Säuglinge, die Schwierigkeiten bei ihrer Selbstregulation haben und daher viel schreien oder Probleme beim Stillen, Füttern, Essen und Schlafen haben, bereiten vielen Eltern Sorgen. Diese Probleme zählen zu den häufigsten Gründen für einen Besuch beim Kinderarzt. Auch wenn sie im ersten Lebensjahr fast bei allen Kindern zeitweise auftreten, aber generell schnell wieder vergehen, kann es vorkommen, dass die Probleme über eine lange Zeit in extremer Form anhalten. So können einige Säuglinge fast jede Nacht nicht ein- oder durchschlafen. Andere wollen über Wochen einfach nichts essen oder schreien exzessiv den ganzen Tag über, sind quengelig und unruhig und lassen sich trotz aller Bemühungen der Eltern nicht beruhigen. Etwa 15- 30 % der gesunden Säuglinge entwickeln solche „Schrei-, Schlaf- und Fütterstörungen“, die in der Forschung und Praxis als „Regulationsstörungen in der frühen Kindheit“ verstanden werden. Wie solche Regulationsstörungen im ersten Lebensjahr genauer definiert werden, welche Ursachen sie haben können und durch welche Störungsbilder sie gekennzeichnet sind, soll in der Arbeit dargestellt und beschrieben werden. Dabei wird erst zu erklären versucht, was (Selbst-)Regulationsstörung genau bedeutet, wechle Faktoren sie beinflussen und welche Bedeutung sie für die kindliche Entwicklung hat. Zum Schluss soll anhand der genaueren Störungsbeschreibung des „exzessiven Schreines“ aufgezeigt werden, wie sich Regulationsstörungen eventuell auf die sich entwickelnde Eltern- Kind- Beziehung auswiken, und warum eine Intervention durch eine Beratung oder Therapie hilfreich und notwenig sein könnte.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Frühkindliche Regulationsprozesse
1.1 Selbstregulatorische Fähigkeiten des Säuglings
1.2 Eltern als unterstützende ‚Ko- Regulatoren’
2 Regulationsstörungen
2.1 Definition
2.2 Ätiologie und Entstehungsbedingungen
2.2.1 Mögliche Risikofaktoren
2.2.1 Das Teufelskreis- Prinzip
2.3 Störungsbilder und Prävalenz
3 Exzessives Schreien
3.1 Definition und Abgrenzung
3.1 Ätiologie und Prävalenz
3.2 Leitsymptome und Erscheinungsbild
3.3 Auswirkungen auf die Eltern- Kind- Beziehung
3.4 Interventions- und Therapiemöglichkeiten
4 Ausblick
Verwendete Literatur
Einleitung
Säuglinge, die Schwierigkeiten bei ihrer Selbstregulation haben und daher viel schreien oder Probleme beim Stillen, Füttern, Essen und Schlafen haben, bereiten vielen Eltern Sorgen. Diese Probleme zählen zu den häufigsten Gründen für einen Besuch beim Kinderarzt. Auch wenn sie im ersten Lebensjahr fast bei allen Kindern zeitweise auftreten, aber generell schnell wieder vergehen, kann es vorkommen, dass die Probleme über eine lange Zeit in extremer Form anhalten. So können einige Säuglinge fast jede Nacht nicht ein- oder durchschlafen. Andere wollen über Wochen einfach nichts essen oder schreien exzessiv den ganzen Tag über, sind quengelig und unruhig und lassen sich trotz aller Bemühungen der Eltern nicht beruhigen. Etwa 15- 30 % der gesunden Säuglinge entwickeln solche „Schrei-, Schlaf- und Fütterstörungen“, die in der Forschung und Praxis als „Regulationsstörungen in der frühen Kindheit“ verstanden werden.
