Kritische Theorie und politische Praxis


Hausarbeit (Hauptseminar), 1999

53 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Prolog 4

1. Der Werturteils- und Positivismusstreit in der deutschen Soziologie
1.1. Der Werturteilsstreit
1.2. Der Positivismusstreit
1.3. Kritikverständnis
1.4. Dialektik
1.5. Der logische Positivismus des Wiener Kreises

2. Kritische Theorie

3. Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft ?
3.1. Divergenzen der Prognosen dialektischer Theorie
3.1.1. Nicht-Existenz eines Klassenbewußtseins
3.1.2. Relevanz des Tauschprinzips:
3.1.3. Affirmativ idealistisches Geschichtsbild
3.2. Das Verhältnis von materialistischer Dialektik und spätkapitalistischen Kohäsionskräften
3.2.1. Konzeption eines „Außen“ als qualitative Differenz
3.3. Herrschaftsmechanismen der repressiven Totalität
3.3.1. Bedürfnispräformation und ökonomischer Interventionismus
3.3.2. Gesellschaftliche Notwendigkeit der Ideologie der Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen
3.4. Integraler Etatismus als höchste Form des Staatskapitalismus
3.4.1. Die Dialektik der sozialen Umwälzung
3.4.2. Bedeutung der Theorie für die revolutionäre Praxis
3.4.3. Staatskapitalismus als vernünftige Alternative zum Liberalismus?
3.5. Ökonomische Organisation des Staatskapitalismus und seine Relevanz für eine befreite Gesellschaft
3.5.1. Neuordnung des sozialen Lebens
3.5.2. Kontrolle der Produktion
3.5.3. Kontrolle der Distribution
3.5.4. Ökonomische Grenzen des Staatskapitalismus
3.5.5. Natürliche Limitationen des Staatskapitalismus
3.5.6. Sozialstruktur
3.6. Die eindimensionale Gesellschaft / Unterbindung sozialen Wandels und Integration der Gegensätze
3.6.1. Technologisches Apriori der Herrschaft:
3.6.2. Präformation der Individuen (Introjektion „falscher“ Bedürfnisse)
3.6.3. Akkomodation jeglicher kritischer und transzendentaler Opposition
3.6.4. Der Wohlfahrts- und Kriegsführungsstaat
3.6.5. Repressive Entsublimierung
3.7. Eindimensionales Denken und Verhalten
3.7.1. Kritik der empirischen Sozialforschung
3.7.2. Das ein- und zweidimensionale Denken
3.7.3. Die Logik der Herrschaft

4. Einheit von Theorie und Praxis?
4.1. Die Dialektik von Theorie und Praxis
4.2. Notwendigkeit theoretischer Reflexion
4.3. Triebstruktur und sozialer Wandel / Einheit von Theorie und Praxis
4.4 Kritische Theorie und Studentenrevolte
4.5. Resumée

5. Literaturverzeichnis

Prolog

Das Institut für Sozialforschung (IfS), deren drei wichtigsten Gründungsmitglieder Felix Weil (1898 - 1975), Friedrich Pollock (1894 - 1970) und Max Horkheimer (1895 - 1973) waren, wurde am 3. Februar 1923 in Frankfurt am Main gegründet und sollte ein Forum für marxistische Studien sein. Der erste Direktor und Ordinarius des Institutes war Carl Grünberg (1861-1940). Es war das erste Mal, daß in Deutschland ein erklärter Marxist auf einen Lehrstuhl an einer Universität berufen wurde. 1933 wurde das Institut von den Nazis geschlossen und nach New York verlegt, von wo aus es seine Arbeit fortführte. Im Exil und unter den Erfahrungen des deutschen Faschismus entstanden die radikalsten und kritischsten Werke der später sogenannten Frankfurter Schule, des Arbeitskreises unter Max Horkheimers Führung. Die Bezeichnung Frankfurter Schule hat sich erst in den 60er Jahren eingebürgert und diente der Abgrenzung gegenüber der Münsteraner Schule um Helmut Schelsky, der Kölner Schule um Rene König und der Marburger Schule um Wolfgang Abendroth. Die von der Frankfurter Schule betriebene „klassische“ kritische Theorie hatte die Kritik an der okzidentalen Vernunfttradition, der instrumentalen Vernunft, zum Gegenstand. Der Aufklärungsprozeß wurde von ihr nicht als Fortschritt der Menschheit, sondern als deren Verfallsgeschichte angesehen. In der Anfangsphase (von 1923-1930) arbeiteten u.a. Max Horkheimer, Karl August Wittvogel, Friedrich Pollock, Hendrik Großmann, Franz Borkenau, Leo Löwenthal und Erich Fromm am IfS. Theodor Wiesengrund Adorno wurde erst 1938 Mitglied des Institutes, avancierte dafür aber zu einem seiner bedeutendsten Mitarbeiter. Nach dem Tod Grünbergs 1927 durch einen Schlaganfall, trat 1929 Max Horkheimer als zweiter Institutsdirektor seine Nachfolge an und besetzte den neu gegründeten Lehrstuhl für Sozialphilosophie an der Universität Frankfurt. In seiner Antrittsrede vom 24.1.1931 vertrat er die Auffassung, daß nur die wissenschaftliche Disziplin der Sozialphilosophie in der Lage sei, die sowohl in der Philosophie als auch in den Sozialwissenschaften entstandenen Defizite zu beheben und dadurch die Gegensätzlichkeit von philosophischer Theorie einerseits und einzelwissenschaftlicher Praxis andererseits zu kompensieren..

Die Sozialphilosophie übt Kritik an der „klassischen“ Philosophie des Idealismus, die seit Immanuel Kant (1724-1804) als eine Leistung der Einzelpersönlichkeit angesehen wurde, deren Medium die Selbstbesinnung ist. Für Georg Friedrich Wilhlem Hegel (1770-1831), welcher sie zur Sozialphilosophie weitergedacht hat, stellt das Individuum zwar weiterhin den Ausgangsort dar, aber es ist nicht länger der Ort, in dem Wissenschaft und Gegenstände zusammenfallen, sondern der Sinn des Seins liegt nun in der Vernunft des Ganzen. Mit Horkheimer und der auf Hegel basierenden Sozialphilosophie trat ein Perspektivenwechsel ein; es ist nicht länger die Person allein, die den Sinn des Lebens aus allgemeinen Regeln ableiten muß, sondern das individuelle Streben nach Glück steht in einem dialektischen Verhältnis zum Ganzen. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wurden zum Gegenstand philosophischer Reflexion. Diese Ortsbestimmung einer modernen Sozialphilosophie ist zum einen ein Plädoyer für Interdisziplinarität, während auf der anderen Seite eine Verschiebung der zentralen Aufgaben von der Analyse der ökonomischen Gesamtsituation auf die sogenannten Überbauprobleme, insbesondere der kulturellen Phänomene evident wird.

Unter der Bezeichnung „Kritische Theorie“ oder „Frankfurter Schule“ wird allgemein diese spezifische (sozial-) philosophische und gesellschaftstheoretische Forschungsrichtung bzw. ein solcher Arbeits- und Wirkungszusammenhang verstanden, deren erklärtes Ziel die fortwährende Reflexion über die Pathologien der Moderen war, verbunden mit dem Anspruch auf eine mündige, aufgeklärte und bessere Welt. Der ausgeübte Einfluß so herausragender linker Intellektueller, wie Horkheimer, Adorno, Benjamin, Marcuse, Fromm, Habermas, Neumann, Kirchheimer, etc. ist bis auf den heutigen Tag unbestritten. Die von ihnen vertretene kritische Soziologie stand in der Tradition zweier großer Theoretiker, Hegel und Marx, und begriff die Gesellschaft als eine antagonistische Totalität. Das ihrer Analyse des sozialen Lebens zugrundeliegende sozialwissenschaftliche Paradigma, beinhaltet eine materialistische Theorie des gesamtgesellschaftlichen Lebensprozesses, welche in der Kombination von Philosophie und Sozialwissenschaft systematisch die Psychoanalyse und gewisse Denkmotive vernunfts- und metaphysikkritischer Denker in den historischen Materialismus integrierte. Ihr Programm einer rationalen Kritik der Rationalität ist das einer emphatischen Kulturkritik; konkrete Kritik entfremdeter und entfremdender sozialer Verhältnisse. Die prägenden Einflüsse auf diese, in sich heterogene, Forschungsrichtung, waren u.a. das Aufkommen des Faschismus (implizit des Antisemitismus, sowie dessen Bedeutung für ihre gesellschaftliche Rolle als Juden), im Anschluß daran die Situation im Exil in den USA, sowie das Scheitern der Arbeiterbewegung in den europäischen Ländern (explizit das Scheitern der Oktoberrevolution in der Sowjetunion).

In der vorliegenden Arbeit möchte ich mich nun mit dem (problematischen) Verhältnis von wissenschaftlicher Theorie (im besonderen der kritischen Theorie der Frankfurter Schule) und politischer Praxis im allgemeinen, unter den Bedingungen der modernen spätkapitalistischen Gesellschaft, beschäftigen:

Im zweiten Teil der Arbeit werde ich eine semantische Bestimmung des Kritikbegriffs der Frankfurter Schule, in Abgrenzung zum positivistischen bzw. pragmatischen Kritikbegriffs des Wiener Kreises, im besonderen von K.R. Poppers Position des kritischen Rationalismus, vornehmen. Da die Thematik von außerordentlich wissenschaftstheoretischer Relevanz ist, werde ich beide Positionen im Kontext des sogenannten Werturteils- und Positivismusstreites rekonstruieren (Teil 1). Aus didaktischen Gründen erscheint es mir für das allgemeine Verständnis weiterhin sinnvoll und notwendig, einen kurzen semantischen Überblick über die beiden zugrundeliegenden philosophischen Denktraditionen (einerseits der Hegelschen und andererseits die des logischen Positivismus) zu skizzieren.

In dritten Kapitel werde ich mich mit der Problematik des Praxisbezuges der kritischen Theorie, aufgrund der, von Marcuse konstatierten, menschlichen Eindimensionalität, welche durch die autoritäre Staatsform determiniert ist, sowie der Tatsache daß die Klassenherrschaft ihre objektive Form überlebt, beschäftigen. Neben der gesellschaftstheoretischen Analyse der gegenwärtigen Herrschaftsordnung, ob es sich dabei um eine spätkapitalistische oder eine sonstwie industrie-gesellschaftliche handelt, gilt mein besonderes Interesse dem Vergleich dieser Ordnung mit dem Privatkapitalismus, hinsichtlich der Differenzen der ökonomischen Organisation, sowie seiner Relevanz für eine emanzipierte, vernünftig-aufgeklärte Gesellschaft. Ferner werde ich versuchen die herrschaftlichen Momente zu identifizieren, welche die Integration der negativen Kräfte in das bestehende System gewährleisten und somit jeglichen qualitativen sozialen Wandel unmöglich erscheinen lassen. Da die aktuellen Entwicklungen die Marxschen Prognosen tangieren erscheint es weiterhin notwendig eine Kritik und Weiterentwicklung der materialistischen Dialektik vorzunehmen.

Im Anschluß daran (Teil 4) werde ich der Frage nachgehen, wie konkret soziale Veränderung, unter den Bedingungen des autoritären Staates und seiner integrierenden und assimilierenden, repressiven Verhältnisse, möglich erscheint. Mein besonderes Interesse hierbei, gilt wiederum dem Vergleich von Marcuse mit Adorno, hinsichtlich deren differenten Praxisverständnis, am Beispiel der studentischen „Revolution“ von 1968/69.

- Gibt es ein konkret revolutionäres Subjekt, welches in der Lage zu sein scheint einen qualitativen sozialen Wandel herbeizuführen, oder verbleibt ihre kritische Reflexion über Gesellschaft metaphysisch? In welchem Verhältnis stehen theoretische Reflexion und soziale Praxis?

Abschließend werde ich im 5.Kapitel nochmals zusammenfassend ein Resumeé vornehmen.

1. Der Werturteils- und Positivismusstreit in der deutschen Soziologie

1.1. Der Werturteilsstreit

Der als Werturteilsstreit etikettierte erste Methodenstreit [1] in der deutschen Soziologie war orientiert an der Problematik der Forschungs- und Theoriebezogenheit auf soziale und politische Entwicklungen als Systemproblemen (Krisen). Der im Verein für Socialpolitik (VfSP) im Januar 1914 ausgetragene Diskurs hatte als Bezugsproblem die „sociale Frage“ oder „Arbeiterfrage“ und drehte sich zu einem erheblichen Teil auch um den wissenschaftslogischen Status von Sätzen der Nationalökonomie (welche den Abspruch hatte mathematisch exakte Modelle zu entwickeln, allgemeine (universelle) Gesetze menschlichen Verhaltens aufzustellen und axiomatisch-deduktive Aussagensyteme anstrebte). Beteiligt waren vor allem Wirtschaftswissenschaftler, deren Disziplin – die Nationalökonomie – einen Wandel von der politischen Ökonomie zur „Physik des Sozialen“ vollzog. Im VfSP herrschte eine charakteristische Verschränkung von Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Trotzdem erhob eine Fraktion um Max Weber das Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaften; wissenschaftliche Probleme hätten sich einerseits auf theoretische und erhebungstechnische Probleme zu beschränken und andererseits auf solche der Beschreibung, Erklärung und Prognose realer Ereignisse. Wissenschaftliche Theorie sollten auf nichts anderes als die Wahrheit, empirische Erhebungen und die Ermittlung und Erklärung von Tatsachen abzielen, während die Verfolgung praktischer und sozialpolitischer Ziele und Zwecke nicht zur Aufgabe des Wissenschaftlers gehört. Zwar darf die Wissenschaft Informationen vermitteln, welche der Realisierung vorgegebener praktischer Ziele zweckdienlich erscheinen, doch dürfen diese Zwecke nicht die Ordnung der theoretischen Sätze, die Durchführung von Erhebungen und die Versuche zur Deskription, Erklärung und dem Verständnis von Tatsachen immanent beeinflussen.

In der anderen Fraktion um Gustav v. Schmoller sah man die praktischen Zielsetzungen und sozialen Normvorstellungen als einen immanenten Bestandteil der Theoriebildung und Untersuchungsarbeit selbst an: Werturteile dürften nicht aus der (Wirtschafts-) Wissenschaft verbannt und einfach der Praxis überlassen werden.

Max Weber artikuliert in seinem berühmten Aufsatz „die >>Objektivität<< sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [2] die Position, daß sich die Soziologie als Wissenschaft zu entwickeln und jegliche Vermischung ihrer, an Werten wie Klarheit, Wahrheit, Exaktheit, und Überprüfbarkeit orientierten, Theoriearbeit und Forschungspraxis mit der Propagierung sittlicher und politischer Zielsetzungen zu vermeiden habe[3]. Er beruft sich dabei auf David Hume. Ihm zufolge stellen Tatsachen- und Sollensaussagen (welche er und Kant der Ethik vorbehalten) zwei strikt getrennt zu haltende Aussagenklassen dar[4]. Nach Hume können Sollensaussagen (als normative Sätze) logisch nicht aus deskriptiven Tatsachenaussagen abgeleitet werden (i.e. als praktischer Syllogismus[5] ). Humes-Theorem besagt, daß von Tatsachenaussagen nur solche Sollensaussagen abgeleitet werden können, die auch ohne die vorausgesetzten nichtnormativen Aussagen als bindend angesehen werden können.

1.2. Der Positivismusstreit

Der zweite große Methodenstreit in der deutschen Soziologie, welcher in Anknüpfung an die Werturteilsproblematik stattfand, war der Positivismusstreit, der mittlerweile als klassisch gilt. Er fand seinen Ausgang im Oktober 1961 auf einer Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) in Tübingen und war ursprünglich als eine Grundlagendiskussion zur inneren Reformation des Verbandes gedacht. Als Protagonisten, dieses wissenschaftlichen Diskurses, welcher die Logik der Sozialwissenschaften im Allgemeinen zum Gegenstand hatte, standen sich Theodor Wiesengrund Adorno, als Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, und Sir Karl Raimund Popper, als Apologet des Kritischen Rationalismus [6] und Mitglied des Wiener Kreises, gegenüber.

Adorno teilt mit Popper die Ablehnung der Rickertschen Unterscheidung zwischen nomothetischer und ideographischer Wissenschaft, er spricht sich eindeutig gegen eine rigide Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften aus. Aus seinem hegelianisch-dialektischen Denken folgert er auch nicht die Abwertung des analytischen (Hegel: verständigen) Denkens in seinem Zuständigkeitsbereich; er wehrt sich nur gegen den Alleinvertretungsanspruch des DN-Schemas analytischer Philosophie.

Es wurde Adorno der Vorwurf der Gleichstellung von sozialen Gegensätzen mit logischen Kontradiktionen und des Fehlschlusses der ersten auf den zweiten gemacht, doch scheint er mit seiner These der gleichzeitigen Rationalität und Irrationalität der Gesellschaft mehr auf den „paradoxen Effekt“ ungeplanter und unbeabsichtigter Nebenfolgen zielorientierter Handlungen zu rekurrieren. Entwicklungen kehren sich gegen ihre eigenen Entwicklungsbedingungen in der Realität. Derartige Rückwirkungen mit negativer Selbstbezüglichkeit[7] werfen nun bestimmte logische Deutungsprobleme auf und stellen somit besondere Anforderungen an die analytische Logik.

Adornos Positivismuskritik hat augenscheinlich wenig mit Detailanalysen des logischen Positivismus zu tun (vielmehr hat er ein Bild des Datenpositivismus vor Augen), als es vielmehr eine Kritik gegen jede soziologische und philosophische Denkweise darstellt, welche gegensätzliche Interessen, Konflikte, Antagonismen oder Krisen im Interesse des reibungslosen Funktionierens der Herrschaftsordnung verschleiern[8]. Adorno steht weiterhin der erkenntnistheoretischen Grund-vorstellung des strikten Nominalismus antithetisch gegenüber; er postuliert die Existenz bestimmter Konstitutions-, Formations- und Entwicklungsprinzipien im Gegenstandsbereich selbst. Obwohl Weber und Popper dem Nominalismus eine höhere Bedeutung zugestehen, kommen beide nicht ohne die Annahme strukturierender Prinzipien im Gegenstandsbereich selbst aus. Ohne die Annahme von objektiven Strukturen, im Sinne von Regelmäßigkeiten im tatsächlichen Geschehen in der Natur, wären empirischen Hypothesen weder aufstellbar, noch durch Beobachtung zu falsifizieren; es wäre keine Formulierung nomologischer Gesetze als Prämissen für rationale Erklärungen realer Ereigniszusammenhänge möglich.

Adorno stimmt mit Popper desweiteren in dem Punkt überein, das Protokollsätze über einen einzelnen Sachverhalt grundsätzlich allgemeine Thesen und Begriffe einer Theorie implizieren. Allerdings postuliert Adorno ein methodisches Prinzip des Totalitätsbezuges der sozialwissenschaftlichen Forschung: alle sozialen Daten sind bis in ihre innerste Verfassung hinein faktisch von Beziehungen zu Prozessen und Strukturen des realen gesellschaftlichen Ganzen bedingt. Zur Verhältnisbestimmung von Singularität (Individuum) und Totalität bedient er sich der Hegelschen Kategorien der „Einzelheit und Allgemeinheit“. Er spricht sich explizit gegen die Vorstellung total vergesellschafteter Individuen und gegen die Ansicht eines funktional integrierten und reibungslos selbstgesteuerten Lebensprozesses aus. Dies entspricht dem Schlüsseltheorem seiner Zeitdiagnose, daß die okzidentale Zivilisation die totale Formierung und „Entsubjektivierung der Subjekte“ nicht leisten kann[9]. Das Verhältnis ist das der Vermittlung; durch die von der Totalität ausgehenden Einwirkungen auf die Individuen werden bestimmte Seiten des Sozialcharakters (Mead: „Me“[10] ) ausgebildet, wodurch sie (im Interesse der Selbsterhaltung) zugleich Anteil haben an der Reproduktion der materiellen und kulturellen Lebensbedingungen[11]. Die Vorstellung vom Totalitätsbezug der Daten und Einzelheiten, sowie die Annahme wesentlicher Strukturen und Prozesse der Totalität bezeichnete Popper als Holismus und Essentialsimus.

