Bourdieu gilt als einer der großen Namen in der Ungleichheitsforschung der jüngsten Zeit. Das liegt sicher auch an seinem Anspruch, ein umfassenderes Konzept zu liefern als Mikrotheorien. Gerhard Schulze oder Stefan Hradil stehen in einer induktiv- empirischen Tradition der Nachkriegszeit, die wohl prägend, wenn auch nicht allein dominierend für die deutsche Sozialstrukturanalyse war. Inwiefern Bourdieu′ s Ansprüche der Überwindung oder Integration von individuenzentrierten Mikrotheorien (z.B. E. Goffman) mittels einer universelleren Theorie gerecht wurden, ist hier aber nicht von Belang. Von eigentlicher Bedeutung ist vielmehr die zunächst deskriptive Darstellung der Begriffe Kapital, Habitus und "Klasse" in ihrem Kontext der Bourdieu′ schen Gesellschaftstheorie. Zweitens jedoch soll untersucht werden, wie diese Begriffe einer Ungleichheitsanalyse dienen und dienen könnten. D.h. wie weit und inwiefern kann eine Anwendung dieser drei zentralen Bausteine erfolgen. Eine kreative Projektion von Habitus, Kapital und "Klasse" auf völlig neuartige Beschreibungswege von Ungleichheit war dabei nicht das Ziel. Auch deshalb, weil das Gesamtkonzept Bourdieu′ s nicht nur eine Kultur- sondern auch eine Machttheorie darstellt, welche die sog. Herrschaftsstrukturen und die ungleichen Lebensverhältnisse a priori zum Gegenstand hat.
Bourdieu liefert nämlich subjektive Kategorien wie Habitus, Lebensstil und Distinktion als zentrale Mittel seiner Ungleichheitsanalyse.
Im resümierenden Schlussteil möchte ich eine kritische Reflexion leisten, welche versucht, diese Arbeit distanziert und auch interpretierend zu erfassen. Wieweit Bourdieu beim Wort nehmen? Den Bezugspunkt bildet für die Frage das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit: Anwendung und Anwendbarkeit, Legitimität und Notwendigkeit der Bourdieu′ schen Termini. Wie fruchtbar und sinnvoll sind diese für eine vertikale und horizontale Ungleichheitsanalyse (objektive und subjektive Kategorie) des Bourdieu′ schen Zuschnitts?
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
I. Kurze Einführung in Bourdieu' s Erkenntismethode
II. Zentrale Begriffe einer Bourdieu' schen Ungleichheitsanalyse
1. Habitus, Kapital und "Klasse"
a) Der Habitus und seine Komplizenschaft mit "Feldern"
b) Die Kapital-Sorten und der "Klassen"- Begriff
b a) Ökonomisches, Soziales und Kulturelles Kapital
b b) Die Ökonomie der praktischen Konvertabilität
b c) Der "Klassen"- Begriff
2. Ungleichheitsforschung: Die Anwendung der Begriffe Habitus, Kapital und
"Klasse"
a) Subjektive Kategorie: Habitus, Lebensstil und Distinktion als Mittel einer
Ungleichheitsanalyse
a a) Die Distinktion durch symbolische Stilisierung
a b) Das Bild der "Feinen Unterschiede"
b) Objektive Kategorien: Die Kapitalien und "Klassen"
b a) Kapitalungleichheit und Bildung
b b) Machtstrukturen
III. Kritische Reflexion: Wieweit Bourdieu beim Wort nehmen?
Literatur
Einleitung
Bourdieu gilt als einer der großen Namen in der Ungleichheitsforschung der jüngsten Zeit. Das liegt sicher auch an seinem Anspruch, ein umfassenderes Konzept zu liefern als Mikrotheorien. Gerhard Schulze z.B., oder Stefan Hradil stehen in einer induktiv- empirischen Tradition der Nachkriegszeit, die wohl prägend, wenn auch nicht allein dominierend für die deutsche Sozialstrukturanalyse war. Inwiefern Bourdieu' s Ansprüche der Überwindung oder Integration von individuenzentrierten Mikrotheorien (z.B. E. Goffman) mittels einer universelleren Theorie gerecht wurden, ist hier aber nicht von Belang.