Wie solche Regulationsstörungen im ersten Lebensjahr genauer definiert werden, welche Ursachen sie haben können und durch welche Störungsbilder sie gekennzeichnet sind, soll in der folgenden Arbeit dargestellt und beschrieben werden. Dabei wird erst zu erklären versucht, was (Selbst-)Regulationsstörung genau bedeutet, wie diese in etwa funktioniert und welche Bedeutung sie für die kindliche Entwicklung hat. Zum Schluss soll anhand der genaueren Störungsbeschreibung des „exzessiven Schreines“ erklärt und aufgezeigt werden, was für Auswirkungen Regulationsstörungen auf die sich entwickelnde Eltern- Kind- Beziehung haben können, und warum eine Intervention durch eine Beratung oder Therapie hilfreich und nötig ist.
1 Frühkindliche Regulationsprozesse
Nach der Geburt wird das Neugeborene mit vielen neuen inneren und äußeren Reizen konfrontiert. Sein Körper muss in den ersten Wochen vor allem physiologische Anpassungsprozesse bewältigen, z.B. in Bezug auf die eigenständige Atmung, Nahrungsaufnahme und Verdauung sowie der Regulation des Temperaturhaushaltes und des Schlaf- Wach- Rhythmus.
Zu neuen Gefühlen wie Hunger oder Müdigkeit, die es lernen muss zu erkennen und zu regulieren, kommen eine Vielzahl an Reizen aus seiner Umgebung, die es zusätzlich wahrnehmen und integrativ verarbeiten muss.
Wenn sich im Laufe der ersten drei Monate das physiologische Grundsystem weitestgehend stabil an die neuen Lebensbedingungen angepasst hat, treten diese äußeren Sinnensreize für den Säugling in den Vordergrund und er beginnt sich aktiver mit seiner Umwelt auseinander zu setzen und zu interagieren. Aber auch mit diesen Sinneserfahrungen muss er erst lernen umzugehen, damit er sie konstruktiv für seine Entwicklung nutzen kann. (vgl. Ziegenhain u.a. 2004, S. 20; Papoušek 1999, S. 151)
Auf Grund der Notwenigkeit, sich erfolgreich an seine Umwelt anzupassen, ist der menschliche Organismus bei der Geburt mit einem komplexen, genetisch angelegten System ausgestattet, welches Anpassungs- und Reifungsprozesse auf allen Ebenen steuert. Der Säugling wird so unter anderem in seinen ersten Entwicklungsaufgaben durch diese selbstregulatorischen Mechanismen seines Körpers unterstützt. Zudem besitzt er die angeborene Fähigkeit zu lernen, sich selbst zu regulieren und zu stabilisieren.
Wie dem Säugling dies gelingen kann, was (Selbst-)Regulation genau bedeutet, wie sie im allgemeinen funktioniert und wieso sie für ihn und seine Entwicklung wichtig ist, soll im Folgenden versucht erklärt und beschrieben zu werden.
1.1 Selbstregulatorische Fähigkeiten des Säuglings
Die neuronale (sowie auch die gesamte) Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes verläuft unter anderem dann erfolgreich, wenn das Kind auf allen Ebenen lernt, ein Gleichgewicht zu finden, da es sich so besser mit neuen Erfahrungen und Aufgaben auseinandersetzen und beschäftigen kann.
Wenn es z.B. wach ist und sich wohl fühlt, kann es das Neue in seiner Umgebung gut aufnehmen. Um es zu verarbeiten und mit bereits gemachten Erfahrungen neuronal verknüpfen zu können, braucht er dann aber Zeit und Ruhe, z.B. während des Schlafens. Gelingt es ihm nicht, sich zurückzuziehen und ‚abzuschalten’, ist sein Organismus durch zu viele Reizeinwirkungen überfordert und kann die Informationen nicht richtig verarbeiten.