In Kongruenz zu Popper übt Adorno Kritik am Szientismus und Naturalismus. Das „Primat des Problems“ besteht für Adorno in einem realen Widerspruch, in gegenläufigen und selbst-zerstörerischen Relationen innerhalb der Totalität oder zwischen Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit. Es bildet sich ein Spannungsverhältnis innerhalb der Totalität und/oder zwischen Totalität und Einzelheit aus, dessen Grundcharakter auch innerhalb des Pols der Einheit evident wird. Die besondere Form der Darstellung der Konstellationen in der sozialen Wirklichkeit, beruht auf der Hegelschen Elementarfigur zwei in einer Gegensatzrelation zueinander stehenden Momente, die einander sowohl implizieren und Merkmale des jeweilig anderen beinhalten (Gleichzeitigkeit von Einschluß und Ausschluß /Hegel : „Vermittlung der Gegensätze in sich“ ). Adorno greift auf diese Elementarfigur – welche auch von der „starken Weberthese“ vorausgesetzt wird – auch bei der Verhältnisbestimmung von praktischen Problemen der Gesellschaft und den kognitiven Problemen der Wissenschaft zurück. Insofern bedeutet Gesellschaft für ihn „Problem im emphatischen Sinn“.

1.3. Kritikverständnis

Beide Theoretiker vereint ein Kritikverständnis im Sinne des Widerspruchs gegen die starre Konformität der herrschenden Meinung (in der Forschung). Poppers Postulat eines „offenen Denkens“ kann als Kritik am verdinglichten Bewußtsein verstanden werden, welche für Adornos kritische Theorie ein Schlüsselmotiv der Ideologiekritik darstellt. Die immanente Kritik Adornos beinhaltet die Demonstration sogenannter „performativer Widersprüche“; den empirischen Nachweis, daß eine bestimmte Position latent Behauptungen seiner Gegenposition impliziert (Affirmation), welche sie manifest bestreitet (Negation). Es ist ein Verfahren der systematischen Widerlegung. Er kritisiert Poppers Gleichsetzung von Kritik mit dem Verfahren von Versuch und Irrtum. Hier spielt die These von der Vermittlung der Besonder- und Einzelheit durch die Gesellschaft eine entscheidende Rolle; alle sozialen Einzeltatbestände werden durch das Ganze präformiert. Daraus leitet er die Notwendigkeit des „spekulativen Momentes“ im Denken ab. Kritik bedeutet für Adorno Gesellschaftskritik und radikale Aufklärung als Ausdruck einer kritischen Gesinnung. Mit dem Postulat, daß sozialwissenschaftliche Kritik über die Selbstkritik (der Begriffe, Thesen und Methoden) hinausgehend, zur Kritik des soziologischen Objektes werden muß; sowie der Behauptung, daß das Verhältnis von wissenschaftlicher Objektivität und Werten keineswegs eines der Disjunktion oder Dichotomie sei, tangiert Adorno implizit die Werturteilsproblematik. Seiner Auffassung zufolge ist die Trennung von wertendem Verhalten und wissenschaftlicher Sachlichkeit mit dem geschichtlichen Stand der Verdinglichung verknüpft. Kritik bedeutet Kritik der instrumentellen Vernunft. Die Einbettung der Werte in die soziale Praxis erlaube es, die Verhältnisse an ihrem Begriff, den Faktizität beanspruchenden Normen und Idealen zu messen[12].

In Anschluß an seine Theorie des Primats der Gesellschaft vor dem Individuum, welches die Übermacht der verdinglichten Verhältnisse über den Willen und das Bewußtsein des Individuums repräsentiert, konstruiert Adorno seine Theorie des Subjekts. Sie bewegt sich im Kontext einer Dialektik von Bestimmung und Selbstbestimmung, deren Ursprünge in seiner kritischen Analyse der Kantischen Freiheitsantonomie wurzelt.

Poppers Kritikverständnis hingegen ist das einer bestimmten Form der Gesellschaftskritik: das der Institutionenkritik.

1.4. Dialektik

Die im Anschluß an Fichte und Schelling von Hegel weiter entwickelte Dialektik ist nicht mehr nur eine logische Methode der Erkenntnis, sondern ontologisch und metaphysisch die eigentümliche Form der Selbstbewegung (Autopoiesis) der Wirklichkeit und des Denkens [13]. Seinem Denken liegt die Vorstellung zugrunde, daß Erkenntnis durch Sinnlichkeit, Vertand oder Vernunft möglich ist. Denken und Sein sind identisch, da das Sein an sich „Idee“ (objektive Vernunft) ist. Den Dingen selbst ist der Widerspruch, ihre Negation immanent. Die Aufhebung des Positiven durch seine Negation ist nicht Nichts, sondern nur die Negation des je Spezifischen, d.h. des besonderen Inhalts oder der besonderen Sache. Der dialektische Prozeß wird vorangetrieben durch das, den Begriffen und Dingen innewohnende, Bedürfnis nach Aufhebung von Widersprüchlichkeit. Das „Besondere“ stellt nur einen Fortschritt im Hinblick auf das Absolute, auf einen Zustand ohne Widersprüche dar.

Hegel zufolge besteht die Philosophie aus drei Formen; sie ist ihrem Inhalt nach abstrakt, dialektisch und spekulativ. Dem entspricht das 3-Stufen-Modell der Logik: 1. Das abstrakte oder verständige Denken; 2. Das dialektische oder negativ-vernünftige Denken; und 3. Das spekulative oder positiv-vernünftige Denken.

Die Wissenschaft habe vom Abstrakten aus zu beginnen, welches gleichzeitig das Einfache und Zugängliche (nach Hegel) sei. Das Konkrete ist immer schon das Abstrakte.

Das Dialektische ist die negative Vernunft, die Selbstreflexion der Analysis[14]. Ihr ist das Moment des eigenen Aufhebens endlicher Bestimmungen und des Übergangs in ihr Gegenteil immanent. Die Dialektik ist das immanente Hinausgehen über die Verstandesbestimmungen, in welcher sich ihre Einseitigkeit und Beschränktheit als das, was sie ist, darstellt, nämlich ihre Negation. „Das Dialektische macht daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und ist das Prinzip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt, so wie in ihm überhaupt die wahrhafte, nicht äußerliche Erhebung über das Endliche liegt“ (Hegel; Enzyklopädie; § 81).

Das Spekulative, als Ausdruck des unendlichen Denkens, hat - wie das Dialektische – die Kantischen Antonomien zur Grundstruktur. Antonomien beschreiben Gegensatzverhältnisse, welche simultan Einschlußverhältnisse sind; zwei Sachverhalte schließen einander aus und beinhalten dennoch Eigenschaften des konträren Sachverhaltes (Thesis und Antithesis). „Wenn die Vernunft der gemeinsame Nenner von Subjekt und Objekt ist, so ist sie das als Synthesis von Gegensätzen. Mit dieser Idee begriff Ontologie die Spannung zwischen Subjekt und Objekt; sie war mit Konkretheit gesättigt. Die Wirklichkeit der Vernunft bestand im Austragen dieser Spannung in Natur, Geschichte und Philosophie“ (Marcuse; Der eindimensionale Mensch; S.167). Die Spekulation ist das positiv-vernünftige Denken und die eigentliche Aufgabe der Philosophie; die Erkenntnis des Entgegen-gesetzten in seiner Einheit, sowie die Einheit seiner inneren Gegensätze.

Für Karl Marx, der sich ausdrücklich auf Hegel beruft, ist Dialektik als Methode und Form der Gedankenentwicklung ideologiekritische (revolutionäre) Gesellschaftstheorie, indem sie ideelle Systeme immanent als Prozesse darstellt. Durch das Aufweisen der Negation offenbart sich die Mangelhaftigkeit des Systems und durch den Hinweis auf die Negation der Negation wird die Notwendigkeit der Aufhebung bewußt und wirksam.

In der marxistischen Diskussion wird Dialektik als ein Ausdruck gesetzmäßiger Notwendigkeit geschichtlicher Veränderung verwendet; als Einzelwissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung und Entwicklung in der Natur, der Gesellschaft und dem menschlichen Denken: die Lehren von der Negation der Negation in Natur und Gesellschaft als treibender Kraft der historischen Evolution; als Theorie und Methode der menschlichen Erkenntnis und des menschlichen Denkens in seinen allgemeinen Bestimmungen; oder als Anleitung zum praktisch-gestaltenden Handeln, als Nachweis von Entwicklungstendenzen und –gesetzen der menschlichen Gesellschaft, welche bewußt von der Arbeiterbewegung aufgegriffen und gestaltet werden müssen.

Ein Beispiel für die Struktur explizit dialektischer, vermittlungslogischer Argumentation findet sich in dem Kapitel über den „ Begriff der Aufklärung “ in der „ Dialektik der Aufklärung [15] “ von Horkheimer und Adorno.

Die Dialektik der Aufklärung wird dort als Tendenz zur Remythologisierung, innerhalb eines Prozesses der Rationalisierung/Entzauberung der Welt dargestellt. Aufklärung in ihrer ursprünglichen Intension wendet sich gegen den Mythos und den Aberglauben (Animismus) und schlägt dennoch in Mythologie zurück. „Das Prinzip der Immanenz, der Erklärung jeden Geschehens als Wiederholung, daß die Aufklärung wider die mythische Einbildungskraft vertritt, ist das des Mythos selber“ (Horkheimer; Dialektik der Aufklärung; S.34). Es wird die These aufgestellt, daß Rationalität den Mythos oder zumindest Komponenten der mythischen Weltauffassung impliziere (vice versa ist bereits dem Mythos das positive Moment der Aufklärung immanent).

Dieses dialektische Denken ist eng an den Strukturprinzipien der Hegelschen Dialektik orientiert.

1.5. Der logische Positivismus des Wiener Kreises

Der Neo-Positivismus oder Logische Empirismus des Wiener Kreise betrachtet die Klärung der Wissenschafts- und/oder Alltagssprache als das Hauptgeschäft der analytischen Philosophie (von besonders hohem Einfluß auf ihr Wirken war Ludwig Wittgenstein). Diese philosophische Methode ist am Vorbild der exakten Naturwissenschaften (Physik) und exakten Wissenschaftssprachen (Mathematik) orientiert. Ihre allgemeine Zielsetzung entstammt einem, von Carnap so bezeichneten, „wissenschaftlichen Humanismus“ der Praxis sozialer Bewegungen, nicht zuletzt der Arbeiter-bewegung. Neben den politisch engagierten linken Mitgliedern des Wiener Kreises (R. Carnap, H. Hahn, E, Zilsel) kokettierte vor allem O. Neurath mit dem Marxismus, auch wenn sie alle die ihm zugrundeliegende philosophische Denkweise der Dialektik als unvernünftig und unanalysierbar zurückwiesen.

Das dem Logischen Positivismus zugrundeliegende Programm besteht in: 1. Einer antimetaphysischen Grundhaltung, welche weit über Kants Kritik der Metaphysik hinausgeht; 2. Der Idee des Fortschritts der (exakten) Wissenschaften durch exakte Wissenschaftssprache (Ideal einer Einheitswissenschaft und einheitlichen Methodensprache); 3. Der empiristischen Erkenntnistheorie; 4. Dem Theorem der technischen Anwendbarkeit nomologischen Wissens; 5. Dem Szientismus [16] und die ihm inhärente Idee einer an der Physik orientierten Einzelwissenschaft bzw. homogenen Wissenschaftssprache; 6. Der mit der empiristischen Metaphysik verbundenen Suche nach Elementarsätzen.

Der Positivismus sieht seine Aufgabe in der logischen Sprachanalyse mit den Mitteln der modernen Logik und Mathematik, sowie in vertiefender und klärender Reaktion auf die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften.

Die Rolle der Empirie [17] taucht im logischen Positivismus als das Schlüsselproblem der Basis- und Protokollsätze auf: induktiv gewonnene Untersuchungsergebnisse müssen als Protokollsätze festgehalten werden, welche die Basis der weiteren Erkenntnis sind. Das Gütekriterium der, den Tatsachenaussagen der Realwissenschaften entsprechenden, Aussagensystemen ist die logische Widerspruchsfreiheit (Logizität) ihrer Sätze.

Das empiristische Sinnkriterium basiert auf den Methoden und Möglichkeiten der Bewahrheitung (Verifikation) eines Satzes. Ihr liegen drei Prämissen zugrunde: 1. Empirisch signifikant (gehaltvoll) sind nur syntaktisch zulässige, nach allen Regeln der logischen bzw. syntaktisch-grammatischen Kunst gebildete und verknüpfte Sätze; 2. Synthetische Aussagen[18] sind nur dann empirisch sinnvoll, also wissenschaftlich gehaltvoll und zulässig, wenn über ihren semantischen (nicht-logischen; nicht-analytischen; empirischen) Wahrheitsgehalt geurteilt werden kann; Und 3. damit verbunden das Verifikations- bzw. Falsifikationsproblem (Carnaps 2- Stufentheorie der Wissenschaftssprachen: a). Aussagen sind nur dann empirisch signifikant, wenn sie aus Beobachtungssätzen logisch deduziert werden können; oder b). wenn sie in eine empirische Sprache übersetzt werden können).

Dem Erklärungsbegriff des logischen Positivismus liegt das Hempel-Oppenheimer- (HO-) Schema rationaler Erklärungen zugrunde, dessen logisches Prinzip der klassische (aristotelische) Syllogismus der Schlußfolgerung, mit seiner Unterscheidung von Obersatz (Prämisse ), Untersatz (Minorprämisse ) und Schlußfolgerung (Conclusio ), ist. Rein formallogisch besteht diese Figur aus einer Wenn-Dann-Klausel. Der Satzteil „wenn p...“ des Obersatzes heißt Antecedenz (Randbedingung); der Satzteil „... dann q“ heißt das Consequenz oder Explanandum (das zu Erklärende), während der Ober- und Untersatz zusammen genommen das Explanans (die Erklärungsgrundlage) bezeichnen. Diesem Modell ist das Moment immanent, daß nur das erklärt werden kann, was ohnehin schon in den Prämissen angelegt ist. Erklärungen bestehen in der logischen Ableitung des Explanandums aus dem Explanans. Das HO-Schema wird auch als deduktiv-nomologisches Erklärungsschema (DN-Schema) bezeichnet.

Der Praxisbegriff des logischen Positivismus des Wiener Kreises resultiert aus einem praktischen Interesse an der Rationalisierung sozialer Prozesse, über das Gebot der instrumentellen Vernunft (Effizienzsteigerung als Sozialtechnologie) hinaus und betrifft die uralte Debatte „utilitas vel honestas“ in der okzidentalen Ethik[19]. Carnap und Neurath vertreten die wissenschaftslogische These von der Sinnlosigkeit normativer (ethischer) Sätze, da sie weder als synthetische Aussagen empirisch überprüfbar sind, noch dem logischen Status analytischer Sätze entsprechen. Mit ihr hängt die Dichotomiethese , die Grundauffassung, das eine strenge logische Disjunktion zwischen theoretischen Sätzen und solchen über praktische Gebote bzw. Entscheidungen zu beachten ist; sie entspricht der Hume-These , daß Sein- und Sollenaussagen in zwei völlig disjunktiven logischen Bereichen liegen, welche nicht vermengt werden dürfen. Beide bestreiten einen Vermittlungszusammenhang von Kulturwertideen bzw. Systemproblemen der damaligen Zeit.

Für den Wiener Kreis ist das Induktionsproblem von zentraler Bedeutung, hinsichtlich der Frage, ob Induktionsschlüsse von einer besonderen Menge von Beobachtungen auf eine allgemeine Regel-mäßigkeit (Gesetz) logisch gültig sind, oder ob sich hinter diesen synthetischen Urteilen nicht allein der psychologische Habitus der Gewohnheit verbirgt. Nach D. Hume können wir sogenannte induktive Generalisierungen nicht als einen logischen Schluß analysieren; dem Induktionsprinzip ist die Regularitätsannahme (Regelmäßigkeit als Apriori) immanent. K.R. Popper teilt Humes Standpunkt und versucht den Diskurs um das Verhältnis von Existenzaussagen über Einzelfälle und Allaussagen zu lösen, indem er sein Falsifikationismusprinzip einführt, welches besagt, daß sich Allsätze durch singuläre Tatsachenaussagen (i.e. Protokollsätze) nicht bewahrheiten, sondern lediglich widerlegen lassen. Die Allsätze der Realwissenschaften sind somit nur hypothesenartige Vermutungsaussagen (wenn p, dann q), welche durch Negation der Behauptung (die sich, zusammen mit den Randbedingungen der Minorprämisse, aus der Hypothese ableiten läßt) über das Eintreten des Ereignisses q widerlegt werden können. Läßt sich durch Beobachtung feststellen, daß q nicht der Fall ist, so ist die Hypothese negiert bzw. falsifiziert. Logisch gesehen ist das Falsifikationismusverfahren deduktiv und somit nach dem HO-Schema analysierbar, und zeigt zudem, daß eine letztinstanzliche Verifikation hypothetischer Annahmen nicht möglich ist. Für die Praxis der Forschung folgt daraus, daß beim wissenschaftlichen Umgang mit Hypothesen und Theorien nicht die Bewahrheitung, sondern die Widerlegung versucht werden muß. Voraussetzung bleibt allerdings, daß sie semantisch und syntaktisch so angelegt sind, daß sie überhaupt widerlegt werden können, so sind metaphysische Sätze im strengeren Sinne nicht falsifizierbar. Am Grad der Widerlegbarkeit und ihrer Erklärungs- und Prognosefähigkeit bemißt sich die Qualität einer Theorie.

2. Kritische Theorie

„Die kritische Theorie der Gesellschaft beginnt also mit einer durch allgemeine Begriffe bestimmten Idee des einfachen Warentausches; unter Voraussetzung des sogenannten verfügbaren Wissens, der Aufnahme des aus fremden und eigenen Forschungen angeeigneten Stoffes wird dann gezeigt, wie die Tauschwirtschaft bei der gegebenen und der sich freilich unter ihrem Einfluß verändernden Beschaffenheit von Menschen und Dingen, ohne das ihre eigenen, von der fachlichen National-ökonomie dargestellten Prinzipien durchbrochen würden, notwendig zur Verschärfung der gesell-schaftlichen Gegensätze führen muß, die in der gegenwärtigen geschichtlichen Epoche zu Kriegen und Revolutionen treibt“ (Horkheimer; TukT; S.200)[20]. Zur Intension einer kritischen Gesellschaftstheorie gehört die transzendierende – aller Metaphysik entgegengesetzte – Analyse des gegebenen sozialen status quo; die Untersuchung ihrer historischen Alternativen im Lichte ihrer ungenutzten Kapazitäten zu Verbesserung der menschlichen Lage. Die konkret historische Praxis wird an ihren eigenen geschichtlichen Alternativen gemessen. „Von Anbeginn steht damit jede kritische Theorie der Gesellschaft dem Problem historischer Objektivität gegenüber, einem Problem, das an den beiden Stellen aufkommt, an denen die Analyse Werturteile[21] einschließt“ (Marcuse; Der eindimensionale Mensch; S.12). Sowohl Horkheimers, als auch Adornos, Positivismuskritik stellt eine Kritik gegen jede soziologische und philosophische Denkweise dar, welche gegensätzliche Interessen, Konflikte, Antagonismen oder Krisen im Interesse des reibungslosen Funktionierens der Herrschaftsordnung zu verschleiern versucht. Das kritische oder transzendierende Denken hat den Anspruch historische Alternativen zum status quo aufzuzeigen; wie auf Basis des gegenwärtigen Standes der technologisch-kulturellen Möglichkeiten eine vernünftige gesellschaftliche Organisation freier Subjekte möglich ist. Für beide Theoretiker manifestiert sich in den „traditionellen Theorien“ die gesellschaftliche Arbeitsteilung, sowie ihre Blindheit gegenüber ihrer Verflochtenheit mit historischen Tendenzen. „Der Schein der Selbständigkeit von Arbeitsprozessen, deren Verlauf sich aus einem inneren Wesen ihres Gegenstandes herleiten soll, entspricht der scheinhaften Freiheit der Wirtschaftssubjekte in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie glauben, nach individuellen Entschlüssen zu handeln, während sie noch in ihren kompliziertesten Kalkulationen Exponenten des unübersichtlichen gesellschaftlichen Ganzen sind“ (Horkheimer; TukT; S.171). Die Trennung von Theorie und Praxis stellt eine verdinglichte und ideologischen Kategorie dar. „Soweit der Begriff der Theorie jedoch verselbständigt wird, als ob er etwa aus dem inneren Wesen der Erkenntnis oder sonstwie unhistorisch zu begründen sei, verwandelt er sich in eine verdinglichte, ideologische Kategorie“ (Horkheimer; TukT; S.168). Trotz aller Wechselwirkung der Kritischen Theorie mit den Fachwissenschaften, zielt sie nicht auf die Vermehrung des Wissens als solchem ab, sondern auf die Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen

Die Etikettierung des gesellschaftstheoretischen Materialismus als „Kritische Theorie (der Gesellschaft)“ signalisiert allerdings in geringerem Maße Marxismus-Nähe als die alte Bezeichnung einer „materialistischen Theorie“. Trotzdem hat Horkheimers Kritik der politisch-ökonomischen Verhältnisse die Marxsche historisch-materialistische Geschichtsauffassung zur Grundlage. Ihm zufolge besteht die Aufgabe der Sozialphilosophie in der Formulierung theoretischer Gesamturteile (Existenzialurteile) über die Gesellschaft. „Es besagt, grob formuliert, daß die Grundform der historisch gegebenen Warenwirtschaft, auf der die neuere Geschichte beruht, die inneren und äußeren Gegensätze der Epoche in sich schließt, in verschärfter Form stets aufs neue zeitigt und nach einer Periode des Aufstiegs, der Entfaltung menschlicher Kräfte, der Emanzipation des Individuums, nach einer ungeheuren Ausbreitung der menschlichen Macht über die Natur schließlich die weitere Entwicklung hemmt und die Menschheit einer neuen Barbarei zutreibt“ (Horkheimer; TukT; S.201).