Von eigentlicher Bedeutung ist vielmehr die zunächst deskriptive Darstellung der Begriffe Kapital, Habitus und "Klasse" in ihrem Kontext der Bourdieu' schen Gesellschaftstheorie. Zweitens jedoch soll untersucht werden, wie diese Begriffe einer Ungleichheitsanalyse dienen und dienen könnten. D.h.: wie weit und inwiefern kann eine Anwendung dieser drei zentralen Bausteine erfolgen. Die Quellen, um dieser Doppelfragestellung nachzugehen, setzen sich hauptsächlich aus der Literatur Bourdieu' s zusammen.
Das Werk Die feinen Unterschiede ist dabei lediglich einer meiner Quellen, weil es die erste Fragestellung nur indirekt abdecken kann, wohl aber die zweite. Wichtig war Zur Soziologie der symbolischen Formen, um die Erkenntnismethodik Bourdieu' s zu umreißen und auch um im Hauptteil einiges zu ergänzen. Natürlich kann kein vollständiger Zugang zu Bourdieu' s Erkenntnismethode gegeben werden. Andere Bausteine, wie die Transformationen sozialer Strukturen, die damit verbundene Kontinuität bzw. Diskontinuität u. a. haben hier keinen Platz, weil sie nicht direkt nötig sind, um der Frage nach der Anwendung der Bourdieu' schen Begriffe als Ungleichheitsanalyse nachzugehen. Stattdessen müssen diejenigen zentralen Elemente der Methodik eingeführt werden, welche im engen Zusammenhang mit der Fragestellung stehen.
Um die Kapitalien darzulegen, war Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital (1983) sehr grundlegend. Nach der prinzipiellen Erläuterung der Begriffe soll unter Punkt II. 2.) dann die Anwendung auf die Ungleichheitsforschung erfolgen, wobei eine enge Orientierung an der Sozialtheorie Bourdieu' s maßgebend war. Eine kreative Projektion von Habitus, Kapital und "Klasse" auf völlig neuartige Beschreibungswege von Ungleichheit war dabei nicht das Ziel. Auch deshalb, weil das Gesamtkonzept Bourdieu' s nicht nur eine Kultur- sondern auch eine Machttheorie darstellt, welche die sog. Herrschaftsstrukturen und die ungleichen Lebensverhältnisse a priori zum Gegenstand hat. Im resümierenden Schlussteil wird keine inhaltliche Zusammenfassung gegeben. Dies wäre eine kaum interessante Wiederholung. Auch die übliche Kritik durch Autoritäten des wissenschaftlichen Diskurses soll ausgespart bleiben. Vielmehr möchte ich eine kritische Reflexion liefern, welche versucht, diese gesamte Arbeit distanziert und auch interpretierend zu erfassen – um die rein deskriptive Ebene der Abschnitte I. und II.1.) zu verlassen. Wieweit Bourdieu beim Wort nehmen? Den Bezugspunkt bildet für diese Frage das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit: Anwendung und, aus dem Blickwinkel von III., Anwend barkeit, Legitimität und Notwendigkeit der Bourdieu' schen Termini. Wie fruchtbar und sinnvoll sind diese für eine vertikale und horizontale Ungleichheitsanalyse (objektive und subjektive Kategorie) Bourdieu' schen Zuschnitts?
Die Bedeutung von epistemologischen Paradigmen wird oft nicht als das identifiziert und gewürdigt, was sie ist, nämlich der ursprüngliche Beobachtungsmodus, mittels dessen sich soziologische Theorie konstituiert. Dieser Modus ist ein strukturierender Filter, welcher den Inhalten einer Theorie, ihrer Form und "Aufbau" erst einen grundsätzlichen Rahmen verleiht.
