowjetkongress zusammenfiel. Dort wurde die Auflösung der Übergangsregierung und der Übergang der Autorität auf die Sowjets proklamiert . Des weiteren wurde drei Dekrete veröffentlicht, die sofortige Friedensverhandlungen mit den kriegsführenden Parteien, eine Bodenreform und die Einsetzung einer provisorischen Arbeiter- und Bauernregierung zum Inhalt hatten.

Die Alliierten fühlten sich von Russland im Kampf gegen das Deutsche Reich im Stich gelassen und landeten nach der Oktoberrevolution in Murmansk, die Japaner in Sibirien. Vom Westen her fielen die Deutschen ein. Die vom Zarenreich unterdrückten Völker riefen ihre Unabhängigkeit aus. Im Inland bildeten sich am Don, am Kuban und am Ural Kosakenheere, welche gegen die Rote Garde vorgingen. Zaristische Offiziere bildeten die Weiße Armee , die mit ausländischer Unterstützung zum Bürgerkrieg gegen die Revolutionäre rüstete. Die Minorität der Bolschewiki[1] musste gleichzeitig die Bauernschaft für sich gewinnen, in Eile die Rote Armee und einen handlungsfähigen Verwaltungsrat aufbauen und die aus der zaristischen Herrschaft hervorgegangenen Rückstände überwinden. Voraussetzung dafür war, dass die noch abseits stehenden Massen sich der Revolution anschlossen. Dies war nur durch eine großangelegte Propagandaaktion zu bewerkstelligen. Filmvorführungen, Vorträge, Transparente, propagandatragende Einsenbahnzüge und Schiffe waren neben szenischen Mitteln die bevorzugtesten Behelfsmittel. Vorführtruppen der Roten Armee , sogenannte Agit-Trupps, machten Stimmung gegen sämtliche Gegner der Revolution.

Im Zuge der Massenpolarisierungsversuche wurden nun auch die Kinder fokussiert. Menschliches Material gab es in Hülle und Fülle, man musste es nur entsprechend formen, erziehen. Lenins pädagogisches Programm sah vor, dass die „kulturelle Hebung“[2] der Bevölkerung erst nach der Revolution eintreten könne – nachdem die Voraussetzungen geschaffen worden waren. Schule sei dabei ein Werkzeug der Diktatur des Proletariats; sie solle aus den Schülerinnen und Schülern Aktivisten im Kampf gegen die Unterdrückung der Bürgerklasse machen. Dies freilich nur unter der Führung einer Erzieher-Elite, welche von den Ideen des Kommunismus durchdrungen war. Erziehung, das war die „dritte Front“, an denen die Bolschewisten zu kämpfen hatten[3]. Problematisch war nur, dass eben die entsprechende Erzieher-Elite fehlte, sie musste herangebildet werden. Zum anderen besuchten faktisch die wenigsten Kinder in den Jahren während und nach der Revolution eine Schule. Die Zustände waren verheerend. Um dem Erziehungsauftrag der Partei nachkommen zu können, wurde schon sehr bald damit begonnen, sich das Theater dafür nutzbar zu machen. Und somit schuf man neben dem Proletariertheater für Erwachsene gleichzeitig eine weltweit einzigartige Institution, ein Theater, welches ausschließlich für Kinder gedacht war. Dabei sticht deutlich ins Auge, dass sich recht bald nach seiner Etablierung kein stoffliches Gefälle zum Erwachsenentheater mehr ausmachen ließ. Von diesem neuen Kindertheater, seine Initiatoren und seinem Programm soll nun im weiteren die Rede sein.

2. Das Revolutionstheater und dessen Akteure

Um die Massen für die Sache der Revolution zu gewinnen, folgte ein Großteil der Theaterszene der jungen Sowjetbühne einzig und alleine dem von der Partei vorgegebene politischen Auftrag. Das revolutionäre Theater sah sich quasi als eine Weiterentwicklung der Methoden, welche sich im Kampf gegen die ausbeutende Klasse bereits als bewährt erwiesen hatten, nämlich der Versammlung, dem Meeting und der Demonstration.