Der noch 1931 propagierten interdisziplinären Zusammenarbeit mit verschiedenen Einzeldisziplinen wird ebenso wie den pragmatischen und positivistischen Forschungsmethoden eine Absage erteilt. Ähnlich wie in seiner Direktoratsrede (gegenüber der klassischen Philosophie), entwickelt Horkheimer die Konturen der Kritischen Theorie an dem negativen Beispiel der Traditionellen Theorie. Hierunter subsumiert er die vorherrschenden Forschungsmethoden des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs und stuft sie als Instrument der Selbsterhaltung des gesellschaftlichen Apparates ein Die wissenschaftstheoretische Vorstellung, Objektivität wahren zu können, und simultan dem menschlichen Fortschritt dienen zu können, wird als Illusion kritisiert; die scheinbare Freiheit der Wissenschaft sei ein Trugschluß, genauso wie die scheinbare Selbständigkeit arbeitsteiliger Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft. Durch Spezialisierung, die Wahrnehmung intellektueller Teilaufgaben, wird die Totalität menschlicher Lebensprozesse verleugnet; soziale Prozesse können weder in Fachgebiete aufgegliedert, noch durch arbeitswillige Spezialisierung erfaßt werden.

Ein wesentliches Merkmal der kritischen Theorie der Gesellschaft ist ihr Selbstverständnis als eines bestimmten, praktizierten, menschlichen Verhaltens im alltäglichen Leben und nicht das einer akademischen Übung. „Das dialektische Denken versteht die Spannung zwischen >>ist<< und >>sollte sein<< zunächst als einen ontologischen Sachverhalt, der der Struktur des Seins selbst zukommt. Die Erkenntnis dieses Seinszustandes – seine Theorie – intendiert jedoch von Anfang an eine konkrete Praxis. (...). Das Denken hat keine Macht einen Wandel herbeizuführen, solange sie nicht in Praxis übergeht“ (Marcuse; Der eindimensionale Mensch; S.149). Das kritische Handeln zielt nicht darauf ab einzelne Mißstände abzustellen, da diese notwendig mit der gesamten gesellschaftlichen Organisation verknüpft sind, sondern einen grundlegenden qualitativen Wandel herbeizuführen; die Emanzipation des Menschen aus den versklavenden Verhältnissen. Auf Grund dieser Bestimmung versucht Horkheimer den Begriff des emanzipativen Klassenkampfs zu entwickeln. Mit dem Rückgriff auf Marxsche Kategorien versucht er die Kritische Theorie davor zu bewahren lediglich der Reproduktion der herrschenden, bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu dienen. Ziel der qualitativen Änderung sei eine gerechte und vernünftige Gesellschaft, in welcher die Menschen ihre Geschichte selbst bestimmen. Die Idee einer „Assoziation freier Menschen“ ergibt sich aus dem Stand der erreichten Produktivkräfte, wobei es darauf ankommt, gemeinsam mit der klassenbewußten Arbeiterschaft die Transformation der gesellschaftlichen Totalität zu betreiben.

In diesem Kontext fordert Horkheimer die Repolitisierung der Soziologie und erteilt dem Postulat der Werturteilsfreiheit eine deutliche Absage. Nach Horkheimer gibt es keine Gesellschaftstheorie, die nicht politisches Interesse mit einschließt, über deren Wahrheit anstatt in scheinbar neutraler Reflexion, eben in konkreter geschichtlicher Aktivität, entschieden werden müßte. „Die kritische Theorie hat bei aller Einsichtigkeit der einzelnen Schritte und der Übereinstimmung ihrer Elemente mit den fortgeschrittensten traditionellen Theorien keine spezifische Instanz für sich, als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts. Diese negative Formulierung ist, auf einen abstrakten Ausdruck gebracht, der materialistische Begriff des idealistischen Begriffs der Vernunft. In einer geschichtlichen Periode wie dieser ist die wahre Theorie nicht so sehr affirmativ als kritisch, wie auch das ihr gemäße Handeln nicht >>produktiv<< sein kann. An der Existenz des kritischen Verhaltens, das freilich Elemente der traditionellen Theorien und dieser vergehenden Kultur überhaupt in sich birgt, hängt heute die Zukunft der Humanität“ (Horkheimer; TukT; S.216).

Popper hingegen, insistiert auf der emphatischen Unterscheidung des Gewinnungs- und Begründungszusammenhangs der Forschung, einer Variante der Weberschen Dichotomiethese, und steht damit in Widerspruch zu Adornos und Horkheimers holistischen Theorem des Totalitätsbezuges eines jeden einzelnen Falles; jedes Datum von Gesellschaft sei durch sie als Ganzem vermittelt. Für Popper besteht der Gewinnungszusammenhang in der Klärung der Frage nach dem Zustandekommen des wissenschaftlichen Aussagensystems und der Begründungszusammenhang in dem forschungs-logischen Problem der empirischen Überprüfung einer Theorie. Dem liegt ein methodisches Kritikverständnis zugrunde, während sich Adorno und Horkheimer auf einen praktischen Kritikbegriff berufen. Immanente Kritik bedeutet für beide explizit den Maßstab der Kritik dem zu überprüfenden System selbst zu entnehmen. Die Unterscheidung von Maßstab und Zustand fällt in die Sache selbst; der Gegenstand kann aus sich selbst heraus (immanent) kritisiert werden (Hegel). Ihr Sozialrealismus beruht auf Hegels Konzept objektiver Gedanken und impliziert eine Nominalismus-kritik. Auf diesem Prinzip beruht auch ihre Ideologiekritik als die Kritik der objektiven Gesellschafts-strukturen, im Hegelschen Sinne als die Negation des Bestehenden: die Messung des normativen Anspruchs mit dem unmittelbar Gegebenen. „Kritische Theorie kehrt sich gegen das Wissen, auf das man pochen kann. Sie konfrontiert Geschichte mit der Möglichkeit, die konkret in ihr sichtbar wird. Die Reife ist das Thema probandum und probatum“ (Horkheimer; Autoritärer Staat; S.306)[22]. Dieser Konflikt zwischen „eindimensionalen“ und „zweidimensionalen“ Denkens geht bis auf die Ursprünge des okzidentalen philosophischen Denkens zurück und manifestiert sich dort im Gegensatz zwischen der formalen Logik der Aristotelischen Organon und Platons dialektischer Logik.

3. Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft ?

Ausgehend von der Frage, ob es sich bei dem gegenwärtigen Herrschaftssystem um das eines wie auch immer modifizierten Kapitalismus handelt, oder aber ob nicht die industrielle Entwicklung den Begriff des Kapitalismus selbst und somit seine Kritik hinfällig gemacht habe, erscheint es notwendig einerseits die bestehenden Verhältnisse einer expliziten Analyse zu unterziehen und mit den Marxschen Prognosen zu vergleichen und andererseits eine eventuell notwendig erscheinende Modifikation der materialistischen Dialektik vorzunehmen. Der thematische Schwerpunkt wird auf der Analyse der ökonomischen Strukturierung der spätindustriellen Gesellschaft, seiner Entstehung (und Differenzen gegenüber dem Liberalkapitalismus; z.B. hinsichtlich der Auswirkungen auf die Sozialstruktur) und seiner Bedeutung für eine emanzipierte Gesellschaft liegen; sowie der ausgeübten herrschaftlichen Praxis, welche es erlaubt die prognostizierte Verelendung aufzuheben, die Bildung eines Klassenbewußtseins, sowie jegliches emanzipatives Denken und Verhalten bereits im Entstehen zu unterbinden und die negativen Kräfte in das System zu integrieren.

3.1. Divergenzen der Prognosen dialektischer Theorie

Die Dominanz der These, Marx sei obsolet geworden, in der heutigen Soziologie, beruht auf der Annahme, daß durch die technischen Entwicklungen die – einst den Kapitalismus definierenden – sozialen Verhältnisse, explizit der Klassengegensatz, die Transformation lebendiger Arbeit in Ware, aufgehoben wurden. Tatsächlich scheint der gehobene Lebensstandard in den westlichen Staaten das Bewußtsein von Klassendifferenzen zu verschleiern. Marx` Prognosen hinsichtlich der Verelendung und des Zusammenbruchs, sowie sein Gesetz von der sinkenden Profitrate haben sich nicht bewahrheitet. Augenscheinlich ist es dem Kapitalismus gelungen in sich selbst Momente zu entdecken, welche den Zusammenbruch hinauszögern.

Im Gegensatz zum heutigen subjektiven Klassenbegriff, der nichts anderes ist als eine Verall-gemeinerung von Befunden an einzelnen Individuen, war der ältere objektiv, unmittelbar am Leben der Subjekte gewonnen. Er rekurrierte auf die Stellung von Unternehmern und Arbeitern im Produktionsprozeß, und damit verbunden auf die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel.

Die dialektische Gesellschaftstheorie beruht auf Strukturgesetzen, auf Tendenzen, welche mehr oder minder stringent aus den geschichtlichen Konstituentien der Gesamtstruktur folgen (i.e. Wertgesetz, Gesetz der Akkumulation, Zusammenbruchsgesetz). Struktur bedeutet nicht Ordnungsschemata oder Systematisierung, sondern das der wissenschaftlichen Erkenntnis vorgeordnete Gesellschaftssystem. Dialektik kritisiert, neben dem positivistischen Fetischismus der Fakten und objektiven Gesetzen, das falsche Bewußtsein der Bestimmung des Allgemeinen durch das Partikulare und Konkrete. Der positivistische Nominalismus verkennt, daß die semantische Bestimmung von Begriffen, wie der Tauschgesellschaft, auf einen objektiven Zwang des Allgemeinen hinter den Sachverhalten verweist, der sich nicht adäquat in operationell definierte Sachverhalte übersetzen läßt. Der Widerspruch des Primats der Struktur über die Sachverhalte ist kein methodisches, sondern ein notwendiges Moment der antagonistischen Struktur der Gesellschaft selbst. Selbst im Verhältnis zwischen diesen beiden wissenschaftlichen Standpunkten drückt sich dieser Widerspruch aus.

3.1.1. Nicht-Existenz eines Klassenbewußtseins

Nach Marx ist die Konstitution des Klassenbewußtseins, von welchem der qualitative Sprung abhängt, ein Epiphänomen der allgemeinen sozialen Entwicklung. Die Nicht-Existenz eines Klassen-bewußtseins widerlegt allerdings nicht die Existenz sozialer Klassen, da sie durch die Stellung im Produktionsprozeß (und zu den Produktionsmitteln) bestimmt werden und nicht durch das Bewußtsein ihrer Angehörigen. Das gesellschaftliche Sein schafft nicht unmittelbar Klassenbewußtsein. Durch die Aufhebung der fortschreitenden Verelendung, sowie der Integration in die bürgerliche Gesellschaft mit der damit verbundenen Übernahme ihrer Anschauung, verloren die Arbeiter nicht nur ihre Klassensolidarität, sondern auch das Bewußtsein, das sie die Subjekte sind, welche den sozialen Prozeß in Gang halten. Diese Entwicklung tangiert ebenfalls das Kernstück der Marxschen Theorie; die Lehre vom Mehrwert, welche das Klassenverhältnis und das Wachsen des Klassenantagonismus objektiv-ökonomisch erklären sollte. Bedingt durch den Umfang des technischen Fortschritts (Rationalisierung) wird der Anteil der lebendigen Arbeit, welcher allein Mehrwert produzieren kann, reduziert. Der gegenwärtige Mangel an einer objektiven Werttheorie rekurriert primär auf die Schwierigkeit die Bildung von Klassen ohne Mehrwerttheorie objektiv zu begründen und ist nur vom Ansatz her durch Aussagen der allgemein akzeptierten Schulökonomie bedingt.

Offensichtlich verhindert die Irrationalität der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur – die Lenkung der ökonomischen Prozesse durch die politischen Machthaber – ihre rationale Entfaltung in einer objektiven, kohärenten Theorie. Der Verzicht auf eine solche Gesellschaftstheorie ist Ausdruck einer intellektuellen Regression, welche mit der der Gesellschaft einhergeht. Die Herrschaft des ökonomischen Prozesses über die Menschen, zu denen mittlerweile auch die Kapitalisten gehören, die zu Funktionen ihres eigenen Produktionsapparates wurden, ist ungebrochen. Die allgemeine Unfreiheit, Abhängigkeit und Unmündigkeit der Massen zeugen von dieser Entwicklung.

3.1.2. Relevanz des Tauschprinzips:

Hinsichtlich des Standes ihrer Produktivkräfte ist die gegenwärtige Gesellschaft eine Industrie-gesellschaft; die industrielle Arbeit ist über alle Grenzen der politischen Systeme hinweg zum Muster der Gesellschaft geworden. Durch die Ausdehnung der industriellen Verfahrensweisen auf die Bereiche der materiellen Produktion, Verwaltung, Distribution und Kultur gerät sie zur Totalität. Der Begriff Industriegesellschaft kann so verstanden werden, als ob das Wesen der Gesellschaft direkt aus dem Stand der Produktivkräfte folge, unabhängig von deren sozialen Bedingungen. Er übersieht jedoch die Totalität des Tauschverhältnisses, jener objektiven Abstraktion, welcher der gesamte gesellschaftliche Prozeß gehorcht. Gemäß ihrem umfangslogischen klassifikatorischen Wesen, mißt die traditionelle Soziologie den tragenden sozialen Verhältnissen, den gesellschaftlichen Bedingungen der Produktion, weniger Relevanz bei, als jenem konkret Allgemeinen. Diese Sachverhalte werden auf Begriffe wie Macht oder soziale Kontrolle reduziert. Im Hinblick auf die Produktionsverhältnisse ist die gegewärtige Gesellschaft kapitalistisch, da die Produktion immer noch des Profits willen stattfindet. Die Menschen mit ihren Bedürfnissen werden vollends zu Funktionen des Produktions-apparates und diesem untergeordnet. Die Gebrauchswerte der Waren werden endgültig durch deren Tauschwerte substituiert. „Nicht nur die Bedürfnisse bloß indirekt, über den Tauschwert, befriedigt, sondern in wirtschaftlich relevanten Sektoren vom Profitinteresse selber erst hervorgebracht, und zwar auf Kosten objektiver Bedürfnisse der Konsumenten, wie denen nach zureichenden Wohnungen, vollends nach Bildung und Information über die wichtigsten sie betreffenden Vorgänge. Im Bereich des nicht zur nackten Lebenserhaltung Notwendigen werden tendenziell die Tauschwerte als solche, abgelöst, genossen; ein Phänomen, das in der empirischen Soziologie unter Termini wie Statussymbol und Prestige auftritt, ohne damit objektiv begriffen zu sein“ (Adorno; Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft; S. 362f.)[23].

3.1.3. Affirmativ idealistisches Geschichtsbild

Marx Fehler beruht in seinem affirmativ idealistischen Geschichtsbild; daß die Produktivkräfte notwendig die Produktionsverhältnisse sprengen würden. Heute ist es zur totalen Unterordnung der Produktivkräfte unter die Produktionsverhältnisse, um deren Selbsterhaltung willen, gekommen. Das Wohl des Ganzen ist dem Glück des Einzelnen übergeordnet worden. Die subjektive Spontaneität steht in Opposition zum objektiven Interesse und diesem ohnmächtig gegenüber. „Verhindert die Einrichtung der Gesellschaft, automatisch oder planvoll, durch Kultur- und Bewußtseinsindustrie und durch Meinungsmonopole, die einfachste Kenntnis und Erfahrung der bedrohlichsten Vorgänge und der wesentlichen kritischen Ideen und Theoreme; lähmt sie, weit darüber hinaus, die bloße Fähigkeit, die Welt konkret anders sich vorzustellen, als sie überwältigend jenen erscheint, aus denen sie besteht, so wird der fixierte und manipulierte Geisteszustand ebenso zur realen Gewalt, der von Repression, wie einmal deren Gegenteil, der freie Geist, diese beseitigen wollte“ (Adorno; SoI.; S.364).

3.2. Das Verhältnis von materialistischer Dialektik und spätkapitalistischen Kohäsionskräften

Da eine allgemeine Inkongruenz bei der Bestimmung der gegenwärtigen historischen Epoche, explizit die Entwicklung des Spätkapitalismus, mit den Begriffen der Marxschen Theorie besteht. Diese Schwierigkeit hat ihren Ausgangspunkt in der Hegelschen Dialektik, der zufolge sich negative Kräfte innerhalb eines bestehenden antagonistischen Systems entwickeln. Da es heutzutage vielmehr zu einer Stillstellung der Dialektik der Negativität gekommen zu sein scheint, bedarf es einer Modifizierung der Hegelschen Konzeption:

Hegels Dialektik kann vorgeworfen werden, sie sei positiv-konformistisch, da die Negation Schein-charakter annimmt, da sich durch alle Negation und Destruktion hindurch letztendlich immer nur das schon an sich Seiende entfaltet und durch die Negation auf eine höhere geschichtliche Stufe gehoben wird. Dieser konformistische Charakter, daß sich schließlich doch die Positivität der Vernunft, der Fortschritt, durchsetzt, ist bereits im Begriff der Hegelschen Dialektik selbst angelegt.

Althusser zufolge hat bereits Marx mit Hegels Dialektik gebrochen, sie vom Kopf auf die Füße, den Boden der wirklichen Entwicklung, gestellt. Durch die Entwicklung seiner eigenständigen materialistischen Dialektik habe Marx die Philosophie aufgehoben. Nach Marcuse[24] bleibt allerdings auch die materialistische Dialektik noch im Bann der idealistischen, positiven Vernunft, solange nicht die Konzeption des Fortschritts modifiziert wird, nach welcher die Zukunft immer schon im Inneren des Bestehenden angelegt ist, in dem Sinne, daß der Bruch mit der Vergangenheit und dem Bestehenden, die qualitative Differenz in der Richtung des Fortschritts, in die Theorie integriert wird. Die Relevanz dieser Notwendigkeit wird angesichts der Frage evident, ob und inwieweit die spätindustrielle Gesellschaft wenigstens in dem, was die technische Grundlage der Entwicklung der Produktivkräfte angeht, als Modell für die Konstruktion einer neuen Gesellschaftsform dienen kann.

Sowohl für Marx wie auch für Hegel ist der Begriff der Negation - als Aufhebung - von zentraler Bedeutung; daß die negierenden Kräfte, welche die in einem System sich entfaltenden Widersprüche sprengen und zu einer höheren Stufe führen, sich innerhalb dieses Ganzen entwickeln. Bestimmte Negation bedeutet somit die Stellung gegen das Ganze schon innerhalb des Ganzen und rekurriert auf die Bewegung notwendig auf eine höhere Stufe hin, indem die bestehenden Produktivkräfte entfesselt werden. Es bedeutet die Entfaltung eines schon immer daseienden Wesens, das im inhibierenden Rahmen des Bestehenden nicht Wirklichkeit werden kann. Dieser Konzeption zufolge existiert bereits in der hochentwickelten technischen Basis der kapitalistischen Produktion die materielle Grundlage für die Entfaltung der sozialistischen Produktivität. Dem gegenüber muß die Frage erhoben werden, ob das nicht wieder eine Form des Fortschritts der objektiven Vernunft und eine neue Form der sich reproduzierenden Dominanz der vergangenen, im technischen Apparat vergegenständlichten, Arbeit über die lebendige Arbeit darstellt.

3.2.1. Konzeption eines „Außen“ als qualitative Differenz

- Muß nun aber die Entwicklung der negativen Kräfte und der Prozeß der emanzipativen Entfaltung notwendig in eine solche positive Dynamik eingebettet sein?