I. Kurze Einführung in Bourdieu' s Erkenntnismethode
Pierre Bourdieu möchte einen dritten Weg, eine methodologische Zwischenstellung einnehmen, die sich zwischen zwei Fronten aufbaut. Auf der einen Seite der positivistische Empirismus, auf der anderen universelle Metatheorien. Wichtig ist für Bourdieu die Verbindung aus empirischer Verifikation[1] von Theorie mit einem theoretischen gehaltvollen Gebäude. Allgemeiner formuliert er weiter: So "… kann man daher die Konvergenz großer klassischer Theorien anerkennen, soweit es sich um die fundamentalen Prinzipien handelt, nach denen die soziologische Wissenschaftstheorie sich als die Grundlage der partialen Theorien definiert, die sich auf einen bestimmten Rahmen von Fakten beschränken."[2] Bourdieu versucht also eine middle- range theory zu entwerfen, die den Gegensatz der Extrempole auf dem epistemologischen Kontinuum (empirischer Positivismus vs. deduktiver Konstruktivismus) erfolgreich überbrückt.[3]
Eine soziologische Theorie ist demnach "… nur in dem Maße wissenschaftlich, wie sie sich den epistemologischen und logischen Prinzipien der Wissenschaftstheorie des Sozialen, d.h. der soziologischen Metawissenschaft in systematischen Konstruktion eines Systems von Beziehungen und explikativen Schemata dieser Beziehungen verpflichtet weiß."[4] Neben diesen Kriterien und Bedingungen für Soziologie – der Art und Weise der Anwendung der Prinzipien Wissenschaftstheorie – nennt Bourdieu andere Grundlagen.
Geht man, wie Bourdieu dies will, nicht deduktiv und kategorial an die Realität heran, sondern ethnologisch und praxeologisch, so wird ein Bild von Relationen[5] zwischen sozialen Elementen deutlich. "Die Bedeutung, die diese oder jene Handlung… oder dieser oder jener Gegenstand… dem Handelnden oder dem Betrachter unmittelbar darbietet, verbirgt vielmehr ihren wahren Sinn allzu oft, indem sie durch falsche Evidenz von der Erforschung des Stellenwertes ablenkt, den diese Handlung oder dieser Gegenstand ihrer Position im System der Handlungen oder Gegenstände derselben Klasse verdanken."[6]
Analog zur mathematischen Geometrie meint Bourdieu, dass soziale Phänomene nicht als eigenständig existente Substanzen, sondern als Elemente eines Relationensystems zu begreifen sind, das seinerseits wiederum in Relationen zu umfassenderen Strukturen stehen kann. Gültige Gesetze und Prinzipien der Beschaffenheit dieses Systems sind dann aber nicht die inhärenten Eigenschaften des einzelnen Elements, sondern diejenigen der Verbindungsstruktur zwischen den Einheiten. Das Wesen und Charakter der Einheiten bestehen in ihrer theoretisch konstruierten Relation zueinander; die Funktion und Rolle der Einheiten ergibt sich aus den Prinzipien der Verbindungsstruktur, nicht aus ihnen selbst.[7] Man könnte sagen: die sozialen Moleküle gehen eine Verbindung ein und stellen damit ein Substanz mit Eigenschaften dar, welche nicht deckungsgleich mit den jeweils einzelnen Bauteilchen ist: das soziologische Phänomen der Emergenz.
Für diese Relationenstruktur der einzelnen Einheiten lassen sich symbolisch spezifische Gesamtbilder derselben setzen. Forschungsmethodisch gesprochen: "Vereinzelte, hypothetisch konstruierte Begriffe bilden daher, statt konkret und empirisch unmittelbar greifbare Daten zu reproduzieren, die sich in isolierter Form in einem objektiven Korrelat verifizieren ließen, nur ihren wechselseitigen Relationen symbolisch ihren Gegenstand ab."[8] Nur allzu gerne, so Bourdieu, nimmt der Mensch nur die real beobachtbaren Akteure als Elemente wahr und schreibt ihnen in naiv- vorwissenschaftlicher Weise eigenständige Eigenschaften und Handlungsautonomie gegenüber dem Relationensystem der Gesellschaft zu. Fälschlicherweise wird letzteres als quasi natürlich gegebene "Umweltsituation" individuell handelnder Akteure interpretiert.