Koordiniert und gesteuert wurde dies von dem Direktor der Sektion Theater beim Volkskommissariat für Volksbildung: Wswolod Meyerhold . Meyerhold war der einzige, der vorrevolutionären Theater­leuten, der sich aus Überzeugung bedingungslos der Revolution angeschlossen hatte. Doch er blieb nicht er einzige Theaterrevolutionär . Sein Augenmerk war auf das proletarische Theater gerichtet, welches sich mit Agitpropmethoden [Agitation und Propaganda] und Proletkult [Proletarische Kultur] beschäftigte. Neben Meyerhold sind noch Alexander Tairow und Jewgeni Wachtangow als mit die wichtigsten Personen zu nennen, die das postrevolutionäre Theater gleichermaßen neu erschufen. Meyerhold war jedoch gewiss derjenige, dessen Theaterkunst sich am intensivsten mit der Darstellung der Revolution beschäftigte und am stärksten auf das frühe Kindertheater einwirkte. Der Vollständigkeit halber aber will ich kurz auf Tairow und Wachtangow und deren Oeuvre eingehen.

Alexander Tairow eröffnete bereits 1914 eine Experimentalbühne, das Moskauer Kammertheater, weswegen er dem akademischen Theater zugerechnet wurde. Akademisch deshalb, da das Theater bereits vor der Oktoberrevolution etabliert wurde[4]. Ihm ging es in seinen Stücken einzig und alleine um die reine Schauspielkunst, die von allen psychologischen, literarischen, bildkünstlerischen und technische Ambitionen bereinigt sein sollte. Nicht umsonst nannte er sein Theater das „entfesselte Theater“[5] . Entfesselt bedeutete dabei keineswegs zügellos. Vielmehr war damit der Ausdruck der Emotionsgeste gemeint, welcher dem Kern der Theaterästhetik Tairows entsprach. Dabei sollten seelische Empfindungen in einen körperlichen Ausdruck überführt werden und zwar in den jeweils am dafür geeignetesten. Tairow beschrieb dies folgendermaßen: „Und wenn ihm [dem Schauspieler] in einem Fall eine pantomimische Inbegriffnahme behilflich sein kann, das Gesuchte zu finden, so entzündet er sich ein anderes Mal an klanglicher Vorstellung, ein drittes Mal an einer plötzlichen inneren Erregung usw.“[6]

Seine Utopie war es, ein synthetisches Theater mit synthetischen Schauspielern zu kreieren. Alle Bühnenkünstler sollten im Besitz vollkommener und umfassender körperlichen Qualitäten sein, im Sinne von Überschauspielern . Diese sollten sich in den Techniken des Spielens, des Tanzens, des Turnens, des Kletterns, etc. heimisch fühlen.

In seinen Aufführungen versuchte Tairow beständig eine möglichst große Anzahl von verschiedenen Bühnenkunstelementen zu verwenden, und verwischte somit die klassischen Rollentypen und Eigenheiten der einzelnen Theatergenres.

Ein weiteres bedeutsames Element seines Schaffens, war die Tatsache, dass er als erster Theaterregisseur dem Bühnenboden mehr Aufmerksamkeit widmete als dem Bühnenhintergrund. Da sah man Quader, Kuben, Pyramiden, Schrägen, Treppen und Lifts, die den ebenen Boden aufbrachen. Einzig durch Farbschattierungen im Hintergrund wurden die entsprechenden Stimmungsbilder der Einzelszenen unterstützt.

Was die literarische Vorlage anbelangte, so diente sie Tairow ausschließlich als Rohmaterial, aus welchem das Theater ein neues und eigenständiges Kunstwerk zu schaffen hatte.

Tairows Kammertheater war zudem nicht direkt mit dem revolutionärem Geschehen in Verbindung zu bringen. Der Regisseur lehnte es entschieden ab, es für eine Form der Agitation und der Mobilisierung der Massen nutzbar zu machen. Vielmehr verhielt es sich so, dass die russische Öffentlichkeit gegenüber allem Neuen sehr aufgeschlossen war und Neuerungen auf jeglichem Terrain als revolutionäre Tat ansah.