Diese Problematik tangiert den historischen Materialismus als Ganzes in seinem Verhältnis zur idealistischen Dialektik, da der dialektische Materialismus die Kohäsions - und Integrationskräfte des Spätkapitalismus unterschätzt. Gemeint sind jene starken und materiellen Kräfte, welche die antagonistischen Gegensätze neutralisieren und die negativen Kräfte in positive, das Bestehende reproduzierende, transformieren. Als Schlußfolgerung darauf, muß die Konzeption der im inneren eines Ganzen sich entfaltenden Negation und Befreiung, sowie der materialistische Begriff der Vernunft in der Geschichte, in Frage gestellt werden. Weiterhin muß der Begriff der Praxis notwendig von dieser Konzeption gelöst und das „Innerhalb“ mit dem „Außerhalb“ verbunden werden.

Die aufgeworfenen Fragen verweisen auf die reale Möglichkeit der Negation und Aufhebung eines bestehenden antagonistischen Ganzen von außen her, welches auf diese Weise die nächst höhere geschichtliche Stufe erreichen wird. Der Begriff des "Außen" findet sich bereits in der Hegelschen Rechtsphilosophie, explizit im Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat. Der bürgerlichen Gesellschaft wurde der Staat mit der Begründung aufoktroyiert, daß er allein die Macht besitze – aufgrund seiner Stellung außerhalb des sozialen Interessens- und Bedürfnissystems – innerhalb dieses antagonistischen Ganzen das Allgemeine zu vertreten. Dadurch bleibt das Allgemeine „außerhalb“ des Systems der bürgerlichen Gesellschaft. Kann ein solches Außen nun historisch lokalisiert werden, so bedeutet dies, daß jedes bestimmte gesellschaftliche Ganze selbst Teil einer größeren Totalität sein muß, welche ihrerseits auch selbst wieder eine konkret geschichtliche ist[25].

Am Beispiel des globalen Systems des Kapitalismus und der Koexistenz von Kapitalismus und Sozialismus (als Verhältnis von Teilganzen und Totalität), sowie dem Phänomen der Akkomodation des revolutionären Potentials im Spätkapitalismus, läßt sich zeigen, wie sich der innere Widerspruch entfaltet und in einen globalen Antagonismus transformiert hat. Die Negation tritt heute der Negativität als geographisch und gesellschaftlich Getrenntes und Selbständiges gegenüber. Das Außen muß als eine qualitative Differenz verstanden werden - welche die im Inneren des antagonistischen Teilganzen bestehenden Gegensätze (i.e. Kapital und Arbeit) übersteigt und auf diese Widersprüche nicht reduziert werden kann -, im Sinne gesellschaftlicher Kräfte, welche Bedürfnisse und Ziele repräsentieren, die in dem bestehenden antagonistischen Ganzen unterdrückt werden und somit nicht zur Entfaltung kommen können. Auf dieser neuen Stufe erst wäre es möglich die Entstehung und Befriedigung neuer geistiger und vitaler Bedürfnisse, sowie solcher, die in der antagonistischen Gesellschaft unterdrückt wurden, zu gewährleisten. Dies würde – nach Marcuse - Ausdruck finden in radikal veränderten menschlichen Beziehungen und einer grundlegend anderen sozialen und natürlichen Umwelt: Solidarität anstatt Konkurrenz; Sinnlichkeit statt Repression; das Verschwinden von Brutalität und Vulgarität; und Frieden als Dauerzustand. Doch solange diese Ziele und Werte nicht zu realen Bedürfnissen werden, „so lange wird die qualitative Differenz zwischen der alten und der neuen Ordnung nicht zur Entfaltung kommen können“ (Marcuse; Zum Begriff der Negation in der Dialektik; S.190).

In dem Ausmaß, in welchem sich die antagonistische Gesellschaft in eine repressive Totalität transformiert, verlagert sich der gesellschaftliche Ort der Negation nach außen. Die Macht des Negativen erwächst aus Kräften und Bewegungen, welche noch nicht von der aggressiven und repressiven Produktion der Überflußgesellschaft affiziert wurden, oder die sich schon von dieser Entwicklung befreien konnten und somit die historische Chance besitzen, einen grundsätzlich anderen, humaneren Weg der Modernisierung und Industrialisierung, eben des Fortschritts zu beschreiten. Wir wissen heute, daß das Subjekt der Negation in keiner Klasse mehr zu lokalisieren ist. Marcuse zufolge ist diese diffuse Opposition, welche auf Triebkräften und Zielsetzungen beruht, die mit dem bestehenden Ganzen in unversöhnlichem Widerspruch stehen, trotz allem existent. Ihre Subjekte sind politisch und moralisch, rational und instinktiv; sie protestieren und verweigern sich trotz aller Prosperität.

3.3. Herrschaftsmechanismen der repressiven Totalität

3.3.1. Bedürfnispräformation und ökonomischer Interventionismus

Die von Marx und Engels artikulierte Utopie einer menschenwürdigen Gesellschaft, erscheint, durch die vom Apparat präformierten Bedürfnisse [26] der Individuen, in scheinbar greifbare Nähe gerückt zu sein. Dieser Trugschluß beruht einzig auf dem Triumph der technischen Produktivität, welche unvereinbar mit den Produktionsverhältnissen ist. Allerdings ist nicht die Technik an sich, sondern ihre Verstrickung mit den sozialen Verhältnissen verhängnisvoll. Die Unterordnung der technischen Entwicklung unter das Profit- und Herrschaftsinteresse, sowie das damit einhergehende Kontroll-bedürfnis, manifestiert sich in der Erfindung neuartiger, qualitativ hochwertiger Zerstörungsmittel. Die statischen Aspekte der Produktion terminieren ebenfalls in den obsoleten Produktionsverhältnissen, welche nicht mehr solche des Eigentums, als vielmehr der Administration, bis hinauf zur Rolle des Staat als Gesamtkapitalisten, sind. Es herrscht der Schein, daß universale Interesse sei das des Erhaltes des status quo und Vollbeschäftigung das Ideal, und nicht das der Befreiung von heterogener Arbeit.

Über objektiv richtige oder falsche Bedürfnisse ließe sich durch die Einsicht in die Struktur der gesellschaftlichen Totalität mitsamt ihren Vermittlungen urteilen. Zum gegenwärtigen „ Unbehagen in der Kultur “ führt die existentielle Bedrohung des Bedürfnisses oder Interesses am einfachen Überleben. Der internationale Antagonismus (der beiden Systeme), der zum totalen Krieg strebt, steht im Kontext der Produktionsverhältnisse; die Drohung der einen Katastrophe wird durch die der anderen hinausgeschoben. Das eine Moment bedarf des anderen für seine Existenzsicherung. Am Beispiel der Sowjetunion läßt sich verdeutlichen, daß das Streben nach schneller Produktions-steigerung in einer straff administrativ geführten Diktatur kulminiert. Der Entfesselung der Produktivkräfte entsprangen erneut fesselnde Produktionsverhältnisse und verhinderten die Realisation der Freiheit. Unter beiden Systemen wird der Begriff der gesellschaftlich nützlichen Arbeit parodiert. Die Herrschaft der Produktionsverhältnisse setzt den erreichten Entwicklungstand der Produktivkräfte voraus. Zum Verständnis des einen bedarf es stets des anderen, während trotzdem beides unterschieden werden muß. Mit den dirigistischen Methoden der Konzentration und Zentralisation, sowohl der ökonomischen als auch der medialen Bereiche (Massenmedien), wird die Konformität der Massen erzwungen. Der ökonomische Interventionismus ist selbst ein systemimmanentes Moment und zugleich ein Beispiel immanenter Dialektik, so wie Marx die Umwälzung der Produktions-verhältnisse als ein vom historischen Gang Erzwungenes und dennoch als ein, nur durch eine, von der Geschlossenheit des Systems qualitativ differente, Aktion, Herbeizuführendes dachte. Das nicht Systemimmanente enthüllt sich als ein Konstituens des Systems und verifiziert indirekt die Zusammenbruchstheorie. Der Regression des liberalen Kapitalismus entspricht die des Bewußtseins, der Entäußerung jener Rationalität des festen, identischen Ichs, des Rückschritts der Menschen hinter die objektiven Möglichkeiten[27].

3.3.2. Gesellschaftliche Notwendigkeit der Ideologie der Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen

Es entspricht nicht der Intension einer dialektischen Theorie, Produktivkräfte und Produktions - verhältnisse einander antagonistisch gegenüberzustellen, da sie einander beinhalten bzw. ineinander verschränkt sind. Seit jeher sind die Produktivkräfte durch die Produktionsverhältnisse vermittelt, so daß diese als das Wesen erscheinen. Heute ist der Schein der Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, sowie die Vorstellung, daß man die Gesellschaft von den Produktivkräften her verstehen könnte, da die materielle Produktion, Distribution und Konsumtion gemeinsam verwaltet werden, gesellschaftlich notwendig. „Die Totalität der Vermittlungsprozesse, in Wahrheit des Tauschprinzips, produziert zweite trügerische Unmittelbarkeit. Sie erlaubt es, womöglich das Trennende und Antagonistische wider den eigenen Augenschein zu vergessen oder aus dem Bewußtsein zu verdrängen. Schein aber ist dies Bewußtsein von der Gesellschaft, weil es zwar der technischen und organisatorischen Vereinheitlichung Rechnung trägt, davon jedoch absieht, daß diese Vereinheitlichung nicht wahrhaft rational ist, sondern blinder, irrationaler Gesetzmäßigkeit untergeordnet bleibt“ (Adorno; SoI; S.369). Da alles gesellschaftlich Daseiende vollständig in sich vermittelt ist, wird eben das Moment der Vermittlung durch die Totalität verdeckt („ technologischer Schleier “). Die totale Expansion der Technik liefert eine emphatische Bestätigung der Produktions-verhältnisse, deren Nutznießer ebenso wie die Klasse der Proletarier unsichtbar geworden sind. Die Verselbständigung des Systems gegenüber allen, auch den Verfügenden gegenüber, hat ihren Höhepunkt erreicht. Letztendlich haben sich nur die, unter den Verhältnissen der Produktion verschütteten, menschlichen Beziehungen verselbständigt. Der Beitrag der kritischen Soziologie besteht nun darin, sich nicht als Agent des status quo zu betätigen, sondern mit Mitteln und Kategorien, welche nicht dem universalen Fetischcharakter unterliegen, den Bann der übermächtigen Ordnung der Dinge, als Ideologie, zu lösen.

3.4. Integraler Etatismus als höchste Form des Staatskapitalismus

- Wie sieht die kapitalistisch-ökonomische Organisation des autoritären Staates aus; auf welche Momente stützt sich seine Herrschaft ?

Die bürgerliche Gesellschaft ist zum Monopol - oder Staatskapitalismus übergegangen, die Appropriation findet durch Aktiengesellschaften, Traust und letztendlich den Staat statt. Der technischen Entwicklung ist es zu verdanken, daß die Arbeiter anstelle der Arbeit überflüssig wurden. Lediglich die industrielle und staatliche Bürokratie ist ein Rudiment der bürgerlichen Existenz, während die Monopole die Zirkulationssphäre de facto abschafften. Im Staatskapitalismus manifestiert sich der autoritäre Staat der Gegenwart. Er beseitigt den Markt, hypostasiert die Krise, organisiert die Arbeitslosigkeit und bietet die Möglichkeit einer besseren Bedürfnisbefriedigung und der eigenen Reproduktion durch Planwirtschaft. Auch proletarische Organisationen, wie Parteien und Gewerkschaften, entwickeln sich zu gewöhnlichen Massenorganisationen und assimilieren sich an die ökonomischen Verhältnisse; ihr einstiger Widerstand gegen die Klassengesellschaft an sich ist verschwunden. Die von den großen Organisationen artikulierte Idee der Vergesellschaftung ist kaum verschieden von der Sozialisierung im Staatskapitalismus. Sowohl die Führung der Arbeiter-organisationen wie des Industriemonopols verselbständigten sich gegenüber der Basis; die Institutionalisierung von Arbeit und Kapital ist ein Resultat der veränderten Produktionsweise. Zwischen den Arbeiterorganisationen und der staatlichen Exekutive finden sich Analogien: beide dienen der Kontrolle ihrer Untergebenen durch Unterdrückung der Spontaneität. Im integralen Etatismus können oppositionelle Massenparteien nicht existieren.

Die konsequenteste Form des autoritären Staates ist der integrale Etatismus (i.e. Faschismus oder sowjet.-sozialistische Planwirtschaft), unter welchem der Mehrwert zwar unter staatlicher Kontrolle gewonnen und verteilt wird, aber weiterhin als Profit an die Industriemagnaten und Grundbesitzer fließt. Im integralen Etatismus besteht die konkrete Möglichkeit der Errichtung einer freien Gesellschaft ohne Rassismus, doch ist die Wirklichkeit eine andere: die Lohnarbeiterschaft besteht weiterhin, die Reglementierung durchdringt das gesamte soziale Leben, es herrscht Mangel an technischen Hilfsmitteln und stetige kriegerische Verwicklungen. Der autoritäre Staat zeichnet sich in all seine Varianten durch Repression, Verschwendung und der Modifikation des Ausbeutungs-verhältnisse aus. Ein Prinzip seiner Herrschaft ist der fortschreitende Militarismus im äußeren und damit verbunden die permanente Mobilisation, Kriegsdrohung und Feindbildkonstruktion. Auf diese Weise wird jegliche innere Opposition unterdrückt. Während zeitgleich die Monadologisierung der Individuen vorangetrieben wird. All dies ist so effektiv, daß der autoritäre Staat selbst die Konkurrenz oppositioneller Massenparteien nicht zu fürchten braucht.

3.4.1. Die Dialektik der sozialen Umwälzung

Die Zusammenbruchsprognose der kapitalistischen Ordnung ist ambivalent: entweder erfolgt er durch die ökonomische Krise, welche durch die Markwirtschaft definiert ist; oder er wird durch den Triumph des autoritären Staates fixiert, den Engels bereits vorhersah. Mit ihrer teleologischen Geschichts-philosophie unterliegen Marx und Hegel einem metaphysischen Irrtum; es bricht keine neue gesellschaftliche Epoche an und der Fortschritt beherrscht bereits die gegenwärtige Vor geschichte. Es existieren keine historischen Gesetze, vergleichbar der Lehre vom Wachstum der Produktivkräfte, von der Abfolge der Produktionsweisen oder der historischen Aufgabe des Proletariats. Nach Marx erlaubt die Kenntnis dieser historischen Gesetze, welche den Ablauf der Gesellschaftsform regeln, einen Prozeß zu beschleunigen, welcher sich ohnehin selbständig vollzieht. Doch trotz des Bekenntnisses zur Hegelschen Logik von Sprung und Umschlag wurde die Revolution durch den Übergang zum Staatskapitalismus auf bloßen Fortschritt reduziert. Es fand lediglich eine Rationalisierung der Planung und Distribution statt. Die Dialektik der sozialen Umwälzung - der Übergang zur staatlichen Kontrolle, sowie die Befreiung von ihr – bewirkt die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Planung der Produktion und die Steigerung der Naturbeherrschung ins Unermeßliche. Ohne permanente spontane Anstrengung und aktive Resistenz wird jedoch die Ausbeutung nie beendet werden. Ihr Ende, als der rationale Bruch mit der Klassengesellschaft, würde keine Beschleunigung des Fortschritts bedeuten, sondern den Sprung aus ihm heraus. Mit dem Übergang zur Freiheit erstirbt die Selbstbewegung des, der bürgerlichen Ökonomie immanenten, Entwicklungsgesetzes. Doch darf sich das materialistische Denken nicht der Hegelschen Prognose sicher wähnen, die Selbstbewegung des Begriffs der Ware führe notwendig zum Begriff des Staatskapitalismus. Der idealistischen Dialektik gilt die Identität von Ideal und Wirklichkeit als Voraussetzung und Ziel der Geschichte, während für die materialistische Dialektik die Identität von Ideal und Realität in der universalen Ausbeutung terminiert. Aus diesem Grund besteht Marx Wissenschaft in der Kritik der bürgerlichen Ökonomie und nicht im Entwurf der sozialistischen. Er erklärt die Wirklichkeit anhand ihrer Ideologie; über die Entfaltung der offiziellen Ökonomik gelangt er zum Geheimnis der Ökonomie.Als wichtigste Determinante für die Entwicklung des Kapitalismus ist weiterhin das Tauschprinzip anzusehen. Die Entwicklung der bürgerlichen Ordnung terminiert in ihrer Produktionsweise, die durch jenes ökonomische Prinzip definiert wird. In der Divergenz von Begriff und Rationalität gründet die Möglichkeit emanzipativer Praxis, da in der Klassengesellschaft zwischen den Veränderungen in der Produktionsweise und der herrschenden Ideologie ein notwendiger Zusammenhang besteht. Allerdings legt die Zwangsläufigkeit der Vergangenheit nicht den Willen zur Freiheit und Zukunft fest. Vielmehr erscheinen die Menschen unfähig zur Freiheit, da sie durch die wachsenden kapitalistischen Antagonismen bestimmt werden. Als das Modell künftiger außenpolitischer Konstellationen können ein paar große Monopole, im Kontext zweier antagonistischer Machtblöcke, angesehen werden, die bei gleichen Fabrikationsmethoden und Erzeugnissen ihre Konkurrenz aufrecht erhalten. Heute wird die Produktion herrschaftlich gesteuert und entspricht keineswegs den menschlichen Bedürfnissen. Die Perpetuierung der internationalen Krise durch den autoritären Staat und sein ewig erscheinendes Wesen ist jedoch nicht realer als die ewige Harmonie der Marktwirtschaft.

Aufgrund seiner Stärke biedern sich dem Staatskapitalismus die wirtschaftlich rückständigen Staaten an. Die Dominanz des autoritären Staates kann durch den Versuch, wirkliche Freiheit herzustellen, der atomisierten Einzelnen gebrochen werden; diese Versuche dulden ihrem Wesen nach keine Bürokratie. Ohne die periodischen Säuberungsaktionen der sozialistischen Avantgarde, lebt die Hoffnung auf eine klassenlose Gesellschaft fort. Allerdings haben die zwei Phasen, in denen er sich der Theorie nach verwirklichen soll, mit der Ideologie, welche heute der Perpetuierung des integralen Etatismus dient, nur wenig zu tun. Für Engels fällt diese Vergesellschaftung mit dem Ende der Herrschaft an sich zusammen; die Sozialisierung der Produktionsmittel durch den Staat ist zugleich seine letzte Handlung als solcher. Ursprünglich sollte mit jedem Stück erfüllter Planung ein Stück Repression verschwinden, doch hat sich statt dessen die Repression verstärkt. Es kann nicht abstrakt unterschieden werden, ob die planmäßige Produktionssteigerung den Sozialismus realisiert oder verhindert. Das erneute Umschlagen der Verwaltung in Herrschaft, die Erhöhung von administrativen zu Machtpositionen durch eine Klasse oder Partei, kann nur durch konsequente Abschaffung jedes Privilegs und der Konstitution von Formen einer klassenlosen Demokratie verhindert werden. Die Macht der Vereinzelten resultiert aus ihrer Vereinzelung; ihr Waffe ist das Wort.

3.4.2. Bedeutung der Theorie für die revolutionäre Praxis

Die Reflexion im Dienste einer befreiten Gesellschaft darf nicht vergessen, daß das Gedachte nicht verbindlich für die Befreiten ist, sondern es der freien Übereinkunft der Individuen überlassen bleibt, ob sie es realisieren oder auch nicht; es kann nicht theoretisch vorweggenommen werden. Mit dem Verschwinden der Verfügungsgewalt über fremde Arbeit wird auch die Frage nach der Macht zu einer rein rhetorischen. Die Entmachtung der Herrschenden bedarf der Gewaltlosigkeit, da „nichts auf der Erde vermag länger die Gewalt zu rechtfertigen, als daß es ihrer bedarf, das Ende der Gewalt herbeizuführen“ (Horkheimer; Autoritärer Staat; S.315)[28]. Apologeten dieses Standpunktes assoziieren mit der Freiheit lediglich eine neue Strafjustiz und nicht deren Abschaffung. Sie behaupten, daß ohne eine neue autoritäre Bürokratie der technologisch-logistische, administrative und kulturelle Zivilisationsstand schwinden würde.