Entgegen dieser Ansätzen "… erlaubt die Konstruktion eines Reihenmodells, verschiedene soziale Formationen als ebenso viele Realisierungen ein und derselben Transformationsgruppe zu begreifen und auf diese Weise die verborgenen Eigenschaften sichtbar zu machen, sie sich nur enthüllen, wenn man sie… zum kompletten System der Beziehungen, in dem das Prinzip ihrer strukturellen Verwandtschaft sich ausdrückt, in Relation setzt."[9] (Vergleichende Methode) Bourdieu meint den Begriff der Relation auch als eine Form der kausalen Operationalisierung, sprich: von Ursache-Wirkungs-Modellen (Strukturen), die statistische Kovarianzen oder Invarianzen aufweisen können, was sich in positivistischer Manier auch real messen lässt.
Denn "Nur wenn man die Logik eines jeden dieser konstitutiven Systeme oder Subsysteme von Beziehungen einer Gesellschaft… in ihrer Eigenart erfasst, lassen sich die Homologien aufstellen, die die Subsysteme ein und derselben Gesellschaft oder die… verschiedener Gesellschaften miteinander verbinden…".[10] Sowohl die Autonomie jedes konstruierten Modellsystems, z.B. Erziehungs- oder Ökonomiesystem, muss jetzt näher analysiert werden, als auch ein Modell desjenigen umfassenden und integrierenden Systems, das Eigenschaft aufweisen soll, die Autonomie seiner Subsysteme nicht zu verletzen. Die Homologien werden später das Verhältnis zwischen Klassen- positionierung und Lebensstilen von Akteuren, verzahnt durch den Habitus- Begriff, zu erhellen versuchen.
Im Rahmen seiner ethnologischen Arbeit über das Kabylen- Volk in Algerien stieß Bourdieu auf forschungsmethodische Probleme. "Die Konzepte des Strukturalismus berücksichtigen die Tatsache nicht, dass Akteure strategisch handeln, und insbesondere lassen sie keinen Platz für den strategischen Umgang mit Zeit, für die Logik des Verzögerns,… des Beschleunigens und der Rhythmisierung von Sequenzen."[11] Denn die Diskrepanz, die sich zwischen den abstrakten Kategorien der strukturalistischen Methode und der ethnologischen Realität öffnet, die Anwendung der konstruierten Folien auf die empirischen Zustände, ist immer wieder mangelhaft. Statt die Gesetze innerhalb der abstrakten Konstruktionen logisch zu analysieren, wollte Bourdieu nun die Logik der Praxis beschreiben, die eben nicht deckungsgleich mit der Praxis der Logik. Denn eigentümlich für erstere ist, dass die Logik der Praxis nur bis zu dem Punkt eben logisch ist, über dem hinaus ein Logischsein nicht mehr praktisch wäre.
Bourdieu will den Spalt zwischen den Methoden des objektiven Strukturalismus einerseits und des Subjektivismus (u. a. der Phänomenologie) andererseits schließen: "Anhand der Unterscheidung von modus operandi [- der empirische Akteur -] und opus operatum [- das Strukturprodukt -] zeigt er, wie der objektivistische Erkenntnismodus (der von Strukturalisten wie… de Saussure,… Levi-Strauss oder Michel Foucault, aber auch Durkheim vertreten wird) aus der entlasteten Perspektive des wissenschaftlichen Beobachters sichtbar, ja erst durch diese erzeugt wird. Dabei ist diese Perspektive selbst… ein Resultat von Aufzeichenbarkeit. Der… Beobachter hat es stets mit abgeschlossenen Vorgängen zu tun. Ihm präsentiert sich als Gleichzeitigkeit, was sich in der sozialen Praxis nur in sukzessiver Abfolge von stets neuen Spielzügen vollzieht… ".[12] [Hervorheb. i. Orig.]