Der Säugling muss sich also auf der einen Seite wohl fühlen, aktiv und wach sein, um neue Erfahrungen aufnehmen und sich auf der anderen Seite von der Umwelt zurückziehen, um jene verarbeiten zu können. Dieses entwicklungsnotwendige Verhalten, ein Gleichgewicht von Aktivierungs- und Beruhigungsprozessen für eine gelingende Integration von Erfahrungen zu finden, wird von M. Papoušek als „basale adaptive Selbstregulation“ bezeichnet (vgl. Papoušek 1999, S. 151 f.). Damit ihm diese gelingt, helfen ihm verschie-dene angeborene Verhaltensweisen und –zustände, die einerseits automatisch versuchen, eine neue Balance zu finden und daneben Signale der Überforderung an die Umwelt senden. Andererseits kann er sie nutzen, um aktiv selbst wieder in ein Gleichgewicht zu finden, sich also selbst zu regulieren.
So reagiert der Säugling auf Stress, wie Hunger oder Überstimulation, auf Grund komplexer Zusammenhänge mit seinem gesamten Organismus, also auch auf physiologischer Ebene (s. Tab. 1). Es lassen sich grob vier große Systeme zusammenfassen, die durch innere und äußere Stressoren destabilisiert und mit Hilfe des jeweils darrunterliegenden Systems wieder stabilisiert werden können. Wenn sich das Kind z.B. beim Wickeln durch hektische Bewegungen der Mutter überfordert fühlt, reagiert zuerst das ‚Interaktives System’, welches seine Aufmerksamkeit und soziale Aufgeschlossenheit steuert. Es wendet den Blick ab, unterbricht den Kontakt, um dem Stress zu entgehen und wird eventuell unruhig. Bleibt die Belastung bestehen, weil die Mutter nicht darauf reagiert, versucht es durch Quengeln, Schreien auf sich aufmerksam zu machen oder flüchtet in einen Halbschlaf und versucht sich nun so auf der Ebene der ‚Schlaf- Wachzustände’ zu regulieren. Hilft ihm das ebenfalls nicht weiter, reagiert sein ‚Motorisches System’. Es umfasst unter anderem seine Bewegungskoordination und seinen Muskeltonus (Spannungszustände). Es beginnt sich zu verkrampfen, ballt seine Hände und überstreckt seinen Körper. Wenn die Belastung zu groß wird und der Säugling es nicht schafft, all diese Systeme zu stabilisieren, reagiert er auf physiologischer Ebene (‚Autonomes System’). So wird unter Umständen die Atmung schneller und unregelmäßiger, Blutdruck und Herzschlag erhöhen sich. Der Stress kann sich auch auf seine Verdauung auswirken und er bekommt Schluckauf, Blähungen und vermehrten Speichelfluss (beginnt z.B. viel zu spucken) ( vgl. Ziegenhain u.a. 2004, S. 20) :
Tab. 1: Verhaltensanzeichen in den vier Subsystemen
(nach Als 1984, in Ziegenhain u.a. 2004, S.66)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Diese Verhaltenssysteme stehen in einem engen Zusammenhang mit den sogenannten ‚Verhaltenszuständen’. Sie sind verschiedene Verhaltensmöglichkeiten des Säuglings, wie z.B. wach und aufmerksam sein, quengeln, schreien oder auch schlafen und unterscheiden sich nach dem Grad der Ansprechbarkeit und Wachheit. Sie bedingen die bereits beschriebenen Aktivierungs- und Beruhigungsprozesse (vgl. Ziegenhain u.a. 2004, S. 23f.; Papoušek 1999, S. 152f.). Mit ihnen kann der Säugling in der Interaktion mit seiner Umwelt selbst bestimmen, wann er sich ihr zuwendet und Anregung möchte oder sich überfordert fühlt und schreit, Erholung braucht, sich abwendet und schläft.
„Wenn ein Baby in der Lage ist, den Wechsel der Verhaltenszustände entsprechend seines Befindens und seiner Bedürfnisse zu regulieren, dann hat es eine wichtige Fähigkeit zur Selbstregulation erworben“( Ziegenhain u.a. 2004, S. 23). Das heißt aber auch, dass es zwar mit regulatorischen Kompetenzen auf die Welt kommt, diese dann aber ausbauen muss. Mit inneren und äußeren Reizen umzugehen und durch den Versuch aktiver Selbstregulierung für ein inneres Gleichgewicht zu sorgen, ist somit eine der ersten wichtigen Entwicklungsaufgaben des Säuglings.