3.4.3. Staatskapitalismus als vernünftige Alternative zum Liberalismus?

Der Staatskapitalismus ist die Vorstufe zur klassenlosen Gesellschaft, auch wenn seine zentralistische Produktionsweise aus technischen Gründen überleben sollte. Ein sichtbarer Ausdruck einer allgemeinen ökonomischen Umwälzung ist das wirtschaftliche Primat kleiner Einheiten, der Elite- und Facharbeiter. In der behavioristischen Degradierung des Einzelnen beruht seine Chance der Emanzipation. Diese Umwälzung wäre nicht aufzuhalten, würde nicht die Zentralisation und Konzentration in Staat und Gesellschaft das Subjekt zu seiner Dezentralisation treiben. Das Wort Freiheit erscheint ihm utopisch, da es sich ihre Verwirklichung nicht vorzustellen vermag. „Damit die Menschen einmal solidarisch ihre Angelegenheiten regeln, müssen sie sich weit weniger verändern, als sie vom Faschismus verändert wurden. Es wird sich zeigen, daß die bornierten und verschlagenen Wesen, die heute auf menschliche Namen hören, bloße Fratzen sind, bösartige Charaktermasken, hinter denen eine besserer Möglichkeit verkommt. Sie zu durchdringen muß die Vorstellung eine Kraft besitzen, die ihr freilich der Faschismus entzogen hat“ (Horkheimer; a.a.O.; S. 327). Einzig vom freien Willen der Menschen ist es noch abhängig, da die materiellen Voraussetzungen bereits erfüllt sind. Doch herrscht allgemein die Unfähigkeit zum Freiheits-Denken, welche auch die Sprache zerstört. Alle Kategorien, in denen das Denken und Sprechen stattfindet, sind ideologisch geworden. Die Kritische Theorie wendet sich gegen die Konformität des Denkens und vermag trotzdem nicht dem Einzelnen die Form seines Widerstandes gegen das Unrecht vorzuschreiben. Doch schon wahres (kritisches, auf Freiheit gerichtetes) Denken ist ein Zeichen der Resistenz. Die Schlußfolgerung, daß als Alternative zum vergangenen Liberalismus einzig die Förderung des Staatskapitalismus bleibt, weil das Proletariat von den alten Mächten nicht zu erwarten habe; daß der Staatskapitalismus heute das einzig Mögliche sei und dem Proletariat mitsamt seinen Theoretikern keine Wahl bleibt als dem Weltgeist zu folgen - solange sie nicht ihre eigene Revolution machen -, bewegt sich lediglich in Dimensionen von Fort- und Rückschritt. Es verdinglicht das Individuum; das Subjekt wird zum Objekt reduziert. „Solange die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht“ (Horkheimer; a.a.O.; S.319).

3.5. Ökonomische Organisation des Staatskapitalismus und seine Relevanz für eine befreite Gesellschaft

- Wie ist der Staatskapitalismus entstanden und was unterscheidet ihn von Privatkapitalismus?

Grundsätzlich müssen zwei Formen des Staatskapitalismus unterschieden werden: die totalitäre und die demokratische [29] Form. Synonym für den Begriff des Staatskapitalismus sind Termini wie „staatlich organisierter Kapitalismus mit Privateigentum und Monopol“, „Wirtschaft des totalen Staates“, „Verwaltungskapitalismus“, „bürokratisch geleiteter Kollektivismus“, „Staatssozialismus“ oder „Integraler Etatismus“. Alle eint folgende Gemeinsamkeiten: 1. Der Staatskapitalismus ist der Nachfolger des Privatkapitalismus (Liberalismus); 2. Der Staat übernimmt die wichtigsten Funktionen des Privatkapitalisten; 3. Das Profitinteresse spielt immer noch eine entscheidende Rolle; und 4. Es ist kein Sozialismus.

Der Staat kontrolliert den ehemals autonomen Markt; die Freiheit von Unternehmung, Handel und Arbeit werden durch ihn limitiert, so daß die gesamten Wirtschaftsgesetze (i.e. Preisfindung) ausge-hebelt werden. Es kommt zu einer planmäßigen Reglementierung von Produktion, Distribution und Konsumtion auf einem Pseudo-Markt. Unter der totalitären Form des Staatskapitalismus kann eine oligarchische Herrschaftsform verstanden werden, welche aus der Synthese von Kapital, staatlicher und militärischer Bürokratien hervorgegangen ist. Jedes Subjekt, welches nicht zu dieser Gruppe gehört, ist nur ein Objekt der Herrschaft. Die demokratische, vom Volk kontrollierte Form des Staatskapitalismus besitzt zwar die gleichen Kontrollfunktionen, doch existieren in ihr Einrichtungen, welche verhindern, daß die Bürokratie ihre Stellung in der Administration zum Machtinstrument ausbaut und damit die Grundlage zur Umwälzung in ein totalitäres System schafft.

Konzentration und Zentralisation, Monopolbildung und Verstaatlichung (u.a. des Finanzsystems), Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung, sind Momente des Niedergangs des liberalen Marktsystems. Derartige Entwicklungen verweisen auf die Notwendigkeit einer grundlegenden Neu-organisation des Wirtschaftssystems, um einen gänzlichen Verfall der sozialen Struktur abzuwenden und die Beschäftigung aller zu garantieren. Die notwendigen Funktionen der neuen Organisations-form, welche mit der Arbeitsteilung zusammenfallen, betreffen die Bereiche der Koordination von Bedarf und Hilfsmitteln, sowie die Lenkung der Produktion und Distribution.

3.5.1. Neuordnung des sozialen Lebens

Das neue Ordnungsschema der Planung von Produktion, Konsum, Finanzwesen und Bedürfnissen (einschließlich deren Befriedigung[30] ), beruht auf einer Verbindung von alten und neuen Methoden. Jedoch basiert die Planung auf der bewußten Entscheidung über Zwecke und Mittel, noch ehe die Produktion überhaupt einsetzt. Hierbei stellt sich das politische Problem der planungstechnischen Entscheidungen, welche nicht willkürlich sein dürfen, sondern sich weitestgehend an den verfügbaren Mitteln orientieren müssen. Weiterhin muß eine konsequente Unterordnung der Preisfindung unter das Primat des „allgemeinen Plans“ stattfinden, wie auch alle Einzel-, Sonder- und Profitinteressen ihm subsumiert werden müssen. Allerdings kann auf das Profitmotiv nicht grundsätzlich verzichtet werden, da es den Charakter des gesamten System zerstören würde und es zweifelsfrei einen wirksamen Anreiz für die Motivation des Einzelnen darstellt. Auf alle Gebiete des sozialen Lebens im Ganzen, wird die rationale Betriebsführung ausgedehnt und konsequent angewendet. Die Staatsgewalt dient als Exekutive und Garant der Planwirtschaft. Es kommt zu einer grundlegenden Transformation des gesamten Systems, kohärent des Charakters der gesamten historischen Epoche; der Übergang von einer wirtschaftlichen in eine politische Ära. Nach Pollock wurden unter dem Privatkapitalismus alle sozialen Beziehungen durch den Markt definiert; die Subjekte traten als Handelnde im Austauschprozeß – als Käufer oder Verkäufer – in Erscheinung und definierten ihre soziale Stellung v.a. anhand ihres Vermögens. Das Profitinteresse war die treibende Kraft diese Systems. Im Staatskapitalismus hingegen definieren sich die Individuen durch ihr Machtstellung, sie treten als Befehlende oder Gehorchende in Erscheinung. Auch wenn das Gewinnmotiv nur eine besondere Form des Machtmotivs darstellt, so liegt der entscheidende Unterschied darin, daß ersteres wesentlich mit der Machtstellung der herrschenden Gruppe verknüpft ist, während das andere nur dem Individuum zukommt.

3.5.2. Kontrolle der Produktion

Zur Durchführung des Produktionsplans bedarf es notwendig der technischen und administrativen Rationalität um das Sozialprodukt zu steigern. Die Produktion ist auf einen klar definierten Zweck ausgerichtet und nicht mehr „Waren“-Produktion im Sinne eins Marktsystems. Durch die rigide staatliche Kontrolle des Kapitals kommt es zu einer Transformation von Privateigentum in Produktionsmittel. Als Folge geht die soziale Funktion von privaten Kapitalbesitzes verloren und die Betriebsführung entgleitet dem Aktionär. Im Staatskapitalismus verändert sich die Stellung der Privatkapitalisten in dreifacher Hinsicht:

1. Es erfolgt eine Division von Produktionsleitung und der Verfügungsgewalt über das Kapital; die Geschäftsleitung wird praktisch unabhängig vom Kapital, ohne daß sie notwendigerweise einen bedeutenden Anteil an dem nun gemeinsamen Eigentum besitzt.
2. Die Unternehmer- und Kapitalistenfunktionen unterliegt staatlichen Interventionen oder werden von der Regierung übernommen.
3. Der Kapitalist verliert seine ehemalige Einnahmequelle und Betätigung.

Im Staatskapitalismus ist die persönlich Initiative von inhibierenden Besitzinteressen befreit; das Zentralmotiv ist das Streben nach politischer Macht. Die Arbeiter werden durch politischen Terror und das Versprechen materieller und ideeller Belohnung gefügig gemacht. Es herrscht das Prinzip der Subsumtion des Einzel- unter das Allgemeininteresse, was entscheidend zur Stärkung der Regierungskontrolle beiträgt.

3.5.3. Kontrolle der Distribution

Das größte Problem des Privatkapitalismus war die unkontrollierte Überproduktion und damit verbunden die Frage deren Verteilung. Im Staatskapitalismus werden etwaige Verluste kollektiviert, die Mittel direkt zugeteilt und die Preise vorgeschrieben. Es findet eine planmäßige (verhältnismäßig willkürliche) Entscheidung statt, wieviel der Gesamtproduktion auf die Konsumtion und wieviel auf die Ausdehnung der Produktion verwendet werden soll bzw. muß. An Voraussetzungen für die Warendistribution an die Produzenten müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:

a) die Produktionsbetriebe befinden sich in Privatbesitz, werden aber dennoch von der Regierung kontrolliert;
b) die Industrie ist in Kartellen organisiert;
c) die Preise reagieren auf Änderungen in Angebot und Nachfrage und die Kostenbildung – soweit die planende Behörde und die Monopole es zuläßt;
d) es existiert ein allgemeiner Plan für die Bildung der Gesamtproduktion.

Unter diesen Umständen wird eine systematische Zuteilung sichergestellt, welche der Reproduktion der bestehenden Hilfsmittel, der Ausdehnung der Produktion und der Erzeugung von Waren für den Verbraucher in ihrer Gesamtheit dient.

Vollbeschäftigung ist nur in bezug auf die Arbeitskräfte zu erreichen, da sie bei Produktionsmitteln technisch nicht möglich ist. Als vorteilhaft bei der Entschädigung von Verlusten erweist sich der zusammengeworfenen Gewinn und die Vermeidung von Knappheit an Kapital durch rationale Planung. Arbeitskräfte werden wie andere Hilfsmittel dirigistisch zugeteilt. Die staatliche Lohnfest-setzung erlaubt die genaue Kontrolle der Verteilung der Konsumgüter. Dies beruht auf der Annahme einer bestimmten Beziehung zwischen der Kaufkraft und der Summe aller verfügbaren Konsumgüter. Etwaige Divergenzen zwischen dem Produktionsplan und den Neigungen der Konsumenten, können durch die unverhältnismäßige Erhöhung oder Reduzierung der Preise umgangen werden. Die fehlende Verbindung von Preis und Produktion ist nicht nachteilhaft, da Produktion und Konsumtion gleichgeschaltet werden.

3.5.4. Ökonomische Grenzen des Staatskapitalismus

Oft wird der Vorwurf erhoben, daß sich der Staatskapitalismus nur in Krisenzeiten und Zeiten allgemeiner Knappheit bewähren kann, da er nicht mit den Probleme zu kämpfen hat, die in der Überproduktion terminieren. Nach Pollock ist der Staatskapitalismus jedoch die ultimative und einzige grenzenlose Wirtschaftsform, da für sie Wirtschaftsgesetze und –probleme, durch die planmäßige Gleichschaltung aller ökonomischen Tätigkeiten, nicht mehr existieren. Wirtschaftsprobleme werden durch solche der Verwaltung substituiert; es gibt allein natürlich und sozio-strukturelle Limitationen dieser Staatsform.

3.5.5. Natürliche Limitationen des Staatskapitalismus

Als Voraussetzung für die Effektivität des staatskapitalistischen Systems bedarf es ausreichender Ressourcen, Anlagen und qualifizierter Arbeitskräfte. Innerhalb der oligarchischen Gruppe müssen Interessenkonflikte verhindert werden, welche aus der Konkurrenz um das Monopol der Kontrolle, dem Machterhalt bzw. seiner Ausdehnung erwachsen. Zur Erreichung der festgelegten Zwecke bedarf es eines gemeinsamen Willens. Da der totalitäre Staatskapitalismus Ausdruck einer antagonistischen Gesellschaft ist, könnte die Planungsbehörde selbst zum Kampffeld zwischen widerstreitenden sozialen Kräften werden. Dem muß ebenso begegnet werden, wie dem Trieb nach Herrschaft über Mensch und Natur, da dies zu einer statischen Wirtschaft führt.

Pollock zufolge ist ein Anstieg des Lebensstandards ist nur in der demokratischen Form des Staatskapitalismus möglich, da die Kontrolle über die Produktionsmittel – in der totalitären Form – einer Kontrollierung des Lebensstandard gleichzusetzen ist[31]. Mehr potentielle Freizeit, als denkbares Moment einer Lebensstandarderhöhung, bietet mehr Gelegenheit zum kritischen Denken, aus welchem sich ein revolutionärer Geist entwickeln könnte. Von daher liegt es nicht im Interesse des totalitären Staatskapitalismus[32]. Stets fanden revolutionäre Forderungen ihren Ausgang nicht in den ärmsten Schichten, sondern in jenen in verhältnismäßig besserer Lage. Ein geeignetes politisches Begrenzungsmittel des Lebensstandards und zur Herstellung intellektueller Abhängigkeit, ist die Propagierung von Feindbildern, verbunden mit permanenter Aufrüstung und Kriegsbereitschaft. Da der totalitäre Staatskapitalismus keinen hohen Lebensstandard der Massen dulden will und Massen-arbeitslosigkeit nicht überstehen würde, kann er in einer Friedenswirtschaft nicht bestehen. Als Konsequenz daraus, muß auch der demokratische Staatskapitalismus stets kriegsbereit sein, um dem Totalitarismus begegnen zu können. Erst wenn alle totalitären Staaten zu Demokratien geworden sind, ist sein Existenz von außen ungefährdet.

3.5.6. Sozialstruktur

Die Sozialstruktur des totalitären Staatskapitalismus zeichnet sich dadurch aus, daß die herrschende Klasse uneingeschränkte Macht ausübt und den allgemeinen Wirtschaftsplan, die auswärtige Politik, die Rechte und Pflichten bestimmt. Sie wird durch keine Verfassung beschränkt, sondern nur durch Regeln, die ihrer eigenen Machterhaltung und –festigung dienen. Die Personen, welche die herrschenden Klasse konstituieren, sind für ihre Aufgabe durch ihre ehemalige Stellung in den Monopolen des Privatkapitalismus präformiert.

Die Klasse der Eigentümer (Kapitalisten) hat keine soziale Funktion mehr und repräsentiert lediglich ein temporäres Phänomen.

Die halbunabhängige Klasse der Freiberufler und Kleinunternehmer wird aufgrund der Konzentrationsprozesse verschwinden, sobald sich der Staatskapitalismus perpetuiert.

Die große Mehrheit des Volkes, die besoldeten Angestellten, werden dem Führerprinzip von Befehl und Gehorsam unterstellt. Ihrer strikten Kontrolle dient die Beschneidung ihrer politischen Rechte, die staatlich forcierte Monadologisierung sowie die Abschaffung des Arbeitsrechts. Arbeit wird zum Zwang, die Löhne festgesetzt und die Freizeit von oben organisiert (Kulturindustrie). Sie vollziehen eine Rückschritt in feudalistische Verhältnisse.

Der Staat perpetuiert seine Herrschaft durch Terror, Propaganda und subtilere Methoden, wie dem Versprechen auf Vollbeschäftigung, ausreichende Lebenshaltung, Sicherheit und ein besseres Leben für jeden konformen Untertan. All dies ändert jedoch nichts an dem fortwährenden antagonistischen Charakter der staatskapitalistischen Gesellschaft, in welcher die Produktivkräfte weiterhin gefesselt bleiben.

Wie bereits erwähnt, darf bei all dem nicht vergessen werden, daß die demokratische Form des Staatskapitalismus in der Praxis bisher noch nicht realisiert wurde. Die Haupthindernisse für seine Verwirklichung sind politischer Natur und können somit nur auf diese Weise beseitigt werden. Der Kritischen Theorie zufolge, kann die Gesellschaft auf dem heutigen technischen Niveau die Hemmungen des Marktsystems durch wirtschaftliche Planung überwinden. Hierbei werden soziale und moralische Probleme evident, welche die Fragen tangieren, inwieweit die freiheitlichen und demokratischen Werte in eine solche Gesellschaftsform integriert werden können, wie die moderne Technik vorteilhaft eingesetzt und bei all dem die Persönlichkeit als Wertquelle, sowie die Erfüllung des Individuums in seiner Betätigung für die Gesellschaft zum letzten Ziel gemacht werden kann.

3.6. Die eindimensionale Gesellschaft / Unterbindung sozialen Wandels und Integration der Gegensätze

Die geschichtliche Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, Werten und Tatsachen, Bedürfnissen und Zielen, spielte sich einst im Bewußtsein und der politischen Aktion der beiden großen, antagonistischen Klassen ab: im Proletariat und der Bourgeoisie. Auch in der spätkapitalistischen Phase sind sie noch immer die grundlegenden Klassen, allerdings hat die allgemeine Entwicklung ihre Strukturen und Funktionen derart verändert, daß sie nicht mehr als Träger einer geschichtlichen Umwälzung in Frage kommen. Ein sich über alle individuellen Interessen hinwegsetzendes Interesse an der Erhaltung und Verbesserung des institutionellen status quo, vereinigt die ehemaligen Antagonisten in den fortgeschrittensten Bereichen der gegenwärtigen Gesellschaft. Durch ein System von Herrschaft und Gleichschaltung bringt der technische Fortschritt Lebens- und Machtformen hervor, welche die transzendierenden und kritisch-emanzipativen Kräfte zu besänftigen, und allen Protest - im Namen der historischen Aussicht auf Freiheit von schwerer Arbeit und Herrschaft - zu besiegen scheinen. Die Unterbindung sozialen Wandels, deren Vorbedingung die Integration der Gegensätze ist, ist vielleicht die hervorstechendste Leistung der fortgeschrittenen Industrie-gesellschaft.

Da es nachweisbar an Trägern und Triebkräften sozialen Wandels fehlt, wird die Kritik auf ein hohes Abstraktionsniveau zurückgeworfen. Es gibt keine Grundlage, auf welcher Theorie und Praxis, Denken und Handeln zusammenkommen könnte; selbst die empirischste Analyse historischer Alternativen erscheint als unrealistische Spekulation. Das Bedürfnis nach Veränderung der Lebensweise, sich dem Positiven zu verweigern, wird durch die etablierte Gesellschaft in dem Maße unterdrückt, wie sie imstande ist, die wissenschaftliche Unterwerfung der Natur zur wissen-schaftlichen Beherrschung der Menschen zu benutzen.

Die Menschheit muß vom falschen zum wahren Bewußtsein gelangen, von ihrem unmittelbaren zu ihrem wirklichen Interesse.

3.6.1. Technologisches Apriori der Herrschaft:

Mit der zunehmenden Integration der Individuen verlieren die, einstmals den akuten sozialen und politischen Konflikt bezeichnenden Kategorien, wie Gesellschaft, Klasse oder Individuum, ihre kritische semantische Bestimmung und tendieren dazu, deskriptive, trügerische oder operationelle Termini zu werden. Kritik wird ideologisch besetzt und erscheint als Regression von einer mit der geschichtlichen Praxis verbundenen Theorie auf abstraktes, spekulatives Denken; die Transformation der Kritik der politischen Ökonomie in Philosophie. In der gegenwärtigen Gesellschaft tendiert der Produktionsapparat in dem Maße totalitär zu werden, wie er nicht nur die gesellschaftlich notwendigen Betätigungen, Fertigkeiten und Haltungen bestimmt, sondern auch die Bedürfnisse und Wünsche der Individuen. Technik dient als effektive und angenehme Form sozialer Kontrolle und sozialem Zusammenhalts. Sie kann nicht von ihrer Verwendung gelöst werden; die technologische Gesellschaft repräsentiert ein Herrschaftssystem, welches bereits im Begriff und Aufbau der Technik angelegt ist. „Als ein technologisches Universum ist die fortgeschrittene Industriegesellschaft ein politisches Universum – die späteste Stufe der Verwirklichung eines spezifischen geschichtlichen Entwurfs[33] – nämlich die Erfahrung, Umgestaltung und Organisation der Natur als des bloßen Stoffs von Herrschaft“ (Marcuse; Der eindimensionale Mensch/Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft; S. 18). Durch seine Entfaltung modelt er das gesamte Universum von Sprache und Handeln, von geistiger und materieller Natur. Produktivität und Wachstumspotential dieses Systems stabilisieren die Gesellschaft und halten den technischen Fortschritt im Rahmen von Herrschaft; technologische Rationalität ist zu politischer Rationalität geworden.