Als synthetisiertes Resultat ergibt sich ein praxeologischer Erkenntnismodus, der durch ein Doppelgesicht der beiden erkenntnismethodischen Zugänge gekennzeichnet ist. Das praktische Alltagswissen der jeweiligen Lebenswelt (ein phänomenologisch- subjektivistischer Ansatz) besitzt für Bourdieu eine konstitutive Rolle in der Realität der Gesellschaft, weil es nicht bloße Ideologie, Banalität oder blindes Ausführen von Strukturen darstellt, sondern vielmehr die echte, teilnehmende und kreative Bedingung von sozialen Strukturen (also auch von wissenschaftlichen Theorien selbst!) bedeutet. Insofern ist der praxeologische Erkenntnismodus auch ein Mittel zur reflexiven Analyse, und zwar reflexiv bezüglich beider Seiten: Subjektivismus und objektiver Strukturalismus bzw. übertragen auf die Inhalte der Theorie: Mensch und Struktur. Um aber auf die konkrete Ebene der Theorie zu gelangen, lässt sich nun der inhaltliche Begriff des Habitus als Vermittler genau dieses Mensch- Struktur- Verhältnisses einführen.[13]
II. Zentrale Begriffe einer Bourdieu' schen Ungleichheitsanalyse
II. 1. , Kapitalund"Klasse"
II. 1. a) Der Habitus und seine Komplizenschaft mit "Feldern"
Das oben angesprochene Prinzip der Relationierung sozialer Elemente läßt sich auch ethnologisch in einem "System dritter Ordnung", wie Bourdieu es bezeichnet, darstellen und damit konkret die Relation zwischen beobachtbaren Handlungsregelmäßigkeiten einerseits und den objektiven Strukturen andererseits bezeichnen. Handlungen sind aber auf Akteure zurückzuführen, die durch mentale Schemata (kognitiver oder emotionaler Art) bestimmte kulturelle Praktiken ausführen. "Es bedeutet keinen Rückfall in die Naivitäten eines >Subjektivismus<…, wenn man daran erinnert, dass die objektiven Beziehungen letztlich nur mittels des Systems der Dispositionen ihrer Träger existieren und sich realiter nur durch das Produkt der Verinnerlichung objektiver Bedingungen realisieren. Diese Vermittlung leistet der Habitus… ".[14] Dieser ist ein System von organischen und mentalen, dauerhaften und übertragbaren Handlungs- u. Geistesdispositionen. Konkreter sind damit die unbewussten Gefühls-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata gemeint, welche durch den Habitus[15] im Akteur aktiviert werden. "Dauerhaft" heißt, dass der Habitus aufgrund der primären Sozialisation fest inkorporiert wurde, er ging gleichsam in Fleisch und Blut über und ist unbewusst, vorreflexiv. "Übertragbar" heißt ferner, er wird als reale Praktik leicht an andere Personen herangetragen, z.B. von Kinder erlernt.[16] Das Habitus- Konzept ist der Schlüssel zur allgemeinen Sozialtheorie Bourdieu' s - auch wenn das Grundprinzip in langer Tradition steht (Aristoteles, Weber, Durkheim, Husserl u. a.).
Allerdings sollte man, so kritisieren Bohn/ Hahn, den Habitus als Überbegriff von einerseits familiären Primärhabitus der Erziehung, und außerdem zahlreiche Sekundärhabituus[17] der Adoleszenz erweitern, z.B. Berufsrollen und Milieuhabitus. Denn der Habitus, und das betont Bourdieu wiederum, ist historisch gewachsen und bietet dem Akteur geschichtlich entwickelte und aggregierte Schemata an, die dieser verinnerlichen kann und muss, will er praktisch sinnvoll handeln.
Der Habitus ist der praktische, unbewußte Sinn für "angemessenes", sozial sinnvolles Handeln bezüglich des Umfeldes. Mit dem Fokus auf Ungleichheit bedeutet der Habitus generell einen vorreflexiven Geschmackssinn in Form von Distinktionsstrategien, welche die Akteure von anderen abgrenzen.