1.2 Eltern als unterstützende ‚Ko- Regulatoren’
Für eine gelingende Entwicklung braucht der Säugling jedoch die Hilfe seiner Eltern, bzw. Bezugspersonen: „Ein wichtiges Kennzeichen der frühkindlichen Selbstregulation ist ..., dass sie biologisch auf eine komplementär angepasste regulatorische Unterstützung [‚Ko-Regulation’] von seiten der primären Bezugspersonen angelegt und angewiesen ist.“ (Papoušek 1999, S. 153)
Wie bereits beschrieben, signalisieren Kinder von Anfang an mit ihrem Verhalten wie es ihnen geht und was sie brauchen. Sie sind so durch schreien, lächeln oder wegschauen in der Lage, nonverbal mit ihren Eltern zu kommunizieren und ihnen mitzuteilen, wie es ihnen geht und welche ihrer, auch lebensnotwendigen, Bedürfnisse gerade befriedigt werden müssen (wie z.B. Stillen/Essen, Wickeln, emotionale Nähe).
Eltern können diese Signale und Botschaften feinfühlig wahrnehmen, verstehen und automatisch angemessen auf sie reagieren (vgl. Grossmann & Grossmann 2005, Kap. II). Zudem stellen sie in der Interaktion instinktiv ihre Gestik, Mimik, Stimme und Sprache auf die kindlichen Fähigkeiten und Befindlichkeiten ein und helfen ihm damit, sie zu ‚verstehen’, mit den Interaktionserfahrungen besser umgehen zu können und sich, z.B. durch eine ruhige, melodische Stimmführung, zu beruhigen. Daneben unterstützen sie ihr Kind mit weiteren Beruhigungshilfen, wie z.B. schaukeln oder streicheln, wenn es signalisiert, dass es müde oder überfordert ist.
Es wird davon ausgegangen, dass diese Fähigkeit zu wissen, was ihr junges Kind braucht und es ihm geben zu können, angeborene intuitive Kompetenzen sind, die im Umgang mit Säuglingen kulturübergreifend auch bei ‚Nichteltern’ sowie bereits bei vierjährigen Kindern beobachtet werden können.
Intuitive elterliche Kompetenzen dienen unter anderem dazu, den Säugling bei der Ent-wicklung seiner selbstregulatorischen Fähigkeiten zu unterstützen und bestehende „... Ein-schränkungen der kindlichen Selbstregulation kompensatorisch auszugleichen. ... Die regulatorischen Entwicklungsaufgaben der frühen Kindheit werden somit im fein abgestimmten Zusammenspiel der selbstregulatorischen Fähigkeiten des Säuglings und der intuitiven regulatorischen Unterstützung durch die Eltern gemeinsam gelöst“ (Papoušek 1999, S. 154).
In der alltägliche Interaktion, erwirbt der Säugling zunehmend mehr Kompetenzen, lernt und spürt, dass es Hilfe und emotionale Zuwendung bekommt. Er wird aufmerksamer, kommunikativer und auch ruhiger und gibt seinen Eltern viele positive Feedbacksignale (z.B. Lächeln). Seinen Eltern zeigt er so, dass das richtige tun und verstärkt damit ihr elterliches Selbstvertrauen. Durch diese wechselseitigen befriedigenden Erfahrungen entsteht eine positive Gegenseitigkeit, die auf Grund ihres Kreislaufcharakters relativ stabil ist und so ein Schutzfaktor wird, der gelegentlich auftretende Belastungen auffangen und bewältigen kann. (vgl. Papoušek 1999, S. 153 f.; Lohaus u.a. 2004, S. 147-158 )
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- Arbeit zitieren
- Nina Sandleben (Autor:in), 2006, Regulationsstörungen in der frühen Kindheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60222
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