Genuine kritische Ideen und Werte, wie die Denk -, Gewissens - oder Redefreiheit , haben nach ihrer Institutionalisierung ihren ursprünglich kritischen Charakter eingebüßt; sie sind zu integralen Bestandteilen der Gesellschaft geworden[34]. Autonomie, Unabhängigkeit und das Recht auf politische Opposition werden ihrer grundlegend kritischen Funktion beraubt. Oppositionelles Verhalten beschränkt sich einzig auf die Diskussion und Förderung alternativer politischer Praktiken innerhalb des status quo. Dem Aufkommen wirklicher Opposition wird durch eine ökonomisch-technische Gleichschaltung und Manipulation von Bedürfnissen durch althergebrachte Interessen vorgebeugt. Die politische Macht dieses Totalitarismus ist vermittelt durch die Gewalt über den maschinellen Prozeß und die technische Organisation des Apparates. Durch die Organisation und Ausbeutung der technischen, wissenschaftlichen und mechanischen Produktivität, wird die Gesellschaft als Ganzes über allen partikularen oder Gruppeninteressen mobilisiert.

3.6.2. Präformation der Individuen (Introjektion „falscher“ Bedürfnisse)

Ein wirksames Mittel im Kampf gegen die Befreiung besteht darin, den Individuen heteronome, „falsche“ Bedürfnisse zu suggerieren, welche es erlauben die obsoleten Formen der Ungerechtigkeit zu perpetuieren. In diesen historischen Bedürfnissen manifestiert sich ein herrschaftliches Interesse an sozialer Unterdrückung. Im Gegensatz dazu stehen die genuinen „vitalen“ Bedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung), die einen uneingeschränkten Anspruch auf Befriedigung haben. Die letzte Instanz für die Beurteilung von wahren oder falschen Bedürfnissen ist das Individuum selbst. Solange es sich jedoch dieses Verblendungszusammenhangs nicht bewußt ist, kann sein Urteil nicht als autonom angesehen werden. „Alle Befreiung hängt vom Bewußtsein der Knechtschaft ab, und das Entstehen dieses Bewußtseins wird stets durch das Vorherrschen von Bedürfnissen und Befriedigungen behindert, die in hohem Maße die des Individuums geworden sind“ (Marcuse; a.a.O.; S.27). Die Angleichung der Klassen unterschiede , zwischen dem Gegebenen und dem Möglichen, zwischen befriedigten und unbefriedigten Bedürfnissen, besitzt ideologische Funktion. Gesellschaftlich notwendige Bedürfnisse werden in individuelle Bedürfnisse umgewandelt, so daß in dem Ausmaß, in dem die unterworfenen Subjekte an den Bedürfnissen und Befriedigungen partizipieren, sie der Erhaltung des Bestehenden dienen. Kulturindustrie und Massenmedien sind die Agenten der Präformation der individuellen Bedürfnisse und Triebe. Derartige Introjektion sozialer Kontrolle beeinträchtigt selbst individuellen Protest bereits in seinen Wurzeln. Es bezeichnet das Schwinden jener historischen Kräfte, welche die Möglichkeit neuer Daseinsformen zu vertreten schienen. Die Irrationalität der technischen Kontrolle erscheint als die Verkörperung der Vernunft. Der Begriff der Introjektion impliziert die Existenz einer inneren Dimension, ein individuelles (Un-) Bewußtsein, welche different und vielleicht sogar antagonistisch gegenüber der öffentlichen Meinung und dem öffentlichen Verhalten ist. In der etablierten Gesellschaft ist jedoch diese innere Dimension vollständig fremdbestimmt, mit dem Ergebnis der unmittelbaren Identifikation (Mimesis) des Individuums mit seiner Gesellschaft und dadurch mit ihr als einem Ganzen. Die Unmittelbarkeit dieses Prozesses, der Verlust der Fähigkeit zu negativen Denken, die kritische Macht der Vernunft, ist das ideologische Pendant zur materiellen Akkomodation der Opposition. Durch die individuelle Identifikation mit dem Daseinenden wird die Entfremdung gänzlich objektiv; das entfremdete Subjekt wird seinem entfremdeten Dasein einverleibt. Durch ihre Rationalität wird das falsche zum wahren Bewußtsein; die Ideologie geht in der Wirklichkeit auf. Gegenwärtig steckt die Ideologie im Produktionsprozeß selbst und ist Ausdruck der herrschenden technischen Rationalität. Die produzierten Güter und Dienstleistungen durchdringen und manipulieren die Menschen; sie fördern ein falsches Bewußtsein, das gegen seine eigene Falschheit immun ist.

3.6.3. Akkomodation jeglicher kritischer und transzendentaler Opposition

Auf diese Weise entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, in welchem Ideen, Bestrebungen und Ziele abgewehrt, neubestimmt und zu Begriffen des bestehenden Universums reduziert werden, welche ihrer genuinen semantischen Bedeutung nach dieses Universum von Sprache und Handeln transzendieren. Ein Beispiel für diese Tendenz findet sich in dem operationalistischen und behavioristischen Empirismus, der die methodologische Rechtfertigung für die Reduktion des Geistes darstellt. Dieser Positivismus ist das akademische Gegenstück zum gesellschaftlich erforderten Verhalten, indem er die transzendierenden Momente der Vernunft leugnet. Derart weit-reichende Änderungen all unserer Denkgewohnheiten, die Konformisierung jeglicher intellektueller Tätigkeit, führen soweit, daß selbst Protestformen nicht mehr negativ sind, im Widerspruch zum status quo stehen. Vielmehr sind sie zu einem harmlosen Moment des Ganzen verkommen. Nicht-operationelle Gedanken gelten als subversives Verhalten; als Schranken des Denkens gelten die Grenzen der Vernunft. „Geschichtliche Transzendenz erscheint als metaphysische Transzendenz, unannehmbar für die Wissenschaft und wissenschaftliches Denken“ (Marcuse; a.a.O.; S.35). Das Bestehen auf operationellen und behavioristischen Begriffen – welche zum integralen Bestandteil des etablierten Universum der Sprache und Handeln, von Bedürfnissen und Bestrebungen werden – ist gegen die Anstrengung gerichtet, das Denken und Verhalten von der gegeben Wirklichkeit und für die unterdrückten Alternativen zu befreien. Es herrscht das Primat der instrumentellen Vernunft und die herrschaftliche Instrumentalisierung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Der Operationalismus in Theorie und Praxis dient der Theorie und Praxis der Eindämmung. Gesellschaft ist ein völlig statisches System, es reproduziert sich selbst in seiner unterdrückten Produktivität und vorteilhaften Gleichschaltung. In der Tendenz zur Vollendung der technischen Rationalität, im Rahmen der bestehende Institutionen, besteht der innere Widerspruch dieser Zivilisation; das irrationale Moment ihrer Rationalität.

Qualitative Änderungen sind kein ausschließliches Produkt ökonomischer und politischer Veränderung, sondern ebensosehr solche der technischen Basis der Gesellschaft, da die Techniken der Industrialisierung politische sind und als solche im Voraus über die Möglichkeit von Vernunft und Freiheit[35] entscheiden.

Phänomene der herrschenden Gesellschaftsorganisation, wie Überfluß und Freizeit, integrieren offensichtlich jegliche Opposition und assimilieren jegliche geschichtliche Alternative. Techno-logische Rationalität offenbart ihren politisch-herrschaftlichen Charakter und erschafft ein totalitäres Universum, welches gegen jede Art der Transzendenz immun erscheint. Jedoch von dem Moment an, da die materielle Produktion dermaßen automatisiert ist, daß sie alle Lebensbedürfnisse befriedigt und die notwendige Arbeitszeit zu einem Bruchteil der Gesamtzeit reduziert, ist der Punkt erreicht, an dem der technische Fortschritt das Reich der Notwendigkeit transzendiert, welchem er bisher als Herrschafts- und Ausbeutungsinstrument gedient hat. Die Technik würde dann der historischen Alternative der Befriedung von Mensch und Natur untergeordnet.

3.6.4. Der Wohlfahrts- und Kriegsführungsstaat

Die Gesellschaft der totalen Mobilisierung verbindet in produktiver Einheit die Züge des Wohlfahrts - und Kriegsführungsstaates. Durch die Konvergenz der politischen Gegensätze wird jede Art der Subversion assimiliert. Diese Entwicklung führt soweit, daß selbst Gewerkschaften und Konzerne gemeinsam als Lobbyisten auftreten, und zeugt von der kapitalistischen Integration, welche die qualitativen Differenzen widerstreitender Interessen als quantitative innerhalb der bestehenden Gesellschaft erscheinen läßt.

Marx sah die Voraussetzung für eine qualitativen Wandel in der Entwicklung emanzipativer Kräfte innerhalb der widersprüchlichen Totalität, welche die bestehenden Verhältnisse negieren. Dies impliziert jedoch, daß die arbeitende Klasse ihrer ganzen Existenz nach von diesem Universum entfremdet ist und ihre Angehörigen das Bewußtsein der Unmöglichkeit des Fortbestehens teilen. Erst dann kann es zur revolutionären Umwälzung, der Zerstörung des politischen Apparates des Kapitalismus und zur Sozialisierung der bestehenden technischen Mittel kommen: Befreiung der technologischen Rationalität von ihrem irrationalen Charakter mit dem Ziel der Produktion zur Befriedigung der sich frei entfaltenden individuellen Bedürfnisse.

Standardisierung, Automatisierung und Routine gleichen jedoch produktive und unproduktive Arbeit einander an und bedeuten eine grundlegende Änderung im Charakter der Produktion. Dieser Wandel scheint den Marxschen Begriff der „organischen Zusammensetzung des Kapitals“ und mit ihm seine Mehrwerttheorie aufzuheben. Produktivität wird nicht mehr durch individuelle Arbeitsleistung, sondern durch Maschinen bestimmt, deren Messung unmöglich wird. Diese Veränderung hat nun ihrerseits Auswirkungen auf die Haltungen und das Bewußtsein der Arbeiter, welche dadurch in die etablierte Gesellschaft integriert werden. Die Mimesis von Bedürfnissen und Wünschen (im Lebensstandard, in der Freizeitgestaltung, der Politik) terminiert in einer Integration in der Fabrik selbst; im materiellen Produktionsprozeß. Herrschaft wird in Verwaltung überführt, wodurch das Ausbeutungsverhältnis hinter einer Fassade objektiver Rationalität verschwindet. „Mit dem technischen Fortschritt als ihrem Instrument wird Unfreiheit – im Sinne der Unterwerfung des Menschen unter seinen Produktionsapparat – in Gestalt vieler Freiheiten und Bequemlichkeiten verewigt und intensiviert“ (Marcuse; a.a.O.; S.52). Aufgrund der technologischen Form der Verdinglichung manifestiert sich eine reziproke Abhängigkeit von Administration und Maschinerie.

Unter der Bedingung des Wohlfahrtsstaates hat die Abnahme von Freiheit und Opposition nichts mit moralischem oder intellektuellem Verfall zu tun. Die Anhebung des Standards des verwalteten Lebens ist insofern ein objektiver sozialer Prozeß, als die Produktion und Distribution einer größer werdenden Menge von Gütern und Dienstleistungen Konformität zu einer rationalen technischen Einstellung erhebt. Dieses Phänomen ist ein unvermeidliches Nebenprodukt der politisch manipulierten Industriegesellschaft und erfordert neben einer notwendigen Verschwendung eine kontinuierliche Rationalisierung. Durch den erhöhten Konsum schwindet der Gebrauchswert der Freiheit. Autonomie erscheint überflüssig angesichts des bequemen verwalteten Lebens. Eine qualitative Veränderung scheint nur als eine von außen möglich. Die konkurrierenden Institutionen in der pluralistischen Verwaltung wetteifern darum, die Macht des Ganzen über das Individuum zu festigen. Dazu wird der Mobilisierungs- und Verteidigungszustand, zur Eindämmung innerer und äußerer Bedrohungen, zum Normalzustand erhoben. Selbst unter staatskapitalistischen Verhältnissen bleibt das gesellschaftliche Bedürfnis nach privater Appropriation und Distribution des Profits, als Regulativ der Ökonomie, erhalten; die Realisierung des allgemeinen Interesses ist weiterhin mit den partikularen Interessen verbunden.

3.6.5. Repressive Entsublimierung

Die oppositionellen und transzendierenden Elemente fallen dem Prozeß der repressiven Entsublimierung zu Opfer. „Was heute geschieht, ist nicht die Herabsetzung der höheren Kultur zur Massenkultur, sondern die Widerlegung dieser Kultur durch die Wirklichkeit“ (Marcuse; a.a.O.; S.76). Kulturelle Bereiche, wie die Kunst, Politik, Religion und Philosophie, werden durch die Kulturindustrie ihres Wahrheitswertes beraubt und auf Warenförmigkeit reduziert; es findet eine Materialisierung der Ideale statt. Die subversive und emanzipative Gewalt der Kunst und Literatur, in Gestalt der künstlerischen Entfremdung [36] , das bewußte Transzendieren der entfremdeten Existenz, wird von der Gesellschaft absorbiert. Die ideologische Verklärung sozialer Antagonismen, auf einer erhöhten Stufe materieller Befriedigung, findet Ausdruck in der populären Kultur. Es findet eine durchgreifende Entsublimierung statt, welche auch auf die sexuelle Sphäre übergreift. Mit der durch Mechanisation eingesparten Arbeitskraft wird ebenso Libido – die Energie der Lebenstriebe – eingespart. Als Folge verändert sich das Universum libidinöser Besetzungen; Libido wird auf sexuelle Erfahrung und Befriedigung reduziert, wird ebenfalls marktförmig. Durch die Eingliederung des Sexuellen in die Arbeitsbeziehungen wird ihre kontrollierte Befriedigung ermöglicht. Sie wird auf eine Weise bewerkstelligt, welche Unterwerfung hervorbringt und die Rationalität des Protests schwächt. Im Gegensatz dazu bewahrt die Sublimierung das Bewußtsein der Versagung und hält damit am Bedürfnis nach Befreiung fest. „Sublimierung erfordert ein hohes Maß an Autonomie und Einsicht; sie vermittelt zwischen Bewußtem und Unbewußtem, zwischen Intellekt und Trieb, Versagung und Rebellion. In ihren vollendesten Weisen, wie dem Kunstwerk, wird Sublimierung zur Erkenntniskraft, welche die Unterdrückung besiegt, indem sie sich ihr beugt“ (Marcuse; a.a.O.; S.95). Institutionalisierte Entsublimierung erscheint als ein Aspekt der Bewältigung der Transzendenz und erlaubt selbst die Manipulation und Kontrolle des Destruktionstriebes.

3.7. Eindimensionales Denken und Verhalten

Auch die Sprache wird ihrer transzendierenden Momente beraubt, indem die semantische Bedeutung der Begriffe (i.e. Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Frieden) beschnitten wird. Die Institutionen der Rede- und Denkfreiheit verhindern nicht in geringster Weise die intellektuelle Gleichschaltung. Durch Funktionalisierung, Abkürzungen und Vereinheitlichungen wird Sprache zum Instrument des eindimensionalen Denkens. Die dialektische Sprache hingegen entfaltet und erklärt den Konflikt zwischen dem Ding und seiner Funktion in Form von Sätzen, welche die einander widersprechenden Prädikate zu einer logischen Einheit verbindet; es ist das begriffliche Pendant zur objektiven Realität.

3.7.1. Kritik der empirischen Sozialforschung

Der „ Begriff “ ist das Ergebnis eines Reflexionsprozesses; eine endgültige Vorstellung eines Sach-verhaltes, dessen Inhalt und Bedeutung identisch und doch verschieden von den realen Gegenständen der Erfahrung ist. Alle Begriffe der Erkenntnis transzendieren die deskriptiv-historische Totalität im Hinblick auf ihre besonderen Tatsachen.

Die unkritische und affirmative Denkweise gebraucht Begriffe als geistige Instrumente und allgemeine Begriffe als Termini mit partikularen, objektiven Eigenschaften. Diese operationelle Behandlung der Begriffe besitzt politische Funktion: Denken und Ausdruck, Theorie und Praxis sollen mit den Tatsachen seiner Existenz in Kongruenz gebracht werden, ohne daß für die begriffliche Kritik dieser Tatsachen Raum bleibt. Sowohl der ideologische Charakter des positivistischen Empirismus als auch des Funktionalismus dienen der sozialen Kontrolle; der repressiven Einschränkung der Reflexion durch die Isolierung des Konkreten vom Ganzen. „Die von der Übersetzung erreichte Konkretheit des besonderen Falles ist das Ergebnis einer Reihe von Abstraktionen von seiner wirklichen Konkretheit, die im allgemeinen Charakter des Falles besteht“ (Marcuse; a.a.O.; S.129). Aufgrund ihrer Methodologie ist die empirische Soziologie ideologisch und trägt zum geistigen und materiellen Fortschritt bei, dessen Rationalität ambivalent ist.

Gesellschaftstheorie bedeutet jedoch nicht die deskriptive Anerkennung von Tatsachen, sondern ihre explizite, emphatische Kritik. Die theoretische Analyse hat sich darauf zu konzentrieren, die Tatsachen zu begreifen, zu erkennen als das, was sie sind, und was sie für diejenigen bedeuten die mit ihnen leben müssen.

3.7.2. Das ein- und zweidimensionale Denken

Die okzidentale Logik kann als eine Denkweise verstanden werden, die versucht ist das Wirkliche als vernünftig zu begreifen. Als letzte Stufe dieser Idee kann das totalitäre Ganze technologischer Rationalität angesehen werden, durch welche die Logik zur Logik der Herrschaft wurde. Logik als die „ wahre Rede “, enthüllt und drückt aus, was wirklich ist – als unterschiedlich zu dem, was wirklich zu sein scheint. Vermöge dieser Einheit von Wahrheit und wirklichem Sein, wird Wahrheit zu einem Wert; denn Sein ist besser als Nichtsein. Erscheinung und Wirklichkeit, Unwahrheit und Wahrheit sind ontologische Verhältnisse einer antagonistischen Welt, zu deren Verständnis es des zwei-dimensionalen Denkens bedarf.

Im Gegensatz zur eindimensionalen Aristotelischen Aussagenlogik, entfaltet die Platonische Dialektik den negativen Charakter der empirischen Wirklichkeit. „So besteht eher Widerspruch als Entsprechung zwischen dem dialektischen Denken und der gegebenen Wirklichkeit; das wahre Urteil beurteilt diese Wirklichkeit nicht nach ihren eigen Begriffen, sondern nach Begriffen, die auf die Vernichtung jener Wirklichkeit abzielen. Und in dieser Vernichtung gelangt die Wirklichkeit zu ihrer eigenen Wahrheit“ (Marcuse; a.a.O.; S.147). Die formale Logik ist ihrer Struktur nach nicht-transzendent und organisiert das Denken in dem starren Rahmen des Syllogismus. Unter ihrer Herrschaft geraten die Begriffe zu Instrumenten der Voraussage und Kontrolle: die Differenz von Wesen und Erscheinung wird eingeebnet; das Prinzip der Identität wird von Prinzip des Widerspruchs getrennt; und die Endursachen werden aus der logischen Ordnung entfernt.

Demgegenüber ist die dialektische Logik nicht formal, da sie durch das Wirkliche und Konkrete bestimmt ist. Sie basiert auf allgemeinen Gesetzen, welche die Vernünftigkeit des Ganzen ausmachen. Es ist die Vernünftigkeit des Widerspruchs, des Gegensatzes von Kräften, Tendenzen und Elementen, welche die Bewegung des Wirklichen und seinen Begriff konstituieren. Der lebendige Widerspruch von Wesen und Erscheinung manifestiert sich in jener „inneren Negativität“ des Begriffs. „Der Gegenstand der dialektischen Logik ist weder die abstrakte, allgemeine Form der Objektivität noch die abstrakte, allgemeine Form des Denkens – noch die Daten der unmittelbaren Erfahrung. Die dialektische Logik löst die Abstraktionen der formalen Logik und der Transzendentalphilosophie auf, aber sie vereint ebenso die Konkretheit unmittelbarer Erfahrung“ (Marcuse; a.a.O.; S.156). Ihre Wahrheit gründet in dem Verständnis der Welt als einem historischen Universum, in dem die bestehenden Tatsachen das Werk der geschichtlich menschlichen Praxis sind. Diese intellektuelle und materielle Praxis ist die Wirklichkeit in den Daten der Erfahrung. Durch die Verknüpfung der Struktur des Denkens mit der Realität, wird die logische Wahrheit zu einer historischen Wahrheit und Vernunft zur geschichtlichen Vernunft. Das dialektische Denken widerspricht der etablierten Ordnung im Interesse bestehender sozialer Kräfte, welche den “irrationalen“ Charakter dieser Ordnung aufzuheben versuchen. Die dialektische Logik versteht den Widerspruch als Notwendigkeit, welche zur „Natur der Denkbestimmungen“ (Hegel) gehört, da der Widerspruch zur Natur des Denkobjektes selbst, zu einer Wirklichkeit gehört: Vernunft ist doch Unvernunft und das Rationale ist doch das Irrationale. Da die gegebene Wirklichkeit ihre eigene Wahrheit hat, bedarf es einer anderen Logik als der eindimensionalen, um sie als solche zu begreifen, eben der dialektischen.