Die Inkorporierung von Geschichte und damit von Gesellschaft als Struktur ermöglicht Soziabilität, d.h. an Strukturen erfolgreich gekoppelte Akteure; allerdings sind die Strukturen auf Akteure angewiesen, um nicht im Nichts zu verschwinden; Strukturen müssen permanent reproduziert werden. Das klassische Kreislaufmodell schließt sich dann, wenn Akteure ihrerseits als Produzenten von Kulturpraxis auftreten, aber zugleich deren Produkte sind.[18] "Der Habitus gilt… als ein durch geregelte Improvisation dauerhaft begründetes Erzeugungsprinzip, als generatives Prinzip der Praxis. Das heißt aber nicht, dass er zum exklusiven Prinzip aller Praxis erhoben wird, wenn es auch… keine Praxis gibt, der kein Habitus zugrunde liegt."[19] – er beinhaltet also die Möglichkeit der Kreativität seitens des Akteurs.
Der Habitus reproduziert sich selbst durch unbewusstes Wiedergeben von inkorporierten Handlungsstrategien. Diese Handlungen der Akteure durchlaufen den Filter der jeweiligen Habitusstruktur und sind deshalb sinnhaft, weil sie sich kulturpraktisch (gemäß des sens pratique) auf die objektiven Strukturen im Umfeld beziehen müssen. Solche Felder sind die Strukturen des sozialen Raumes, was allerdings eingehender erläutert werden soll.
Die soziale Wirklichkeit ist eine relationale Verknüpfung von Akteurs-Positionen, welche sich im Verhältnis zueinander und im Verhältnis zu umfassenderen, objektiven Strukturen definieren und bilden. Die Gesellschaft, und das impliziert bei Bourdieu eine empirische, historisch- kulturell definierte Gesellschaft und nicht universell "Gesellschaft schlechthin", lässt sich als mehrdimensionaler Raum darstellen. Der soziale Raum, das sind ausdifferenzierte[20] und konkurrierende Felder (z.B. Politikfeld, Bildungsfeld, Ökonomie etc.) mit je eigener Logik, Prinzipien und Zwängen, welche sie von anderen Feldern klar unterscheiden. Dennoch lassen sich trotz Unterschiede wiederum analoge Strukturen zwischen den Feldern erkennen. Z. b. besitzt jedes Feld das Prinzip der Bipolarität: "Neulinge vs. Platzhirsche", Herrschende vs. Beherrschte und Reich vs. Arm.[21]
"Da Feldgrenzen… nicht ausschließlich durch Sinngrenzen bestimmt sind, sondern durch je aktuelle Konstellationen von Akteuren, entsteht immer dort ein neues soziales Feld, wo die soziale Magie (Mauss) den Akteuren etwas wert erscheinen lässt, umkämpft zu werden... Felder sind als Kampffelder, Kräftefelder und Spielfelder charakterisiert."[22] (Hervorheb. i. Orig.) In ihnen stehen die Akteure in einem permanenten Kampf, in dem inkorporierte Strategien angewandt werden, um sozialen Gewinn in Form von Positionierungsprofit (Aufstieg der Position in einer Anerkennungshierarchie) zu erzielen. Dabei kämpft man nicht nur gegen die Anderen Spieler eines Feldes (gegen die Neulinge/ die Arrivierten) sondern auch gegen die Strukturregeln (bipolar: legitim/ illegitim), welche das Spielgeschehen ordnen. Zugespitzt formuliert: Beim Spielen um Gewinn kämpfen Akteure agonisch um den Einsatz, aber zugleich auch um seinen Wert, um die Legitimität im Feld schlechthin und um die Spielregeln selbst.[23] Der fürs Spielen notwendige Spieleinsatz (enjeu) hat die Form von "Kapital".
D.h. sozialer Sinn ist dann der Sinn des Feldes, der permanent durch Akteure politisch um- und erkämpft[24] werden muss. Bedingend für Felder "… bedeutet croyance den von den Beteiligten geteilten Glauben an den Sinn und Wert des Spiels, einschließlich dessen enjeu … Der Glaube ist daher entscheidend, zu welchen Feld man gehört."[25] Zweitens ist bedingend, dass eine feldspezifische, sog. illusio vorherrscht, d.h. im Feld verhafteten Wirklichkeitsannahmen und Bedeutungsinvestitionen über die Realität gelten. Jedes Feld besitzt durch die implizite (!) croyance bei den Akteuren und die implizite (!) illusio im Feld einen praktischen Sinn, der die jeweiligen Strukturen und Handlungen spezifisch ordnet. "Die Felder >bedürfen< also handelnder Menschen: > Illusio < bzw. Interesse, die ökonomische und psychische Besetzung des Spiels, sind zugleich Vorraussetzung - >insofern es 'die Leute antreibt', sie laufen, konkurrieren… lässt< und Produkt des funktionierenden Feldes."[26] (Hervorheb. i. Orig.)