Jewgeni Wachtangow war neben Meyerhold und Tairow die dritte große Persönlichkeit des Revolutionstheater. Er entstammte den Reihen des Moskauer Künstlertheaters und wurde in den härtesten Jahren nach der Revolution bekannt. In den Jahren 1920/21, die das russische Volk durch Bürgerkrieg und Hungersnöte am stärksten beanspruchten - die Einwohnerzahl von Moskau verringerte sich um 44,5%, die von Petrograd um 57,5% - machte er mit 4 wichtigen Inszenierungen auf sich aufmerksam. Wachtangow inszenierte Strindbergs „Erik XIV“, Maeterlincks „Das Wunder des heiligen St. Antonius“, das Stück Dybuck, welches auf jüdischen Legenden basiert und Gozzis „Prinzessin Turandot“. Er selbst starb kurz nach der Aufführung der „Prinzessin Turandot“. Schon bei den letzten Proben war er gesundheitlich stark geschwächt. Die Aufführung war ein großer Erfolg, auch bei den ranghöchsten Parteikadern.

Seine „Theaterrevolution“ bestand darin, dass er nach einer von Gorki beeinflussten Impro­visa­tions­me­thodik arbeitete. Als Regisseur gab er zunächst den Rahmen des Stückes, die Charaktere und den Handlungstopos vor. Während den Proben hatten die Schauspieler selbst die Möglichkeit, ihre Rollen mitzudefinieren. Wachtangow blieb jedoch stets als leitende Hand eng am Geschehen. Dadurch setzte er während den Proben das Stück in die dann gültige und spielbare Form. Auf der Bühne war für Improvisation kein Platz mehr.

Während Gorki die Improvisation als Mittel der kollektiven Arbeit deutete, die Schauspieler standen stellvertretend für die Massen, welche ihr Geschick selbst in die Hand nahmen, interpretierte Wachtangow sie anders. Es ging ihm weniger um das Erschaffen kollektiv kulturpolitischer Aussagen, als vielmehr um das freie, gelöste und heitere Spiel. Seine gesellschaftliche Utopie bestand in einer freien und glücklichen Gesellschaft.

Er nutzte ebenfalls neue Stilmittel, wie z.B. eine Drehbühne oder ließ seine Schauspieler vor dem eigentlichen Theaterstück die Anwesenden begrüßen, sich dann von allen gesehen auf der Bühne schminken und die nicht gerade bühnenrelevanten Darsteller während der Inszenierung durch den Zuschauerraum spazieren.

Doch kommen wir zu dem einflussreichsten Mann des frühen revolutionären Theaters: Wslowod Meyerhold. 1874 als Kind vermögender deutscher Eltern in Russland geboren, erlernte er nach dem Tod seines Vaters und dem daraus resultierenden Zusammenbruchs dessen Handelshauses den Beruf des Schauspielers. 1897 schloss er diese mit der höchsten Auszeichnung ab und bekam als einer von wenigen eine Anstellung am Moskauer Künstlertheater, wo er eiligst in die erste Schauspielriege aufstieg. Anfang des 20. Jahrhunderts eröffnete er eine eigene Stilbühne.

[...]


[1] Der Einflussbereich der Arbeiter- und Bauernregierung erstreckte sich am Anfang im wesentlichen auf die großen Industriestädte und deren Umgebung.

[2] Leonhard Froese: Russische und sowjetische Pädagogik, S.177, Heidelberg 1963

[3] Arthur Holitscher: Das Theater im revolutionären Russland, S. 4, Berlin 1928

[4] Der Volksbildungskommissar Anatol Lunatscharski hatte die „alten“ Theatereinrichtungen vorsorglich unter Denkmalsschutz stellen lassen, um sie vor den Wirren der Revolution zu schützen. Er wusste um den Wert der Bühnenkunst für die sozialistische Sache.

[5] Jürgen Rühle: Das gefesselte Theater, S. 98, Köln 1957

[6] ebd., S. 99

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Der rote Oktober des russischen Kindertheaters
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Institut für Bildungswissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
23
Katalognummer
V59972
ISBN (eBook)
9783638537568
Dateigröße
522 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Oktober, Kindertheaters
Arbeit zitieren
Matthias Amos Reinecke (Autor:in), 2004, Der rote Oktober des russischen Kindertheaters, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59972

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