3.7.3. Die Logik der Herrschaft

Die einstige historische Herrschaftsform welche vermittelt war durch persönliche Abhängigkeit, ist durch eine solche der Abhängigkeit von der objektiven Ordnung der Dinge substituiert worden. Es fand ein Übergang von wissenschaftlich-theoretischer Rationalität in gesellschaftlich herrschaftliche Praxis statt. Im Denken und Handeln, als Ausdruck der gegebenen Wirklichkeit, manifestiert sich ein falsches Bewußtsein, welches den herrschenden technischen Apparat sowohl verkörpert, als auch reproduziert. Technik ist zum großen Vehikel der Verdinglichung in ihrer effektivsten Form geworden. Unter diesen Bedingungen nimmt das wissenschaftliche Denken einerseits die Form des reinen, in sich abgeschlossenen Formalismus (Symbolismus) und andererseits die eines totalen Empirismus an. Konformismus und Nicht-Transzendez sind signifikant für das bestehende Universum von Sprache und Verhalten. „Als begriffliches Denken und Verhalten ist Vernunft notwendig Gewalt, Herrschaft. Logos ist Gesetz, Regel, Ordnung aufgrund von Erkenntnis. Indem es besondere Fälle unter das Allgemeine subsumiert, indem es sie ihrem Allgemeinbegriff unterwirft, erlangt das Denken Gewalt über die besonderen Fälle. Es wird nicht nur fähig, sie zu begreifen, sondern auch auf sie einzuwirken, sie zu kontrollieren. Während jedoch alles Denken unter der Herrschaft der Logik steht, ist die Entfaltung dieser Logik in den verschiedenen Denkweisen verschieden. Die klassische formale und die moderne symbolische Logik, die transzendentale und die dialektische Logik – eine jede beherrscht ein anderes Universum der Sprache und Erfahrung. Sie alle entwickeln sich innerhalb des geschichtlichen Kontinuums der Herrschaft, dem sie Tribut zollen. Und dieses Kontinuum verleiht den positiven Denkweisen ihren konformistischen und ideologischen, denen des negativen Denkens ihren spekulativen und utopischen Charakter“ (Marcuse; a.a.O.; S.182f.).

4. Einheit von Theorie und Praxis?

- Angesichts der konstatierten Integration und Assimilation der negativen Kräfte erscheint jegliche Hoffnung auf eine qualitative Änderung der repressiven Verhältnisse als unmöglich. Offen bleibt die Frage nach dem Praxisverständnis der Kritischen Theorie; erscheint nicht das gesamte theoretische Wirken der Frankfurter Schule als eine Art Flaschenpost, da sie kein revolutionäres Subjekt mehr als existent ansehen, welches als Adressat ihrer Reflexionen angenommen werden kann. Am Beispiel der Studentenproteste von 1968/69 wird deutlich wie heterogen das Praxisverständnis (kohärent die Aussicht auf einen qualitativen sozialen Wandel) der einzelnen Theoretiker, explizit Adornos und Marcuses, der Frankfurter Schule ist und wie different die studentischen Aktionen interpretiert wurden.

4.1. Die Dialektik von Theorie und Praxis

Nach Adorno[37] ist das Verhältnis von Theorie und Praxis abhängig von der Dichotomie von Subjekt und Objekt (Cartesianische Zweisubstanzenlehre). Diese Problematik koinzidiert mit dem Erfahrungs-verlust, der Versperrung von Erfahrung durch die Rationalität des Immergleichen. Vom abstrakten Subjekt kann keine Spontaneität mehr erwartet werden, seine Handlungen erscheinen fragwürdig aufgrund seiner mangelnden Reflexion darauf. Im bürgerlichen Geist fallen Autonomie und pragmatische Theoriefeindlichkeit zusammen, das Denken wird auf die subjektive, praktisch verwertbare Vernunft reduziert und korreliert mit einer begrifflosen Praxis. Was zählt ist einzig der praktische Nutzeffekt der Erkenntnis. Dagegen ist die Aufhebung des Dispens von Subjekt und Objekt anzustreben, da die Darstellung der Inkommensurabilität beider Elemente das Bewußtsein der Einheit von Theorie und Praxis verhindert. Das Subjekt als denkende Substanz ist zugleich Objekt und somit praktisch.

Während sich Kant mit seiner Gesinnungsethik an das Substrat radikal vernünftigen Handelns, an das Individuum wand, erhob Hegel den Begriff des Moralischen ins Politische. Er erkannte, daß Spontaneität angesichts der Übermacht objektiver Verhältnisse unmöglich wird. Sowohl Kants Moral- als auch Hegels Rechtsphilosophie, stellen zwei Stufen des bürgerlichen Praxisbewußtseins dar und beinhalten die Antonomien von der Besonder - und Allgemeinheit. Die Voraussetzung von politischer Praxi s ist die reflektive Analyse der Situationszwänge, welche diese dadurch transzendiert. Hierdurch wird Theorie zur verändernden praktischen Produktivkraft; jeder Gedanke beinhaltet einen praktischen Impuls und hat ein praktisches Telos. Allerdings gibt es keine unmittelbare Einheit von Theorie und Praxis, sondern nur ein dialektisches Verhältnis; der formale Charakter der reinen praktischen Vernunft determiniert sein Versagen vor der Praxis. Sie wird nicht mehr reflektiert, dafür aber zweckentfremdet und fetischisiert, und perpetuiert dadurch das identitätssetzende Herrschaftsprinzip. Die autarkische Praxis blinder Aktion ist geprägt von Zwang-haftigkeit. Die Divergenz von Theorie und Praxis ist ein Produkt der historischen Arbeitsteilung, der Division von körperlicher und geistiger Arbeit. Bis auf den heutigen Tag ist Unfreiheit ein Moment der Praxis, da der Selbsterhaltung willen gegen das Lustprinzip agiert werden muß.

Die Bedürftigkeit des Objektes ist durch die soziale Totalität vermittelt und bedarf daher der kritischen Bestimmung durch die Theorie. Praxis ohne Theorie und theoretische Reflexion ist falsche Praxis. Theorie schöpft ihre Kraft aus der Praxis, aber leitet sie nicht an. Die Theoriefeindlichkeit als Zeitgeist markiert den Übergang zur theorielosen Praxis. Durch diese Isolierung und Fetischisierung der Spontaneität, jenes subjektiven Momentes der geschichtlichen Bewegung, wird die objektive Ohnmacht der Theorie potenziert.

Der positive Aspekt der Division von intellektueller und materieller Arbeit liegt in der Möglichkeit der Brechung des Primats der materiellen Praxis und dem kohärenten Freiheitspotential. Das Ziel wahrer Praxis dient ihrer eigenen Abschaffung, sowie dem Schritt aus der Barbarei.

Sowohl dem Konservatismus als auch der Revolution ist dasselbe Moment der Gewalt und totalen Repression immanent. Die vermeintlich radikal emanzipative politische Praxis erneuert und perpetuiert nur das alte Entsetzen, sollte das revolutionäre Subjekt nicht auf dieses Moment verzichten. Die Entmachtung der Herrschenden bedarf der Gewaltlosigkeit, da Gewalt durch Gewalt legitimiert und beantwortet wird.

Die Praxis der studentischen Diskussion ist lediglich Mittel zum Zweck und somit reflexionslos; sie wird zur Farce reduziert und hat keinen objektiven Erkenntniswert. Sie dient einzig der Manipulation, und ist Ausdruck eines autoritären Prinzips und des bürgerlichen Instrumentalismus, welcher die Mittel fetischisiert wogegen sie eigentlich gerichtet ist. Diese Pseudo-Aktivität von Protestformen ist Produkt der objektiv sozialen Verhältnisse und von keiner emanzipativen Bedeutung. Spontane Revolutionen sind unmöglich. „Wie die Personalisierung falsch darüber tröstet, daß es im anonymen Getriebe auf keinen Einzelnen mehr ankommt, so betrügt Pseudo-Aktivität über die Depotenzierung einer Praxis, welche den frei und autonom Handelnden voraussetzt, der nicht länger existiert“ (Adorno; Marginalien zu Theorie und Praxis; S. 181). Die Schein-Aktivität ist ein Reflex auf die verwaltete Welt; die alle Vernunft überschreitende und über alle Lebensbereiche sich ausdehnende affektive Besetzung der Technik. Die Substitution der Zwecke durch die Mittel findet Ausdruck in der Instrumentalisierung der Subjekte. In der falschen Praxis manifestiert sich die objektive Tendenz der gesellschaftlichen Reproduktion.

Die objektive Gesellschaftstheorie, die Theorie eines dem Leben gegenüber Verselbständigten, hat den Primat über die Psychologie, da sie das wesentliche nicht zu erfassen vermag. Zum Verständnis der menschlichen Akzeptanz unverändert destruktiver Rationalität und der Konformität gegenüber Bewegungen, deren Interesse offensichtlich den eigenen zuwiderlaufen, ist die psychologische Feststellung der Internalisierung objektiver Zwänge unzureichend. In Relation zur realen Macht ist der studentische Aktionismus irrational. Objektive Strukturen erzwingen die Errichtung einer Scheinrealität, welche psychologisch vermittelt ist und in der Triebdynamik gründet. Der sekundäre Lustgewinn (der Studenten) resultiert aus der narzißtischen Beschäftigung mit sich selbst. Gleichzeitig werden die negativ besetzten Images mit den traditionellen autoritären Führerqualitäten ausgestattet und von ihnen regelrecht antizipiert. Doch es zeigt sich, daß jene, welche am emphatischsten protestieren, den autoritätsgebundenen Charakteren in der Abwehr von Introspektion am ähnlichsten sind; mit sich selber beschäftigen sie sich kritiklos, während sie sich aggressiv nach außen geben. Die eigene Relevanz wird, ohne unzureichenden Sinn für das Machbare, narzißtisch überschätzt. Sie verdinglichen ihre eigene Psychologie und erwarten von jenen, denen sie gegenübertreten, verdinglichtes Bewußtsein. Die von ihnen verwendeten Begriffe entstammen der monopolistischen Kulturindustrie und der darauf aufbauenden Wissenschaft.

4.2. Notwendigkeit theoretischer Reflexion

Webers Lehre von der Wertfreiheit ist die wissenschaftlich-positivistische Grundlage für die Exemtion von Theorie und Praxis. Auf der, ebenfalls wertgesteuerten, Trennung von Vernunft und Zweck beruht seine ganze Wissenschaftslehre. Ihr liegt der Begriff der Rationalität zugrunde, welcher ein anthropologisch-evolutionäres Produkt der Selbsterhaltung ist. Der immanente Sinn der sich selbst erhaltenden Rationalität liegt in der vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft, in der die vergesellschafteten Subjekte ihrer ungefesselten Potentialität nach erhalten werden. Wider Webers Intension, schlägt seine Zweck-Mittel-Rationalität dialektisch um: die bezeichneten Mittel werden sich zum Selbstzweck. In der Genese der Bürokratie, der reinsten Form rationaler Herrschaft, in dem „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“, manifestiert sich ihre Irrationalität. Sie entstammt der ratio als Mittel bzw. ihrer Ablehnung als Zweck. Ratio wird zum Prinzip „schlechter Unendlichkeit“. Dabei liegt der Zweck der ratio vielmehr in der Selbsterhaltung, aus welcher Selbstbesinnung entspringen könnte, welche in der Lage wäre die Limitation der Selbsterhaltung zu transzendieren. Die Suprematie der Mittel über die Zwecke ist in allen sozialen Subsystemen vermittelt. Solidarität mit einer von vornherein zum Scheitern verurteilten Sache mag narzißtische Bedürfnisse befriedigen, doch ist sie so wahnhaft wie die Praxis, von welcher sich Approbation erhofft wird. Das Opfer zum Gebot zu stilisieren gehört zum faschistischen Repertoire.

Der studentische Vorwurf, Theorie sei repressiv, spiegelt die Ohnmacht zur Reflexion des repressiv-blinden Aktionismus wieder, so Adorno. Eine repressionsfreie Praxis, die Alternative von Spontaneität und Organisation, kann nur theoretisch bestimmt werden.

Ideologiekritik als wesentliches Merkmal des gegenwärtigen Praktizismus, wird ihrerseits selbst zur Ideologie. Der Einzelne verzichtet zugunsten des Kollektivs auf die eigene Vernunft; dies ist der reale Umschlagspunkt in den Irrationalismus. Statt Argumentationen herrschen standardisierte Parolen.

Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist eines der Diskontinuität. Theorie gehört zum Kontext der Gesellschaft und ist dennoch autonom. „Wäre Praxis das Kriterium von Theorie, so würde sie dem thema probandum zuliebe zu dem von Marx angeprangerten Schwindel und könnte darum nicht erreichen, was sie will; richtete Praxis sich einfach nach den Anweisungen von Theorie, so verhärtete sie sich doktrinär und fälschte die Theorie obendrein“ (Adorno; a.a.O.; S.189f.). Das Postulat von der Einheit von Theorie und Praxis ist undialektisch, da sich beide polar gegenüberstehen. Die größte Hoffnung auf Verwirklichung darf jene Theorie haben, welche nicht auf Verwirklichung ausgelegt ist. Ein Beispiel dafür ist die nicht praktisch-programmatische Konzeption der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Auch die „Dialektik der Aufklärung“[38] übte trotz ihrer praktischen Intensions-losigkeit eine enorme praktische Wirkung aus.

Seinem Selbstverständnis nach, erfolgte Adornos gesamtes praktisches Wirken allein durch Theorie. Die Auflösung falschen Bewußtseins, mittels Theorie, stelle eine Bewegung hin zur Mündigkeit dar und ist somit gesellschaftliche Praxis. Sein Praxisverständnis bedeutet Aufklärung und politische Bildung des verdinglichten Bewußtseins.

4.3. Triebstruktur und sozialer Wandel / Einheit von Theorie und Praxis

Im Gegensatz zu Adornos aufklärerischen Praxisverständnis bedeutet für Marcuse[39] soziale Praxis vor allem konkrete Aktion im alltäglichen Leben hinsichtlich der Veränderung der Lebensverhältnisse der einzelnen Subjekte. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß das Individuum aufgrund seiner Triebstruktur (v.a. des Lusttriebes) nicht vollständig vergesellschaftbar ist. Hieraus resultiert die Möglichkeit einer qualitativen Veränderung. Soziale Bewegungen sind „Katalysatoren“[40] einer systemimmanenten Bewegung einer Gegenkultur gegen den status quo.

Die Emanzipation von der Konsumgesellschaft muß zum vitalen Bedürfnis der Individuen selbst werden, was wiederum eine radikale Transformation des individuellen Bewußtseins und der individuellen Triebstruktur voraussetzt. Dies bedeutet eine grundlegende Veränderung der dominierende psychosomatische Struktur, welche das Einverständnis mit der Destruktion, die Gewohnheit an das entfremdete Leben und die Nonkonformität mit der Aggression und Destruktion impliziert; „eine Revolte der Lebenstriebe gegen den gesellschaftlich organisierten Todestrieb“ (Marcuse; Die Revolution der Lebenstriebe; S.21). Der Protest gegen den produktiv destruktiven (quantitativen) Fortschritt verankert die Emanzipation in der zum Objekt gemachten Subjektivität. Der politische Stellenwert der Subjektivierung liegt in der Werten der Autonomie, in der Konkretisierung der längst ins Abstrakte verwiesenen qualitativen Differenz. Eine Gesellschaft wird in dem Maße vernünftig und frei, wie sie von einem wesentlich neuen geschichtlichen Subjekt organisiert, aufrechterhalten und reproduziert wird. Die dialektische Theorie erlaubt die begriffliche Bestimmung der historischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten, deren Realisierung jedoch nur durch eine Praxis erfolgen kann, welche der Theorie entspricht. Gegenwärtig liefert die soziale Praxis jedoch keine derartige Entsprechung; die Kritische Theorie ist unfähig die emanzipativen Tendenzen und Kräfte innerhalb der bestehenden Gesellschaft zu lokalisieren. Angesichts der herrschafts-sichernden Instrumente der administrativen autoritären Herrschaft, erscheint die einzige Möglichkeit der Negation in der „ absoluten Verweigerung “. Aufgrund der gesellschaftlichen Lage von Randgruppen, haben deren Angehörige die Möglichkeit einen „ objektiveren “ (antizipativen) Blick von „ außen “ auf die Verhältnisse zu werfen und dadurch transzendierende Prozesse in Gang zu setzen. Dies beruht auf der Annahme, daß eine qualitative Änderung der Basis durch eine Veränderung des Überbaus herbeigeführt werden kann (nicht vice versa!). Emanzipative Bewegungen entwickeln sich im Überbau durch Veränderungen der Triebstruktur.

4.4 Kritische Theorie und Studentenrevolte

Adorno verurteilt die studentischen Proteste der ´68er als Ausdruck der technologischen Herrschaft der etablierten Gesellschaft und ihrer objektiven sozialen Verhältnisse. Die Reflexionslosigkeit der studentischen Aktionen sei ein Resultat der zeitgeistlichen Theoriefeindlichkeit; sie seien ohne jeglichen Erkenntniswert und emanzipativer Bedeutung. Praxis werde nicht mehr reflektiert, dafür zweckentfremdet und fetischisiert wodurch das identitätssetzende Herrschaftsprinzip perpetuiert wird. Theorie wird, nach Adorno, als repressiv beschimpft und als nicht mehr notwendig angesehen. Dabei wäre erst die reflektive Analyse der Situationszwänge die Voraussetzung von politischer Praxis. Erst hierdurch würde Theorie zur verändernden praktischen Produktivkraft. Praxis ohne Theorie und theoretische Reflexion sei falsche Praxis.

Als „Sündenfall“ der kritischen Theoretiker der Frankfurter Schule muß jedoch die spektakuläre Institutsräumung im Januar 1969 angesehen werden. Damals hatten die Hausherren Adorno und Friedeburg mittels Polizeigewalt, das von studentischen Aktivisten besetzte IfS (Institut für Sozialforschung) räumen lassen. Dies war das erste Mal, daß die sonst so beharrlich der politischen Praxis entzogenen kritischen Autoritäten sich des Instrumentariums eines autoritären Staates bedienten, vor welchem sie immer emphatisch gewarnt hatten. Durch die repressive und unreflektierte Praxis machten sie sich zu Komplizen eines tendenziell faschistoiden Polizei- und Staatsapparates. Das an den Tag gelegte paradoxe Verhalten ist geradezu exemplarisch für eine reflexionslose „falsche“ Praxis, ganz im Sinne des Adornoschen Postulates der Notwendigkeit reflektierter Praxis.

Der Vorwurf Adornos, daß die linken Studentenaktionen erst das Potential des faschistoiden Terrors freisetzen, ist ebenfalls exemplarisch für die Ambivalenz des politischen Bewußtseins vieler kritischer Intellektueller im damaligen (und heutigen) Deutschland. Adornos dialektischer Begriff der Negation, die epistemologisch und gesellschaftstheoretisch zentrale Kategorie der sozialen Praxis, entfernte sich immer weiter von der historischen Notwendigkeit einer objektiven Parteilichkeit des Denkens. H.J. Krahl[41] zufolge, versperrte Adornos Instrumentarium herrschaftsentschleiernder Emanzipations-kategorien seinen Blick auf die geschichtliche Möglichkeit einer befreienden Praxis. Dieses bürgerliche Moment in seinem Denken vermochte Adorno nicht immanent zu transzendieren. Seine Negation der spätkapitalistischen Gesellschaft ist abstrakt geblieben, da es einer Flaschenpost gleich an ein metaphysisches Subjekt adressiert war, und sich der Notwendigkeit der Bestimmtheit der bestimmten Negation – jener dialektischen Kategorie, welcher er sich aus der Hegelschen und Marxschen Tradition verpflichtet fühlte – verschloß. Die Degenerierung der einst für Horkheimer so notwendigen Einheit von Kritischer Theorie und emanzipativer Praxis[42] zeugt von der Verkümmerung der materialistischen Geschichtsauffassung Adornos. „Dieser fortschreitende Abstraktionsprozeß von der geschichtlichen Praxis hat Adornos Kritische Theorie in die kaum noch legitimierbaren Kontemplationsformen der traditionellen Theorie zurückverwandelt“ (Krahl; Der politische Widerspruch der Kritischen Theorie Adornos; S.288). Während die Erfahrung des Faschismus einerseits den materialistischen Totalitätsbegriff von Warenproduktion und Tauschverkehr ermöglichte, erlaubte er andererseits nicht die Organisationsmöglichkeiten und den Strukturwandel der proletarischen Klasse, kurz den praktischen Klassenstandpunkt, konstitutiv in die Theorie zu integrieren. Offensichtlich hat der Faschismus die Subjektivität des Theoretikers selbst beschädigt.