Diese mesalliance, die sog. Komplizenschaft zwischen dem Habitus konkret handelnder Akteure und organisierter Gruppen einerseits und dem jeweiligen strukturellen Feld zeigt sich in einem Bilde der reziproken Wechselbedingtheit. Der Habitus ist quasi "Leib gewordene Geschichte", das Feld ist "Ding gewordene Geschichte"; diese kulturelle Akkumulation und die daran anschließende Institutionalisierung von Geschichte in Form eines bestimmten Feldes spielt dabei immer eine rahmenstiftende Rolle für dieses reziproke Verhältnis. Die Komplizenschaft von Feld und Habitus heißt ferner, dass Letzerer durch/ in Wechselbeziehung mit Feld gemäß des praktischen Sinns entsteht: "Der Habitus realisiert sich nur in Beziehung zu einem Feld, wenn er auf die Bedingungen seiner Wirksamkeit< trifft, nämlich auf Bedingungen, >die jenen identisch oder analog sind, aus denen er selbst hervorgegangen ist<.
[...]
[1] Der Terminus "Verifikation" von Hypothesen verweist auf die Methode des Logischen Empirismus, der "positivistischer" ist als z.B. der Kritische Rationalismus mit seinem Ziel der "Falsifikation".
[2] Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen. 1. Aufl., Frankfurt/M. 1970, S. 9.
[3] Ebd., S. 35.
[4] Ebd., S. 9.
[5] Fröhlich, Gerhard: Kapital, Habitus, Feld, Symbol. Grundbegriffe der Kulturtheorie bei Pierre Bourdieu.
IN: Mörth, Ingo/ Fröhlich, Gerhard (Hg.): Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der
Moderne nach Pierre Bourdieu, Frankfurt/M. 1994, S. 33.
[6] Bourdieu (1970), S.13.
[7] Ebd., S.11, 32.
[8] Ebd., S.17.
[9] Ebd., S. 33.
[10] Ebd. S. 35ff.
[11] Bohn, Cornelia/ Hahn, Alois: Pierre Bourdieu. IN: Kaesler, Dirk (Hg.): Klassiker der Soziologie. Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, 1. Aufl., München 1999, Bd. 2, S. 253.
[12] Ebd., S. 255.
[13] Ebd., S. 256ff.
[14] Bourdieu (1970), S. 39ff.
[15] Bourdieu erwähnt, dass der Begriff "Bildung" die Doppelfunktion des Habitus als Knotenpunkt zwischen Objektiven Relationen (Ausbildung) und Subjektiver Mentalität (Gebildetsein) besser ausdrücken würde.
[16] Bourdieu spricht bei der familiaren Internalisierung auch von "Vererbung" von Kulturpraktiken.
[17] Bohn/ Hahn, S. 261.
[18] Bohn/ Hahn, S. 258ff.
[19] Ebd., S. 258.
[20] Ausdifferenziert sind sie erst im Verlauf historischer Prozesse.
[21] Bourdieu, Pierre: Soziologische Fragen. 3. Aufl., Frankfurt/M. 1993, S. 107.
[22] Bohn/ Hahn, S. 262.
[23] Bourdieu (1993), S. 108; Bourdieu (1989), S. 497.
[24] Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und "Klassen" -Lecon sur la Lecon. 3. Aufl., Frankfurt/M. 1995, S. 19ff.
[25] Ebd., S. 262.
[26] Fröhlich, S. 41.
- Arbeit zitieren
- Adrian Arnold (Autor:in), 2004, Pierre Bourdieu's Theorie als sozialstrukturelle Ungleichheitsanalyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60092
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