Wie bereits Rosa Luxemburg erkannte, ist die Reform zum herrschaftsstabilisierenden Integrations-instrument des autoritären Staates und seiner Massenorganisationen geworden; unter Abstraktion von der Revolution wirkt die Reform lediglich stabilisierend auf die ökonomische und politische Herrschaft des Kapitals. Diese konterrevolutionäre Tendenz verhindert eine revolutionsadäquate Assoziation der lohnabhängigen Massen. Erst der außerparlamentarischen Opposition – so Krahl -, sei es gelungen das Bewußtsein derjenigen für die systemimmanenten Widersprüche zu sensibilisieren, welche noch nicht der totalen Verdinglichung erlegen sind.

4.5. Resumée

Es läßt sich feststellen, daß das Verhältnis von Kritischer Theorie und politischer Praxis ein äußerst ambivalentes ist. Dem Selbstverständnis der Theoretiker der Frankfurter Schule nach, ist die kritische Reflexion notwendig mit einem bestimmten praktizierten gesellschaftlichen Verhalten verbunden. Die Relation von Theorie und gesellschaftlicher oder politischer Praxis ist dialektisch; Praxis bedarf der kritischen Bestimmung durch theoretische Reflexion. Theorie selbst ist soziale Praxis, aus welcher sie wiederum ihre Kraft bezieht. Allerdings darf sie sie nicht programmatisch oder gar dogmatisch anleiten.

Sicherlich ist Adornos Forderung nach der Autonomie und Eigenständigkeit wissenschaftlicher Theoriebildung legitim, allerdings drängt sich angesichts ihrer praktischen Unverbindlichkeit, in der Tat, der Vorwurf einer metaphysischen und rein intellektuellen Übung geradezu auf. Es mutet paradox an, daß Adorno, angesichts der konstatierten totalen Akkomodation jeglicher subversiver, transzendierender und revolutionärer Tendenzen in den bestehenden repressiven Herrschaftsapparat, nicht resignierte und sein kritisches Theoretisieren gänzlich einstellte (als eine logische Schluß-folgerung aus diesem Sachverhalt). Vielmehr muß angenommen werden, daß er die Hoffnung auf eine fruchtbares Wirken seiner humanistischen Aufklärungs- und politischen Bildungsarbeit doch nicht gänzlich aufgegeben hat. Gerade deshalb erscheint seine Reaktion auf die studentischen Proteste so paradox, als die „Flaschenpost“ der Kritischen Theorie tatsächlich einen Empfänger fand, dessen Bewußtsein noch nicht völlig verdinglicht und von der Verhältnissen derart entfremdet war, als daß sie Ernst mit der kohärenten konkreten Praxis zu machen versuchten[43]. Sicherlich gingen nicht allen studentischen Protestaktionen in dem Maße kritische Reflexionen voraus, wie es von Adorno gefordert wurde, doch war dies auch nicht unbedingt die genuine Intension der Studenten. Vielmehr ging es ihnen um die provokative Herausforderung selbst der personifizierten Antiautoritäten, um ihnen das grundsätzliche Mißverhältnis von Theorie und Praxis aufzuzeigen. Auch Marcuse hatte gehofft, daß es, obwohl kein revolutionäres Subjekt mehr existent und jegliche Oppositionsform nicht mehr negativ erscheint, trotz allem noch „Katalysatoren“, beschleunigende Elemente innerhalb der Gesellschaft gibt, welche den Prozeß der „Umwertung der Werte“ vorantreiben. Er lokalisierte diese Subjekte in den sozialen Randgruppen, welche aufgrund ihrer gesellschaftlichen Lage am ehesten in er Lage wären transzendierende und emanzipative Tendenzen zu entwickeln. Zu diesen Randgruppen zählte er ebenfalls die Studenten (wenn sicherlich auch nicht alle). Nicht ohne Grund war Marcuse der einzige kritische Theoretiker, welcher sich demonstrativ hinter die Studenten und ihre Aktionsformen stellte[44]. Seiner Auffassung nach muß die Theorie manchmal der Praxis vorhergehen und nicht vice versa, wie von Adorno postuliert. Das konkrete Verhalten hat der (kritischen) Theorie zu entsprechen.

Wahrscheinlich rührte dies daher, daß er ursprünglich einer gänzlich anderen philosophischen Tradition entstammt: sein Denken steht zu einem nicht unerheblichen Teil in der existential-philosophischen Tradition Martin Heideggers[45]: die Betonung des individuellen „Zurückgeworfen-seins“ auf sich selbst und damit verbunden auf der Focusierung auf den freien Willen. Auf Grundlage der zentralen Kategorien, des Einzelnen, des Individuums und v.a. des freien Willens, resultiert auch Marcuses Praxisverständnis eines konkreten alltäglichen Verhaltens.

5. Literaturverzeichnis

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- Pollock, Friedrich; Staatskapitalismus; In: Helmut Dubiel/Alfons Söllner (Hrsg.); Horkheimer, Pollock, Neumann, Kirchheimer, Gurland, Marcuse: Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942; Frankfurt/M., 1981.
- Ritsert, Jürgen; Einführung in die Logik der Sozialwissenschaften; Münster, 1996.
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- Störig, Hans Joachim; Kleine Weltgeschichte der Philosophie; Frankfurt/M., 1998.
- Weber, Max; die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922); Tübingen, 1988.
- Weber, Max; >Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik<, In: Gesammelte Aufsätze; Tübingen 1922
- Wiggershaus, Rolf; Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung und Politische Bedeutung; München, 1988.

[...]


[1] Es ist schwer festzulegen welcher Diskurs wann und wo, der wievielte Methodenstreit war und wann er aufhörte. So gab es vor dem „ersten Methodenstreit“ einen „älteren Methodenstreit“ zwischen K. Menger und G. v. Schmoller, welcher sich um Fragen des „methodischen Individualismus“ drehte.

[2] Vgl. Weber, Max; die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922); Tübingen, 1988.

[3] Sind selbst Werte. Wie streng ist die Disjunktion zwischen wissenschaftlichem Urteil und Werturteil bei Weber wirklich?

[4] Ihre Vermischung wird beispielsweise bewußt von Ideologien und der Propaganda betrieben.

[5] Die basale Beschränktheit praktischer Syllogismen wird auch nicht durch technische Imperative aufgehoben.

[6] Genaugenommen, kann K.R. Popper gar nicht als typischer Positivist ansehen werden, da er sich selbst explizit als Positivismuskritiker versteht und emphatisch gegen einige Thesen des Wiener Kreises ausspricht (i.e. Induktions- und Verifikationsfrage).

[7] Hegel hat sich ebenfalls explizit mit den, u.a. auch von Weber thematisierten, ungeplanten Folgen zweckgerichteter Handlungen beschäftigt. Ihm zufolge geht die Grundstruktur solcher negativer Rückwirkungen in den Begriff der Aufhebung ein. Er kann verstanden werden: a). als Negation; b). als Konservierung (von Ergebnissen einer vorhergehenden bestimmten Negation auf einer höheren Stufe); c). als Vernichten oder Zugrunderichten.

[8] Betrifft ebenfalls die Kontroverse mit dem amerikanischen Funktionalismus, dessen prominentester Vertreter Talcott Parson eine Theorie der sozialen Integration aufgestellt hatte, was ihm den Vorwurf der Parteilichkeit für den status quo einbrachte.

[9] Dieser Annahme liegt ein Verkehrungstheorem zugrunde: die gesellschaftliche Totalität hat einen Doppelcharakter; sie ist historisch eher Subsumtionsapparat und zugleich Lebensbedingungen bereitstellender Prozeß. Das Nicht-Intergrierte (i.e. Ungleichzeitige) ist für die Herrschaftsverhältnisse zweckdienlich; die Totalität reproduziert sich auch durch die Spontaneität der Individuen als Subjekte hindurch.

[10] G.H Mead bezeichnete diesen Sozialcharakter als „soziales Selbst“ oder „verallgemeinerten bzw. signifikanten Anderen“, in welchem die Haltungen all der bedeutsamen Anderen eingenommen und verinnerlicht werden. (vgl. G.H. Mead; Geist, Identität und Gesellschaft; S.177ff.). Hier beschreibt Adorno eine gegenläufige Einheit bzw. einheitliche Gegenläufigkeit von Gewohnheiten, welche sowohl der inneren Subsumtion (z.B. durch Triebunterdrückung) aufgrund von Herrschaft als auch den in Interaktionen vermittelten Fähigkeiten entstammt und der Selbsterhaltung im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher Lebensbedingungen dient.

[11] Das Gegenmodell ist das einer Subsumtionsrelation: es hat repressiven Charakter und zeichnet sich durch Zwang, Verdinglichung, Entfremdung; Triebunterdrückung; ..etc. aus. Je mehr sich eine soziale Totalität dem (unmittelbaren) Subsumtionsmodell annähert, desto totaler und integraler sind seine Unterdrückungsmechanismen und Zwangsgesetzlichkeiten, verbunden mit der Charaktermaskenbildung der Individuen.

[12] Dies ist jedoch keine Lösung des Maßstabsproblems, da auch er bestimmte, der pluralen in der Gesellschaft geltenden, Werte benennen und als zum normativen Selbstverständnis der Gesellschaft gehörig definieren muß.

[13] Hegel unterscheidet drei Grundformen der Logik: die Seins-Logik, Wesens-Logik und Begriffs-Logik.

[14] Nach Hegel ist das Prinzip des Verstandes die Analysis; das klare Unterscheiden. Es beruht auf der philosophischen Methode der resolutio (Zergliederung) et compositio (Zusammensetzung).

[15] Vgl. Horkheimer, Max; „Dialektik der Aufklärung“, In: Gesammelte Schriften 1940-1950, Bd.5; Frankfurt/M., 1997.

[16] Der Begriff Szientismus leitet sich vom englischen „science“ ab, welches der angelsächsische Ausdruck für Naturwissenschaft ist. „Science is measurement und der Szientismus sind Ausdruck für die Bereitschaft, sich in allen Phasen der Theoriebildung und bei empirischen Untersuchungen am Vorbild der auf den höchsten Meßniveaus und mit einer logisch und mathematisch hoch elaborierten Sprache operierenden Naturwissenschaften auszurichten“ (Ritsert; Einführung in die Logik der Sozialwissenschaften; S.84).

[17] Nach der gängigen Meinung bedeutet Empirie, das Fundament all unserer Erkenntnis- und Denkoperationen; unsere Sinneseindrücke.

[18] Der Begriff „synthetisch“ bezeichnet induktiv gewonnene Aussagen.

[19] Das Verhältnis von „utilitas vel honestas“ beschreibt das Problem der Nützlichkeit und Sittlichkeit und ist von zentraler Bedeutung für die Gerechtigkeits- und Gleichheitsdebatte (cf. Jürgen Ritsert; Gerechtigkeit und Gleichheit; Münster 1997).

[20] Max Horkheimers Aufsatz „Traditionelle und kritischen Theorie“, welcher 1937 im zweiten Heft der Zeitschrift für Sozialforschung , dem Publikationsorgan des Horkheimer Kreises publiziert wurde, gilt als das Grundlagenprogramm der Forschungsorientierung des Institutes für Sozialforschung und kann als eine Gedenkschrift auf das 70 Jahre zuvor erschienene erste Band von „Das Kapital“ von Karl Marx verstanden werden. In ihm skizziert Max Horkheimer den für das Institut so wichtigen und signifikanten Kritikbegriff, und kann daher als die verbindliche Definition angesehen werden. Im folgenden zitiert als (Horkheimer; TukT; +Seitenzahl).

[21] Zum Beispiel die Urteile, daß das menschliche Leben lebenswert gemacht werden sollte und daß es Mittel und Wege gibt, die bestehenden Möglichkeiten dieser Verbesserung verwirklichen zu können.

[22] Vgl. Horkheimer, Max; Autoritärer Staat; In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd.5; Schriften 1936-1941; Frankfurt/M., 1987.

[23] Vgl. Adorno, Th.W.; Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?; In: Ders., Soziologische Schriften Bd.1; Frankfurt/M., 1979. Im folgenden zitiert als (Adorno; SoI; +Seitenzahl).

[24] Vgl. Marcuse, Herbert; Zum Begriff der Negation der Dialektik; In: Ders.; Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft; Frankfurt/M., 1996

[25] Wenn man diesen Gedanken jedoch konsequent weiterdenkt, so würde dies die Überlegung ad infinitum und somit ad absurdum führen!

[26] Zur Bedürfnispräformation vergleiche weiterhin Seite 23f. (Anm. d. Verf.).

[27] Adorno zufolge werden erst langsam Gegentendenzen evident; die Jugend leistet Widerstand gegen blinde Assimilation und die Hypostasierung der Welt als bloßer Vorstellung, und postuliert die Freiheit zu rational gewählten Zielen sowie die Möglichkeit zur Veränderung. Als Widerspruch zu dieser konstatierten Tendenz kann sein Verhalten während der Studentenproteste 1968/69 angesehen werden, als die praktizierte Verweigerung und Auflehnung der Studenten gegenüber den Autoritäten nicht unbedingt auf Adornos Wohlwollen stieß.

[28] Vgl. Horkheimer, Max; Autoritärer Staat; In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd.5; Schriften 1936-1941; Frankfurt/M., 1987.

[29] Nach Friedrich Pollock wurde die demokratische Form des Staatskapitalismus bisher noch nicht realisiert, darf aber als die ideale Organisationsform des Staatskapitalismus, im Sinne einer befreiten und vernünftig gestalteten Gesellschaft, verstanden werden (vgl. Pollock, Friedrich; Staatskapitalismus; In: Helmut Dubiel/Alfons Söllner (Hrsg.); Horkheimer, Pollock, Neumann, Kirchheimer, Gurland, Marcuse: Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942; Frankfurt/M., 1981.).

[30] Wirft das allgemeine Problem auf, ob und wie sich Bedürfnisse ermitteln bzw. planen lassen.

[31] Wie sehr sich Pollock in diesem Punkt geirrt hat werde ich an späterer Stelle nachweisen, wenn ich die Mechanismen der Unterbindung sozialen Wandels beschreiben werde: gerade die Gewährung konkreter materieller Zugeständnisse, in der autoritären Form des Staatskapitalismus, erweist sich als ein effektives Moment für die Herstellung sozialer Konformität.

[32] Ebenfalls eine logische Schlußfolgerung, allerdings belehrt uns die Realität eines Besseren. Ein erhöhtes Maß an Freizeit muß nicht notwendigerweise mehr Gelegenheit zu kritischem Denken bieten. Dafür sorgt die planmäßige Organisation und Gestaltung unserer Freizeit durch die Kultur- und Freizeitindustrie, welche ihrerseits Momente der Herrschaft repräsentieren.

[33] Dies setzt die ursprüngliche Wahl zwischen verschiedenen geschichtlichen Alternativen voraus, die vom überkommenen Niveau der materiellen und intellektuellen Kultur bestimmt sind. Die Wahl selbst ergibt sich aus dem Spiel der herrschenden Interessen.

[34] Bösartiger Weise könnte man überspitzt sagen, daß gerade durch die Gewährung dieser Freiheiten das Gefühl der Unterdrückung oder Ausbeutung unterbunden wird. Gerade weil man sagen und denken kann was man will, werden die Konsequenzen beliebig und verbleiben dadurch positivistisch.

[35] Freiheit im Sinne der Freiheit von dem Primat der Ökonomie und ihren Zwängen; Freiheit von politischer Repression und Bevormundung; und geistig-intellektueller Freiheit zu autonomen und kritischen Denken.

[36] Beinahe sämtliche Theoretiker der Frankfurter Schule teilten die Überzeugung, daß die Philosophie von der modernen Kunst mehr zu erwarten habe als beispielsweise von den Fachwissenschaften. So wurde beispielsweise in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno das Verfahren der geschichtsphilosophischen Deutung von (literarischen) Kunstwerken angewandt, für die Feststellung des Wandels in Einstellung und Verhalten der Menschen zur äußeren Natur, zur inneren Natur, zum Körper und zueinander. Sie knüpften damit an Lukács´ > Theorie des Romans< an, einem der ersten geschichtsphilosophischen Versuche über die Formen der großen Epik. In dieser Tradition entwickelte Adorno später auch seine Ästhetische Theorie.

[37] Vgl. Adorno; Marginalien zu Theorie und Praxis; In: Ders., Stichworte; Frankfurt/M., 1980. Dieser polemische Aufsatz kann als eine Abrechnung mit der Studentenrevolte und eine Verteidigungsrede auf die Notwendigkeit der Freiheit zu wissenschaftlicher Reflexion angesehen werden.

[38] Das Werk „die Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno kann als eines der wichtigsten, wenn nicht sogar als das wichtigste und bedeutendste Werk der Frankfurter Schule angesehen werden. Ursprünglich als Auftakt eines Dialektik-Projekts gedacht, gelangte es jedoch nie über den Status eines philosophischen Fragmentes hinaus. Dies mag unter anderem durch die Überzeugung der beiden Autoren begründet sein, daß nach Auschwitz keine Philosophie mehr, im Sinne eines allumfassenden Systems, möglich sei: lediglich punktuelle philosophische Essays seien möglich. Trotzdem kann die „Dialektik der Aufklärung“ als eine emphatische Kulturkritik angesehen werden; die Nachhaltigkeit, mit welcher die mit Herrschaft und Ökonomie verknüpfte Rationalisierung u.a. als Ursache antisemitischer Verhaltensweisen benannt wird, zeugt von der Überzeugung der Autoren, daß sich die Aufklärung in ihr Gegenteil verkehrt hat. Vgl. Horkheimer, Max; Dialektik der Aufklärung, In: Gesammelte Schriften 1940-1950, Bd.5; Frankfurt/M., 1997.

[39] Vgl. Marcuse; Die Revolution der Lebenstriebe; In: Lebenswandel, hg. v. der Redaktion „Psychologie heute“; Weinheim, 1981.

[40] „Katalysator“ ist ein schlecht gewählter Begriff, da er etwas statisches verkörpert, während hier von einer Transformation die Rede ist. Gemeint ist seine beschleunigende Funktion auf eine kulturelle Revolution, hinsichtlich einer „Umwertung der Werte“.

[41] Vgl. H.-J. Krahl; Der politische Widerspruch der Kritischen Theorie Adornos; In: Ders.; Konstitution und Klassenkampf; Frankfurt/M., 1988.

[42] Vgl. Horkheimer, Max; Traditionelle und kritische Theorie; In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd.4; Schriften 1936-1941; Frankfurt/M., 1988.; sowie Teil 2 („Kritische Theorie“), Seite 11-13.

[43] An dieser Stelle muß nochmals erwähnt werden, daß Horkheimer in seinem Aufsatz „Kritische und traditionelle Theorie“, auf subtile Weise, noch zu einem Begriff des Klassenkampfes zurückfand.

[44] Jürgen Habermas bezeichnete den – freilich nicht immer durchreflektierten – Aktionismus der Studenten gar als „Linksfaschismus“, was ihm heftige Kritik einbrachte. Trotzdem muß man sich fragen, inwieweit solche – höchstwahrscheinlich auch nicht gründlich durchdachten Äußerungen – ihrerseits nicht reaktionären Bestrebungen Vorschub gewähren bzw. diese bestätigen.

[45] Es muß erwähnt werden, daß bereits in Heideggers philosophischen System solche Moment enthalten sind, welche seine Anbiederung an den Faschismus in den 30er erklären.

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Kritische Theorie und politische Praxis
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Gesellschaftswissenschaften)
Veranstaltung
Seminar: Kritische Theorie und politische Praxis (HS)
Note
2,0
Autor
Jahr
1999
Seiten
53
Katalognummer
V6025
ISBN (eBook)
9783638137201
Dateigröße
855 KB
Sprache
Deutsch
Arbeit zitieren
Sebastian Muthig (Autor:in), 1999, Kritische Theorie und politische Praxis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6025

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